1. Februar 2021

Das Impfdesaster. Fortsetzung



Es gibt eine Szene in Terry Gilliams herrlichem Fantasy-Film "Time Bandits" aus dem Jahr 1982, an die ich unwillkürlich angesichts der Nachrichten an diesem Wochenende denken mußte. Gilliams groteske Komödie handelt von einer Schar - nun, da die Vokabel "Zwerge" unter dem Verdikt des Herabwürdigenden steht, sagen wir: "Heinzelmännchen" -, die im Auftrag des Weltschöpfers die Detailarbeit erledigt haben und sich ungenügend dafür entlohnt fühlen und ihm daraufhin eine Karte entwenden, die die Schlupflöcher in Raum und Zeit zeigt, um ungestraft auf Raubzug in der Vergangenheit (oder ihrer Zukunft) ziehen zu können. Auf ihrer Odyssee durch die Historie landen sie in einem nächtlichen Ozean und werden von einem vorüberkommenden Dampfer aufgefischt. Während sie sich in Liegestühlen zigarrerauchend aufwärmen, fragt ein Steward, ob sie noch etwas wünschen. Der Chefheinzel hebt sein Martiniglas und ordert: "Eis! Soviel Eis wie möglich!" Und erst in diesem Moment fällt dem Zuschauer auf, daß der Name des Schiffes auf dem Rettungsring, der an der Wand hinter ihm hängt, "Titanic" lautet.

Auch wenn es zynisch und unangemessen ist: schließlich geht es als Folge des unglaublichen Impfstoff-Desasters, das die EU und zumal die deutsche Leitung angerichtet hat, um eine unabsehbare Verlängerung des Lockdowns wohl bis in den Sommer oder gar Herbst und um zehntausende von Toten, die bei einer zügigen Bestellung zu vermeiden gewesen wären. Aber mittlerweile gibt es Momente, in denen man das Versagen unserer Classe Politique nur noch mit schwärzestem Sarkasmus goutieren mag. Und in diesem Sinn frage ich mich, ob ich mich nicht selbst als Letztverursacher für dieses Chaos, diese fleischgewordene Unfähigkeit ansehen muß. Die alten Griechen (auch die "Zeitbanditen" statten ihnen ja einen Besuch ab) wußten noch, daß man vorsichtig sein muß, mit welchen Bitten und vorschnellen Gewißheiten man die Götter behelligt. Und als Ursula von der Leyen Ende 2019 zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt wurde - ohne daß einer der 400 Millionen Staatsbürger der EU bei der Wahl im Sommer eine Stimme für sie abgeben konnte - habe ich recht vernehmlich meine Erleichterung darüber geäußert, daß diese Frau, die bislang in jedem politischen Amt eklatant versagt hat, nunmehr auf die Juncker-Sinekure befördert wurde, auf der ihre absolute Unfähigkeit hinfort keinen Schaden mehr anrichten konnte. Die naturgesetzliche Gültigkeit des von Laurence J. Peter formulierten Peter-Prinzips, nach dem in einer genügend großen Hierarchie (und was ist die EU anderes als eine gigantische Hierarchie?) jeder an die Stelle befördert wird, wo seine Unfähigkeit den größtmöglichen Flurschaden hinterläßt, hätte mich warnen sollen. Ich stelle mir vor, daß auf meine Unbedachtheit hin auf dem Olymp homerisches Gelächter erscholl und Göttervater Zeus "Hold my ambrosia!" (beziehungsweise "κρατήστε την ἀμβροσία μου!") brummte.

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Frau von der Leyen hat nicht nur das Desaster bei der Beschaffung der Corona-Impfstoffs zu verantworten, sie hat auch mit ihrem Versuch, davon abzulenken, den bereits angerichteten Schaden noch einmal beträchtlich vermehrt. Der Volksmund nennt das: auf einen Schelm anderthalbe setzen. Mittlerweile läßt sich das Versagen der EU-Führung angesichts der rapiden Impfraten in Staaten, die zuerst auf das Wohl der eigenen Bürger geachtet haben, wie Israel, Großbritannen und die USA und den blamablen Zuwächsen in den Staaten der Europäischen Union, auch von den staatshörigsten Medien nicht mehr schönfärben. Baden-Württemberg hat vor zwei Tagen die Erstimpfungen für die nächsten drei Wochen ausgesetzt. Die fatale Formel vom "Impfnationalismus," den es unter allen Umständen zu vermeiden gelte, die Anfang Dezember aufkam, ist jedem als das erkennbar, was sie ist: die kaltschnäuzige Anweisung an die eigenen Bürger: wir, die Politiker, haben versagt, und ihr habt das gefälligst auszubaden. Frau von der Leyens Versuch, die Auslieferung der für Großbritannien bestimmten Impfdosen, die im Werk von AstraZeneca in Belgien produziert werden, ist durch das Handeln von Premierminister Boris Johnson verhindert worden; die diplomatische Krise, die dadurch ausgelöst worden ist, nicht. Wäre es dazu gekommen, wäre das einem Akt der Kriegführung gegen die englische Zivilbevölkerung gleichgekommen. Daß Frau von der Leyen schamlos gelogen hat, als sie behauptet hat, Pfizer habe feste Margen zugesagt und diese "zurückgehalten" und "abgezweigt," rundet das Bild ab. Die Offenlegung des Vertragstextes durch AstraZeneca beweist das Gegenteil. Nun ist es durchaus denkbar, daß Frau von der Leyen nicht einmal bewußt war, was denn nun im Vertrag stand, sie also nicht bewußt gelogen hat. Nur würde das die Sache noch schlimmer machen. Als oberste Verantwortliche, und in der dringlichsten Angelegenheit, die zurzeit gibt, in der größten Krise, der sich Europa seit 70 Jahren gegenübersieht, ist eine Ignoranz in dieser Sache verwerflicher als die Unfähigkeit, seinen Aufgaben gerecht zu werden. Oder, um es mit Joseph Fouché zu sagen: C'est pire qu'un crime, c'est une faute.

Welche Diskrepanz aus der erfolgreichen und der mißglückten Sicherstellung der Impfstoffversorgung resultieren, macht ein Blick auf zwei Zahlen deutlich: in Deutschland haben bis gestern, dem 31. Januar, also am 36. Tag der Kampagne, insgesamt 1,85 Millionen Menschen die erste der beiden notwendigen Impfungen erhalten; in England sind am diesem Tag allein 1,1 Millionen Menschen geimpft worden. Schlagender läßt sich der Unterschied zwischen Erfolg und Verantwortung auf der einen und benehmender Inkompetenz auf der anderen nicht illustrieren.

Daß Frau von der Leyen den Stopp der Vakzin-Lieferung unter Berufung auf Artikel 16 des Northern Ireland Protocol verhängen wollte, macht die Sache vollends rund. Dieser Artikel, der den freien, zollfreien Warenverkehr zwischen Irland und dem britischen Nordirland regelt, bestimmt, daß Einschränkungen darin nur dann zulässig sind, wenn sich durch den Brexit gravierende negative Auswirkungen auf die EU ergeben. Dieser Streitpunkt war bekanntlich einer der größten Hemmschuhe bei der Aushandlung der zukünftigen Beziehungen zwischen der Vereinigten Königreich und der Europäischen Union und wurde erst im Oktober 2019 nach mehr als zweieinhalb Jahren zähflüssiger Verhandlungen vom EU-Parlament ratifiziert, nachdem die sogenannte "Backstop"-Klausel vom Tisch war.

Frau von der Leyen hat in jedem politischen Amt, das sie bislang bekleidet hat, eklatant versagt. Schon als Ministerin für Soziales und Familie in Niedersachsen unter Christian Wulff ist sie für die Abschaffung des Landenblindengeldes in Erinnerung geblieben, das von ihrer Nachfolgerin prompt wieder eingeführt wurde. Das Desaster um die "Kinderpornosperre" während ihrer Zeit als Familienministerin im ersten Kabinett Merkel war ein erster Hinweis auf einen Trend, der sich zu ihrer Zeit als Verteidigungsministerin dann voll erblüht ist: zum einen die Steigerung des angerichteten Schadens, die völlig Beratungsresistenz - und die gleichzeitige Delegierung ihrer Verantwortung an "Experten" und "Kommissionen". Fru von der Leyen ist in den Anhörungen um die "Kinderpornosperre" - von der die meisten mutmaßten, sie diene dem Vorwand, das Netz großflächig zu überwachen und zu zensieren - von zahlreichen - tatsächlichen - Experten gewarnt worden, ein solches Vorhaben sei technisch gar nicht umsetzbar. Es hat sie nicht beeindruckt. Auch die zahllosen Beraterverträge zu ihrer Zeit als oberste Dienstherrin der Streitkräfte, die sich auf dreistellige Millionenbegträge beliefen, haben nicht verhindern können, daß die Bundeswehr unter ihrem Kommando zu einer Lachnummer verkommen ist, die ihren verfassungsgemäßen Aufträge und die Bündnisverpflichtungen in der NATO nicht mehr erfüllen kann. Und der dritte Trend war, daß ihr dieses Versagen niemals geschadet hat, sondern nur dazu führte, daß ihr eine bedeutendere Position verschafft wurde.

Eine Wirkung dürfte diese letzte Episode freilich haben: auch der letzte "Remainer" in England, der sich bislang nicht mit dem Austritt seines Landes "aus Europa" anfreunden konnte, dürfte jetzt einsehen, daß die EU ein so anmaßendes wie unfähiges bürokratisches Monstrum darstellt, dem man auf keinen Fall ausgeliefert sein darf. Ohne den Brexit hätte Großbritannien keine Handhabe gegen die Dreistigkeiten der deutschen Westentaschen-Napoleona gehabt.

Es gab einmal eine Zeit, als Politiker für Skandale, die hiergegen wahrlich Quisquilien darstellen, ihr Amt verloren haben (erinnert man sich noch an die "Einkaufswagenchip-Affäre," die seinerzeit Jürgen Möllemann das Amt kostete?) Spätestens seit den Rücktritten von Bundespräsident Christian Wulff (wo habe ich diesen Namen doch zuletzt nochmal gehört?) und Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg ist dies bei deutschen Politikern nicht mehr der Fall gewesen. Aber das Versagen von Frau von der Leyen ist dermaßen eklatant - und vor allem: es ist mit dertig gravierenden Folgen verbunden - daß ihr keine andere Wahl als die Niederlegung des Amts bleiben dürfte. Eigentlich. Denn die Einstellung der deutschen Politiker, daß dieser Staat, seine Bürger, und in diesem Fall die gesamte Europäische Union, nur eine Veranstaltung ist, einzig dem Zweck dient, diesen Nichtskönnern, die in der freien Wirtschaft nicht einmal eine Lagerverwaltung anvertraut bekämen, als Bühne zur Selbstdarstellung zur Verfügung zu stehen, ist unübersehbar. Es steht zu vermuten, daß der Druck auf Frau von der Leyen durch ihre politischen Freunde, gerade auch in der deutschen Regierung, zurückzutreten, immens sein wird: auch um vom eigenen Versagen abzulenken und auf einen Sündenbock zeigen zu können. Daß eine solche Demission auch erfolgen wird, darauf habe ich angesichts des deplorablen Zustands unserer Politik allerdings keine allzugroße Hoffnung.

Was eine Abwahl der Kommissionspräsidentin durch das EU-Parlament betrifft, so ist die Rechtslage eindeutig: dazu ist ein Mißtrauensantrag notwendig, der die gesamte Kommission betrifft, und der vom Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen werden muß. Auch hier ist denkbar, daß sich das Parlament angesichts des Gesichtsverlustes, und weil das Hinnehmen dieses Versagens weiteren unabsehbaren Schaden nach sich ziehen würde, zu diesem Schritt entschließt. In England wird man sich daran erinnern, daß es, wieder einmal, deutsche Politiker waren, die bereit waren, solche Maßnahmen zu ergreifen und den englischen Bürgern zu schaden. In den englischen sozialen Medien gibt es seit dem Wochenende einen Spitznamen für die Frau, die bei uns als "Zensursula" und "Flintenuschi" bekannt ist: "Ursula fond of Lying."



U.E.

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