Im ärztlichen Vereine zu A. erregte unlängst ein Vortrag über den Thanatographen bedeutendes Aufsehen. Der Vortragende berichtete hierüber folgendes:
Der Apparat, dessen Beschaffenheit ich später angeben werde, wurde dem Sterbenden zu Häupten gestelle. Der Griff des Apparates ward in die erkaltende Hand des Sterbenden gelegt und dieselbe mit einem seidenen Tuche sanft zusammengebunden, so daß sie den Griff nicht fallen lassen konnte. Ein Assistent beobachtete den Puls des Sterbenden, und in dem Augenblicke, als er das gänzliche Stillstehen des Pulses durch ein Kopfnicken konstatierte, flüsterte der dirigierende Arzt in das Ohr des Verstorbenen: "Schreibe!"
Der Thanatograph begann zu arbeiten. Erst sehr langsam; dann mit zunehmender Geläufigkeit. Etwa drei Stunden nach dem Tode erreichte diie Thätigkeit des Apparates ihre höchste Geschwindigkeit, sodann nahm sie fortwährend ab. Als die Totengräber am folgenden Tage den Gestorbenen abholten, war der Apparat seit einer halben Stunde völlig regungslos gewesen. In der ersten hatte er siebzehn Worte geschrieben, in der zweiten hundertneununddreißig, in der dritten schon über siebenhundert. Dann hatte er allmählich nachgelassen.
Was bis jetzt über den Thanatographen bekannt ist, läßt sich dahin zusammenfassen, daß derselbe ein Appparat ist, welcher den Elektromagnetismus dazu benutzt, um das Nervensystem eben verstorbener Menschen zu schriftlichen Mitteilungen zu veranlassen. Es sind nur die nächsten Stunden nach dem Tode, welche der Thanatopgraph benutzen kann; jene Stunden, ehe der völlige Zerfall des Menschen beginnt. Vielleicht wird eine spätere Zeit noch bessere Apparate ersinnen, die geeignet sind, uns Kunde von dem zu geben, was nach des Menschen Tode in ihm vorgeht.
Die Erfindung des Apparats war keine Sache des blinden Zufalls, sondern unablässigen Nachdenkens. Ein Gelehrter hatte sich jahrelang damit beschäftigt, die Telegraphie zunächst für den Tastsinn brauchbar zu machen. Er verband seine Fingerspitzen durch Drähte mit einem Schreibapparat und regte die in den Fingerspitzen befindlichen Nerven so an, daß sie in Schwingungen gerieten. Diese Schwingungen pflanzen sich durch die Drähte fort und setzen am Schreibapparat einen Hebel in Bewegung, welcher fortlaufende Buchstaben und Worte schreibt, und zwar genau mit der Handschrift desjenigen, dessen Finger am Drahte sind. Ist der Schreibende tot, dann werden die Nervenschwinungen mit einem Male so merkwürdig gering, daß die Schrift nur mehr durch das Mikroskop erkannt werden kann. Daß der Gestorbene überhaupt noch schreibt, erklärt man sich bloß daraus, daß die in den Fingerspitzen liegenden Nerven die Gewohnheit angenommen haben beim Schreiben ihr Dienste zu leisten. Verstorbene, die im Leben Handarbeiter gewesen waren, schreiben entweder gar nicht, oder äußerst langsam und nur in groben, fast unkenntlichen Zügen.
Eine Willensrichtung, die geeignet wäre, das Schreiben zu veranlassen, fehlt bei den Toten; sie wird ersetzt durch den elektrischen Strom; aber nur so lange, als die Zerstörung des Körpers noch nicht allzu große Fortschritte gemacht hat. Schließlich kommt ein Zeitpunkt, wo trotz der Steigerung des elektrischen Stroms die Mitteilungen der Toten immer spärlicher und spärlicher werden, bis sie zuletzt ganz aufhören. Dieses völlige Aufhören ist aber nur scheinbar. Denn als man den Thanatographen an die Fingerspitzen einer Mumie legte, die dreitausend Jahre in einem ägyptischen Königsgrabe gelegen hatte, fand man, daß der Apparat Hieroglyphen schrieb, die freilich nur unter fünfhundertfacher Vergrößerung zu erkennen waren.
Und nun der Inhalt eines Thanatogramms, des einzigen, welche gegenwärtig verfügbar ist. Dieses Thanatogramm lautet:
Schreiben soll ich? Wozu? Ihr nötigt mich. Ihr gabt mir ein Werkzeug in die Hand; ich weiß, daß es keine Feder ist; aber es zwingt mich, zu schreiben. Ich weiß, daß sichmene Finger nicht bewegen; aber es zuckt in ihnen. Und was soll ich nun schreiben? Wie mir zumute ist? O - ganz ausgezeichnet! Die abscheulichen Schmerzen, die mich drei Tage lang gequält haben, haben rasch nachgelassen, seit ich die Augen schloß. Es war ein himmlisches Gefühl, als sie nachließen, als mir von Minute zu Minute wohler ward.
Lebendige gesunde Menschen erschrecken vor der Todesschwäche. Sie glauben, daß die Hilflosigkeit, in der man daliegt, etwas Jämmerliches, Verzweifeltes sei. Das ist nicht so. Das Sterben unterscheidet sich vom Einschlafen viel weniger als man glaubt. Wer einschläft, verliert die Herrschaft über seinen Geist und seinen Willen; seine Seelentätigkeit hört auf, und von seinen körperlichen Funktionen dauern nur die notwendigen fort. Und wer zum Todesschlafe einschläft, verliert nur um wenig mehr.
Also zunächst meine körperlichen Empfindungen. Sie sind, wie ich schon sagte, keineswegs unangenehm. Es kam unmittelbar vor meinem Tode ein Gefühl unendlicher bleischwerer Müdigkeit über mich. Zugleich fühlte ich und fühle es noch, das Aufhören der leiblichen Funktionen, einer nach der anderen. Es ist, als würde mit jeder Sekunde eins von unzähligen Lichtern ausgelöscht, eine von unzähligen Türen verschlossen, eins von unzähligen Geräuschen zum Verstummen gebracht.
Als mein Herz zu schlagen aufhörte, meinte ich, alles sei vorüber. Den letzten Schlag selbst hatte ich noch deutlich gefühlt. Es war aber nicht alles vorüber. Es fing nur ein ganz anderer Abschnitt an. Ich empfand, daß die Lebenskraft mir entwichen sei, und mit ihr die Ordnung, die Disziplin der leiblichen Menschennatur.
Die selbständige Bewegung war mir versagt. Aber nicht alle Bewegung. Deutlich empfand ich, wie statt der Bewegungen, die sonst mein Wille regiert hatte, nunmehr in meinem Körper eine Regsamkeit begann, die mir fremd war, über die ich nicht zu verfügen hatte. Ich begann das Wirken elementarer Mächte zu fühlen, die an meiner Zersetzung arbeiteten. Der Kreislauf meines Blutes stockt und die Spannung meiner Muskeln löst sich, aber nur, um einer gewissen Starrheit zu weichen. Ich werde aufmerksam auf die verschiedene Beschaffenheit meiner Bestandteile, von welchen die einen sich anschicken, sofort zu zerfallen, während andere auf einen kürzeren oder längeren Widerstand gefaßt sind.
Zu dieser Empfindung gesellt sich eine andere: die der abnehmenden Wärme. Nicht daß ich fröre. Aber ich fühle, wie meine Körperwärme in die mich umgebende Luft entflieht und dafür kühlere Luftwellen an mich heranschlagen. Ich atme mich selbst aus.
Das sind meine nächsten körperlichen Empfindungen nach dem Tode. Meine Sinne nehmen nichts mehr wahr; ich höre nichts mehr und sehe nichts mehr; ohne edoch darüber zu erschrecken oder betrübt zu sein. Ich finde das alles selbstverständlich. Mein Tastsinn hat sich nach innen gekehrt und in meinen ganzen Leib verteilt; ich fühle deutlich, daß seine weitere Ausbildung, seine Verzweigung und Steigerung zunächst das Ziel aller Regungen in mir ist.
Und nun meine geistigen Funktionen.
Wenn ich immer noch von mir spreche, so ist das - ich sehe es jetzt ein - eigentlich falsch. Ich sollte sagen: wir. Denn eine Einheit von Selbstwußtsein ist nicht mehr vorhanden. Nur der elektrische Strom, den euer Apparat durch meine Nerven treibt, läßt noch eine gewisse gemeinsame Tätigkeit derselben fortdauern und hält in mir die Erinnerung an meine vormalige Persönlichkeit fest.
Im ersten Moment nach dem Tode kam ich mir furchtbar allein vor. Das Bewußtsein, mit keinem Menschen mehr sprechen, keinen Menschen mehr sehen zu können, hatte anfangs etwas Entsetzliches. Es verschwindet aber mehr und mehr, seit mir klar geworden ist, daß ich nicht mehr ein einziger sei, sondern ein Gemenge von unzähligen kleinen Ichs, von denen jedes mit seinem Nachbarn in Verkehr treten kann, während viele derselben auch nach außen hin Fäden aller Art anknüpfen wollen. Ich habe jetzt die Überzeugung, daß dieses Auseinandefliehen rasch immer lebhafter werden wird. Ich werde bald nichts mehr von mir als einem Ganzen sagen können. Keine einheitliche Macht gebietet mehr in mir. Nur in einem ganz tiefen Winkel meines Gehirns scheint noch etwas zu sitzen, das wohl die Erinnerung an meine vormalige Person ist. Sie versucht sich zu erhalten und mit Hilfe eures elektrischen Apparats eine Verbindung nach außen zu bewahren. Ich bin neugierig, zu erfahren, wie lange sie aushält.
Neugier, schrankenlose Selbstzerstörung - das scheinen mir jetzt die Grundzüge meines Wesen zu sein. Jedes winzige Teilchen meines Ich, so lange gefesselt im Bann meines Willens, fühlt sich frei und ungebunden und strebt zu erfahren, wie ein selbständiges Dasein sei, und wohin es jetzt fliehen, was es erleben mag.
Dieser Trieb, diese Sehnsucht nach Selbstzerstörung ist der gewaltige Rückschlag gegen den Trieb der Selbsterhaltung, der mich ein Leben lang beherrschte. Wie ich in den höchsten Momenten des Lebens eine wahre Wollust am Leben selbst empfand und die Kraft und den Willen in mir fühlte, hundert Jahre alt zu werden: so empfinde ich jetzt einen überwältigenden Wunsch nach beschleunigter Zerstörung. Zu jedem Nerv, der mir erstirbt, möchte ich sagen: Schweig stille, menschliches Zucken! Was gehst du die übrigen an, mit denen du einst verbunden warst? Nichts mehr! Gar nichts mehr! Es ist erstaunlich, mit welcher habgeir solch ein menschlicher Körper während des Lebens alles aufsaugt, wessen er habhaft wird, und mit welch verschwenderischer Gleichgültigkeit er nach dem Tode mit sich selber wirtschaftet!
Milliarden von Vorstellungen lagen in meinem Gedächtnisse, wie ein ungeheurer Schatz in einem verborgenen Schatzgewölbe. Jetzt sind die Wände dieses Gewölbes zerbrochen; scharfer Luftzug weht und scheucht den aufgehäuften Schatz auseinander. Es sind Vorstellungen von Menschen und Ereignissen, von Landschaften und leblosen Dingen. Wie sie zerstäuben, zerwirbeln! Wohin wohl, wohin? Es scheint mir, als suche jede dieser Vorstellungen den Urquell wieder auf, aus dem sie kam. Ob sie ihn wohl finden wird? Es ist mir gleichgültig, völlig gleichgültig. Alles, was einst mein war, ist mir gleichgültig geworden - nein, mehr als das! Widerwärtig und verabscheuungswert!
Einst aß ich und trank, um meinen Hunger und meinen Durst zu stillen. Jetzt bin ich selber Nahrung geworden für den großen gefräßigen Mechanismus der Natur, der mich, Stück für Stück, wieder aufzehrt. Abrr diess Aufgezehrtwerden ist ebenso angenehm und so befriedigend, als vordem die Stillund des Hungers. Es ist so angenehm, daß man der gefräßigen Natur beständig guten Appetit wünschen möchte. Es ist auch nichts Neues; denn man wird ja schon als lebendiger Mensch Nahrung für den nimmermüden Kreislauf. Aber für den Lebendigen ist dieses Bewußtsein ein trauriges und peinliches, das Bewußtsein des Alterns, des Abschwindens. Jetzt ist es umgekehrt. Alles ist umgekehrt.
Als ich noch lebendig war, gewährte mir der Schlaf nach einem durchgearbeiteten Tage die wonnigste Erholung. Wie süß war's nicht, die Augen zu schließen und wahrzunehmen, wie das Räderwerk der Gedanken ins Stocken gerät! Jetzt schlafe ich den langen Schlaf; aber ein unbestimmtes sehnendes Gefühl nach Erwachen, nach rastloser, erneuerter Lebensmühe beherrscht alle meine Reste. Wie viele Bedürfnisse hatte ich als Lebendiger! Jetzt ist jedes davon ins Gegenteil verwanet! Winterlicher Frost und sommerliche Glut waren mir peinlich; jetzt möchte ich, daß die Extreme aller Fröste und aller Gluten abwechselten, um möglichst rasch an meiner Zerstörung zu arbeiten!
Der Zukunft entgegen! Der Zukunft entgegen! Möge sie sein, wie sie wolle! Das ist die beherrschende Empfindung im Toten. Der Zukunft entgegen - durch Zerstörung und Verwesung - rücksichtslos.
Ich war im Leben ein Grübler gewesen und hatte viel über die großen Rätsel des Jenseits nachgedacht, ohne sie ausdenken zu können. Dazu hatte mir alles gefehlt. Mein Wissen war ebenso unzureichend gewesen wie meine Phantasie; selbst mein Glaube war ein schwankender un zweifelvoller gewesen. Aber das kann ich euch mitteilen, daß die Gedankenwelt, die der Mensch sich im Leben schon über das Jenseits gebildet hat, mit dem Tode nicht abstirbt. Sie allein arbeitet fort im alten Geleis, aber nicht mehr mit den alten Mitteln. Neue Werkzeuge sucht sie sich, neue Erfahrungen sammelt sie und gewinnt sie auch. Nur fehlen mir alle Worte für diese neuen Erfahrungen; denn im Leben gab's diese Worte nicht.
Ehe ich gestorben war, hatte ich die Tröstungen der Religion empfangen. Es war sehr überflüssig gewesen; denn sie waren durchaus nicht darauf eingerichtet, mich auf das vorzubereiten, was jetzt mit mir vorgeht. Ich war wirklich in ener letzten Lebensstunde schwach genug, dem Priester zu glauben, daß meine Seele nächstens vor dem Richterstuhle des Herrn stehen und daß sie da Erbarmen finden würde. Es ist nicht wahr, nicht wahr! Kein Herr, kein Richter kümmert sich um den Menschen mehr, wenn er seinen letzten Atemzug getan hat. Aber das eine sage ich euch: ein Gericht gibt es, und das ist schrecklich. Dieses Gericht ist eine immer lebendiger werdende Erinnerung begangener Taten und erlebter Geschicke; eine Erinnerung, die nicht in mir, sondern außer mir ist; die sich alles zusammensucht, was ich war, was ich besaß, was ich tat und unterließ. Irgendwo wird gesammelt: diese Überzeugung habe ich im Tode gewonnen. Ob die Erlebnisse und Taten des einzelnen Menschedn gesammelt werden zu einem Gesamtbilde, das den Lauf eines Menschenalters in sich zusammendrängt, oder ob aus allen Schicksalen und Charakteren das Gleichartige herausgenommen und zu ungeheuren, teils göttlichen, teils höllischen Lebensquellen zurückgeleitet wird: das kann ich noch nicht uunterscheiden; ich weiß und fühle nur bestimmt das eine, daß meine Vergangenheit als Ganzes meinen toten Leib umschwebt und seine entschwindenden Atome mit geheimnisvollen Kennzeichen versieht, und dann mit ihnen zusammen Schicksalen entgegengeht, die sie sich selbst geschaffen hat.
* * *
So weit lautete das Manuskript über den Thanatographen. Der es vorgelesen hatte, ein älterer Mann, faltete das Manuskript zusammen und fuhr fuhr: Leider kann ich Ihnen über den Thanatographen und dessen weitere Mitteilugnen nichts mehr erzählen als sein tragisches Ende.
Der Erfinder des Thanatographen war ein deutscher Apotheker in Amerika. Mit seinem Instrumdent war er, nachdem er in Amerika einige Versuche gemacht hatte, nach Deutschland zurückgekehrt. Sein Unstern führte ihn auf den Dampfer "Schiller," der bekanntlich mit einer großen Anzahl von Passagieren vor mehreren Jahren bei den Scillyinseln unterging. Zwischen jenen unheimlichen Klippen liegt höchstwahrscheinlich auch der Erfinder des Thanatographen samt seinem merkwürdigen Instrument begraben. Das Thanatogramm, welches ich Ihnen vorlas, erhielt ich von einem Freunde aus Amerika, der sich seinerzeit für die Erfindung interessiert und der mir bei Nachfrage nach dem Erfinder gehalten hatte. Durch mehrfachen Briefwechsel kam ich zur Kenntnis vom Ende des Erfinders, sowie in den Besitz des merkwürdigen Schriftstückes.
Der Thanatograph ist wiederum zu einer flüchtigen idee geworden, welche des erfinderischen Gedankens harrt, der ihm wieder Gestalt verleihen soll.
* * *
"Der Thanatograph" ist eins der 19 Stücke in Max Haushofers Erzählungszyklus "Geschichten zwischen Diesseits und Jenseits," 1888 mit dem Untertitel "Ein moderner Todtentanz" im Verlag A. G. Liebeskind in Leipzig erschienen. Als Textgrundlage diente die 2. Auflage, 1910 bei G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger in Berlin und Stuttgart aufgelegt.
Haushofer, 1840 in München als Sohn des Landschaftmalers Maximilian Haushofer geboren, studierte dort Jura und war ab 1868 Professor an der neugegründeten Technischen Hochschule; sein "offizielles" Werk umfaßt "staatskonomische und sozialpolitische Schriften" (etwa "Grundzüge des Eisenbahnwesens," 1873, oder "Der moderne Sozialismus," 1896). Von 1875 bis 1881 saß er als Abgeorndeter für den ersten Münchner Bezirk im Bayerischen Landtag. Im Nebenstand widmete er sich den Belles Lettres, zumeist in Form lokaler Auslotungen, wie sie von Freiligrath bis hin zu Fontanes "Wanderungen" das "pittoreske Deutschland" auf die literarische Wanderkarte setzten ("Oberbayern, München und bayerisches Hochland," 1900, "Tirol und Vorarlberg," 1903) oder heute vollkommen verschollene Gedichte, oft in Langform; der nett betitelte "Unhold, der Höhlenmensch," seine erste Veröffentlichung "größerer Form sich annähernd," fällt in diese Kategorie. Die Vermutung sei an dieser Stelle hergesetzt, daß das Thema "Aus grauer Vorzeit" in diesen Jahren in der Luft lag, angefangen mit Wilhelm Raabes Slapstick-Komödie um "Keltische Knochen" von 1864 und am bekanntesten vielleicht mit der Rügen-Episode und den vorsintflutlichen Menschenopfersteinen mit ihren Blutrinnen, die Effi Briest den Aufenthalt dort vergiften. (Als Hypothese von Raabe'scher Knolligkeit sei spekuliert, daß es sich beim "Unhold" um eine Mesaillance zwischen David Friedrich Weinlands in der Steinzeit spielenden "Rulaman" von 1878 - später auch als "Aus grauer Vorzeit" neuaufgelegt - und Viktor von Scheffels "Ichthyosaurus" von 1876 ("Es rauscht in den Schachtelhalmen, / Verdächtig leuchtet das Meer") handeln könnte, das das Thema dem einen, die Form dem zweiten Text entlehnt.)
In Sachen Prosa verfaßte Haushofer neben dem "modernen Todtentanz" nur noch den Zukunftsroman "Planetenfeuer" (1899), der die Verhältnisse in einem zukünftigen Deutschland des Jahres 1999 schildert. Edward Bellamy hatte 1888 in "Looking Backward" erstmals "das Jahr 2000" als Zielmarke futuristischer Projektionen vorgegeben; Haushofer setzte den im Nachfolgenden des öfters geflegten Brauch ein, genau ein Jahrhundert (oder ein halbes) jenseits der aktuellen Jahreszahl vorauszublenden. Im vielem liest sich "Planetenfeuer" wie eine Gegenthese zu Bellamys utopischem Sozialismus mit seinen Arbeiterarmeen und kasernierten Lebensentwürfen, mit seinen häuslichen Musik- und Zeitungsabonnements per Fernsprecher(*). Bei Haushofer herrscht eine entspannte Weltuntergangsstimmung, während die Erde auf ihr kosmisches Verhängnis zurast (zwei Asteroiden sind fern im All kollabiert und haben ein Trümmerfeld hinterlassen, das demnächst als Meteoriten-Bombardement die Menschheit auslöschen wird). Die Idee des Thanatoskops findet sich hier wieder, im Dienst kriminaltechnischer Ermittlungen. Die fernmündliche Kommunikation und Information erfolgt über Pantoskope: "glänzende Scheiben aus schwarzem Glas sind das Medium, mit dem die Menschen weltweit in Ton und Bild miteinander kommunizieren." Ich habe es im Mai an dieser Stelle in meinem Beitrag zu Elon Musk bzw. Robert A. Heinleins Erzählung "We Also Walk Dogs" von 1941 erwähnt: wenn es um konkrete technische Voraussagen geht, ist die Treffgenauigkeit von Zukunftsliteratur noch weit unterhalb dessen, was man als "blamabel" durchgehen lassen könnte - mit einer Ausnahme: der Telekommunikation. Wieder und wieder trifft man dort, unverhofft, auf Requisiten einer technologischen Zukunft, bei denen man man zweimal hinschauen muß, um sicherzugehen, daß man sich nicht verlesen hat: ob es das Internet in Murray Leinsters "A Logic Named Joe" von 1946 ist oder das weltweite Kommunikationsnetz über mitgeführte mobile Endgeräte in Samuel Butlers "Lucubratio Ebria" von 1865 oder in Winston R. Farwells "Wireless Telephone Wizardry" in der Ausgabe vom Mai 1910 des Technical World Magazine: "It is now possible to talk without the use of wires in distant öparts of a building or in adjacent buildings regardless of the number and thickness of floors and walls intervening. One may take a wireless telephone on an automobile, a motor boat, a yacht, an airship or a submarine, into a caisson, a tunnel or a mine and be able to converse with others at any given point or points on the surface as freely and as plainly as one can now talk over a local telephone with nearby points." ("Funklöcher kommen etwas später," merkt der kleine innere Zyniker an.)
(* Daß Haushofer Bellamys Roman gekannt hat, vermute ich sehr stark, und auch, daß sein Roman, zumindest in der Ausmalung der Lebensumstände seines "Matrix"-Jahres, als Gegenentwurf dazu gedacht war. Bei seinem Interesse für "die soziale Frage" und "sozialistische Visionen der Gegenwart" dürfte er ad fontes gegangen sein, als die SPD 1890 die erste deutsche Übersetzung des Buches durch Alexander Fleischmann, bei Reclam in Leipzig erschienen, zur Pflichtlektüre für alle Parteigenossen machte, weshalb das Buch ein Jahr darauf schon in der 7. Auflage vorlag. Auch Eugen Richters "Sozialdemokratische Zukunftsbider. Frei nach Bebel" von 1891, als Handreichung für die kommende Reichtagswahl im Juni 1893 publiziert, verdankt sich diesem Anlaß. Richter sagte korrekt voraus, daß im Fall der Errichtung einer Utopie nach den Vorgaben von Marx, Engel und Bebel die Grenzen Deutschlands hermetisch abgeriegelt würden, mitsamt Schießbefehl, um die Bevölkerung an der Abstimmung mit den Füßen zu hindern, auch wenn die Zonengrenze in seinem Fall nicht durch die Elbe, sondern den Rhein gebildet wurde.)
* * *
Die technisch bewerkstelligte Kommunikation mit dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod - "that bourne /from which no traveller returns," in den Worten Hamlets - spiegelt eine weitere Facette der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: die Frage nach dem Leben nach dem Tod, seiner Möglichkeit überhaupt, nachdem die Vertrauensgewißheit in die Versicherungen durch die Religion und ihre Autoritäten durch Materialismus und Wissenschaft hinfällig geworden war. Die "Spukphänomene" des 18. Jahrhunderts, selbst der die kurze Episode des Vampirglaubens im Balkan zwischen 1725 und 1740 (die sich einer Änderung der Doktrin der Orthodoxen Kirche verdankt, was die Bedeutung nicht verwesender Leichen betraf und auf den unterschwellig stets vorhanden Glauben an "Nachzehrer" und Tote, die im Grab keinen Frieden finden, anknüpfte), kennen diese Grundierung noch nicht: dort rumpeln Erscheinungen, die - hoffentlich - durch Weihwasser oder Ignoriertwerden zu entsorgen sind. Ihre Natur steht nicht zur Debatte, soweit nicht die alte Gewißheit vorherrscht, hier spiele der Teufel einen illusorischen Schabernack.) Mit dem "Tischrücken" der Fox-Schwestern (im Revolutionsjahr 1848), mit der ersten Welle von "Medien" und "Séancen" bot sich ein vermeintlicher Ausblick in diese schattigen Bezirke, der dem Paradigmenwechsel durch die messenden und experimentierenden Disziplinen Rechnung trug. Die im Dunkel der verhängten Wohnzimmer materialisierenden Phänomene waren reproduzierbar; sie fanden vor Zeugen statt, die Abdrücke, die die ektoplasmatischen Hände in der Wachsschicht auf Heißwasserbecken hinterließen, waren so konkret wie die bleichen Schemen, die auf den "Geisterphotographien" von die Lebenden herabschauten - jedenfalls, so lange sich die Kenntnis um Doppelbelichtungen noch nicht durchgesetzt hatte. Das Protokoll und das unbestechliche Auge der Kamera hatten den geflüsterten Bericht in der Spinnstube ersetzt.
Genau in diesen zeitlichen Bereich fällt auch ein weiteres Phantasma aus diesem Umfeld: das der "Optogramme," der Vorstellung, daß der letzte optische Eindruck, den ein Lebewesen empfangen hat, sich auf seiner Netzhaut wie in der Emulsion einer photographischen Platte eingebrannt hat und es möglich ist, mit den geeigneten technischen Miteln und Tricks dieses Bild sichtbar zu machen. Daß der inner Aufbau des Auges (jedenfalls der Wirbeltieraugen) dem einer Kamera gleicht, war seit Jahrhunderten geläufig; die Entdeckung des Sehpurpurs, des Rhodopsins, durch Franz Christian Boll 1876 fügte hier die Analogie zur Emulson hinzu. Das Postulat war, daß der Tod den Abbau des Sehpurpurs verfindern würde. 1878 publizierte Wilhelm Kühne das erste Optogramm - ein verschwommenes Bild der Netzhaut eines geschlachteten Kaninchens, auf dem, mit entsprechender Phantasie, das Fenster seines Labors auszumachen war. 1880 veröffentlichte er das erste - und einzige - Optogramm von einer menschlichen Retina, nachdem der Kindesmörder Erhard Gustav Reil am 16. November unter dem Fallbeil hingerichtet worden war. (Obwohl die vage Umrißzeichnung, die 1881 in den "Untersuchungen des Physiologischen Instituts der Universität Heidelberg" publiziert wurde, entfernte Ähnlichkeit mit der Klinge eines Fallbeils aufweist, waren Reil bei seiner Exekution die Augen verbunden.)
Die andere Facette einer solch "wissenschaftlich" auftretenden Fühlungnahme mit dem Jenseitigen war der Versuch des amerikanischen Arztes Duncan MacDougall, die "menschliche Seele zu wiegen," indem er die Betten Sterbender in seinem Hospital auf eine fein austarierte Schüttgutwaage plazierte, die angeblich in der Lage war, Unterschiede in der Größenordnung von einem Gramm zu registrieren. In einem der 6 Fälle, die er 1907 in seinem Bericht schilderte, registrierte er im Moment des Todes einen Gewichtsverlust von einer Dreiviertelunze, also gut 21,3 Gramm (Bei Hunden hatte er zuvor drei Gramm ermittelt, bei Kaninchen zwei.) Auch hier zeigt sich der Einbruch des szientistischen Paradigmas: die "Seele" wird als materiell gedacht, nicht mehr als immateriell; sie bedarf eines stofflichen Substrats, wenn auch von unbekannter Natur, um mit der physischen Welt wechselwirken zu können: der "Feinstoff" der Spiritisten, der "Äther" erfüllte dieses Postulat; über diese Materie erfolgten auch all die "spukhaften Fernwirkungen," wie die Übertragungen von Gedanken (Telepathie) oder die berührungslose Bewegung von Gegenständen (Telekinese); und natürlich waren Spuk- und Poltergeist-Phänomene, wie sie die Registratoren der "Society for Psychical Research" in verrufenen Häusern protokollierten, dadurch motoristiert.
Die Verbindung zum Jenseits mittels spiritueller Vermittlung war natürlich - neben der frivolen Frisson des "Unerhörten," ein Trostmittel, eine auf trivialstem Niveau erfolgende Versicherung des Weiterbestehens (angesichts der benehmenden Banalität dieser Botschaften erlaubte sich Karl Markus Michel einmal in einem Essay zum Thema die Frage: "Kann es sein, daß wir im Jenseits alle verblöden?"). Der Zeitungsverleger Horace Greeley, der die "medialen Fähigkeiten" der Fox-Schwestern zu einem national und international bekannten Phänomen machte, nannte es "celestial telegraph." Die gleichzeitg aufkommende Mode der literarischen Gespenstergeschichten fokussierte sich auf den elementaren Einbruch des Furchtbaren, des Übernatürlichen, nicht auf dessen Binnenperspektive (auch hier stellt Bram Stokers "Dracula, or The Undead" eine Erweiterung des Portefeuilles dar, da dem Grafen aus Transvylvanien hier, zumal während Jonathan Harkers Aufenthalt auf seinem Schloß, eine geräumige Bühne für die Eigenpräsentation eingeräumt wird - hier knüpft sein Schöpfer an entsprechende Passagen aus "Frankenstein" oder Maturins "Melmoth the Wanderer" an, die in epischer Breite ihre Befindlichkeit darlegen dürfen, während der Leser ungeduldig darauf harrt, daß ihm das Blut gefrieren möchte.) Texte, die den tatsächlichen Vorgang des Übergangs ins Totenreich, aus der Binnenperspektive, ins Zentrum rücken, sind verständlicherweise selten. Diese Darstellung der Schwellenüberschreitung ist naturgemäß zutiefst morbide grundiert. Das unterscheidet sie grundlegend von der anderen Ausprägung des Topos, des "Dead all along": wie etwa in Ambrose Bierces "An Occurrance at Owl Creek Bridge," wo der Erzähler sich erst im Lauf des Textes bewußt wird, daß er ein Schemen in einem wie immer gearteten Jenseits ist - oft einer Übergangszone bis zum endgültigen Erlöschen oder dem Eintritt ins Transzendente. Von den Texten, die ich an dieser Stelle übersetzt habe, gehören Stella Bensons "Ein Traum" und "Der Mann, der den Bus versäumte" in diese Kategorie (die Volte des zweiten Textes besteht darin, daß er diese Möglichkeit in seinem Verlauf immer stärker andeutet, den tatsächlichen Sachverhalt aber in der Schwebe läßt). Jean Lorrains "Die Löcher in der Maske" schlägt den Ton an, erweist sich aber als drogeninduzierte Halluzination. (Diese Variante umgeht das Problem der Erzählsituation, die lautet: wem berichtet der Ich-Erzähler dies?) Von zweifelhafter Effektivität wird diese Volte dann, wenn sie den überraschenden Schlußpunkt setzt, der die Widersprüche und Brüche des Vorausgehenden in ein erhellendes Licht taucht - das ist die Variante, für die sich viele Filmregisseure entscheiden, etwa in "The Sixth Sense," in Amenabars "The Others" oder in June Campions "The Piano."
Man geht sicher nicht fehl, wenn man in Haushofers seltsamer Haltung: der Ablehnung alle religiösen transzendenten Heilsversprechen mit der Betonung der "Kreislaufs" des Werden, samt dem makabren Zu-Nahrung-Werden ein Echo der Philosophie Schopenhauers erkennt.
Wie Haushofers kleiner Text zählt auch Lord Dunsanys "Im Wechsel der Gezeiten" zur zweiten Kategorie "Höllensturz" (oder: Mise en abîme). Andere Beispiele wären: Seam McMullens "When the Gate is Open" (1990), in dem die Vermittlung der Eindrücke aus dem verlöschenden oder übertretenden Ich durch implantierte Elektroden vermittelt wird, Reggie Olivers "The Flowers of the Sea" (2011) oder, als wahrscheinlich makaberste und gräßlichste Variante, Aleister Crowleys "The Testament of Magdalen Blair," zuerst 1913 in der Nr. 9 seines okkultistischen Magazins "The Equinox" erschienen und 1922 in seinen Erzählband "The Stratagem" aufgenommen. Crowley war alles andere als literarisch begabt, und seine Selbststilisierung als Satanist, Drogenapostel, Sektenguru und "the wickedest man in the world" ist, wie so oft bei Selbstdarstellern auf diesem Gebiet, nicht mehr von einer schrillen Selbstparodie zu unterscheiden. Das teilt Crowley (1875-1947) etwa mit Kenneth Anger oder Anthony LaVey, aber auch Charles Forts Nachfolger Tiffany Thayer. Aber die Schilderung der höllischen postumen Halluzinationen seines Protagonisten, des Psychologieprofessors Blair, dem es gelungen ist, über Drogenversuche mit seiner Studentin einen psychischen Rapport herzustellen, der sie unablässig seine Gedanken lesen läßt, ein Kontakt, der auch nach seinem Tod nicht abreißt, mit der Aussicht, daß er EWIG bestehen wird und das ihr Bevorstehende nur vorwegnimmt, hat auf dem Gebiet dessen, was Poe "the imp of the perverse" genannt hat, durchaus eine Sonderstellung.
* * *
Zwei Detailanmerkungen zum Schluß:
1. "...an die Fingerspitzen einer Mumie legte, die dreitausend Jahre in einem ägyptischen Königsgrabe gelegen hatte, fand man, daß der Apparat Hieroglyphen schrieb...": hier liegt ein Fall vor, wo es Leser, die mit der Materie (oder dem Feinstoff) auf vertrauterem Fuß stehen, aus dem Text wirft. Das Thema "Ägypten" scheint dazu besonders geeignet: David R. Hartwell, lange Jahre für Ace Books als Lektor tätig, hat einmal berichtet, ihm sei das Manuskript eines Historienschinken zur Bearbeitung vorgelegt worden, von einer durchaus bekannten Autorin, und es sei darin beständig und ohne Ausnahme von "pharoah" die Rede bewesen, und es habe sich nicht um Pharoah Sanders gehandelt: "And in four hundred pages, that's a LOT of pharoahs!" Im alten Ägypten wurde für den Verwaltungsgebrauch nicht in Hieroglyphen geschrieben, sondern in fließenden hieratischen Lettern; die Lautzeichen des "heiligen Lettern" waren Monumenten und Inschriften vorbehalten; in Herrschergräbern waren nur die Mumien der Potentaten beigesetzt, die zudem Analphabeten waren; die Aufgabe des Schreibens war der Kaste der Schreiber zugewiesen, die ihre eigenen Grablegen hatten aufgrund ihrer hohen Stellung im Verwaltungsapparat, in denen sich dann auch die hölzernen, bemalten Darstellungen finden, die aus Bildbänden zum Thema bekannt sind.
2. "Der Dampfer 'Schiller'": Die "Schiller" war ein Passagierdampfer der Deutschen Transatlantischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft, das zweite von sechs baugleichen Schiffen, die ab 1873 auf der Werft von Govan & Sons in Schottland gebaut wurden, mit einer Länge von 115 Metern, einer Wasserverdrängung von 3500 Bruttoregistertonnen, die dazu gedacht waren, bis zu eintausend Passagiere als Auswanderer in die Neue Welt zu bringen. Am 22. Dezember 1875, 32 Monate nach Indienststellung, strandete die "Schiller" im Sturm an den Klippen der Scilly-Inseln und sank. Von den 372 Menschen an Bord überlebten nur 37; von den 92 Frauen nur eine und keines der 52 Kinder. Es war eins der verlustreichsten Schiffsunglücke in englischen Gewässern im 19. Jahrhundert überhaupt. "Deutsch-Amerikanisch" mag Haushofers Erfinder vielleicht deshalb sein, weil unter den Opfern der deutschstämmige Joseph Schlitz war, der Gründer der nach ihm benannten amerikanischen Brauerei, die bis heute zu den meistverkauften amerikanischen Marken zählt. Das medizinische Metier mag eine Referenz an Susan Dimock sein, die in Wien Medizin studiert hatte und die erste Frau war, die an einem amerikanischen Hospital als Chirurg arbeitete und ebenfalls den Untergang nicht überlebte. Über den Schwesterschiffen der "Schiller," allesamt nach Vertretern der Weimarer Klassik benannt, leuchtete ebenfalls ein Unstern (Dis-aster): die "Goethe," als erstes Schiff im August 1873 in Dienst gestellt, sank im Dezember 1876 in der La Plata-Mündung; die "Herder," die ihre Jungfernfahrt im Januar 1874 nach New York unternahm, strandete im Oktober 1882 vor Kap Race; die "Nepaul" (die nach der Insolvenz der Reederei von Peninsular & Oriental übernommen wurde und ursprünglich auf den Namen "Körner" getauft werden sollte, sank im Dezember 1890 aus der Rückreise von Kalkutta vor Plymouth; die "Wieland" brannte im Oktober 1895 aus, als sie auf dem Huangpu (in damaliger Schreibweise: Whangpoo) in Shanghai auf Reede lag.
* * *
Das photograpische Portrait Haushofers entstand im "Atelier Elvira." Das 1887 von Anita Auspurg und Sophia Goudstikker gegründete Photoatelier war eine der nobelsten Münchner Addressen in diesem Metier; vor allem aber begründete sich der durchaus "lebensweltliche," "halbseidene" Ruhm (oder Ruch) der Lokalität darin, daß es ein notorischer Treffpunkt für Damen (und Herren) war, deren erotisches Interesse nicht auf Angehörige des anderen Geschlechtes ausgerichtet war - so wie auch Augspurg und Goudstikker offen verbandelt waren. (Anders als die männliche war die weibliche Gleichgeschlechtlichkeit im wilhelminischen Deutschland, wie auch in Frankreich oder England, zwar nicht gesellschaftlich akzeptiert, aber nicht strafrechtlich bewehrt.) Die Art Déco-Austattung des Neubaus von 1898 durch der Nürnberger Architekten August Endell bescherte München seinen notorischsten Jugendstilbau; insbesondere das riesige Drachenornament (9 mal 13 Meter messend) aus Stuck an der Fassade, in grellen Kontrastfarben gehalten, sorgte für Empörung unter mehr traditionell Gesinnten (andererseits verkörperte diese Extravaganz sehr gut den Geist von "Wahnmoching"). An den Namen Endell (dessen ersten Bau dies darstellte; davor war er, der gern Wolkenkratzer gestaltet hätte, auf das Design von Porzellan und Nippes angewiesen; ein Blick auf das Atelier läßt ein gewisses Verständnis für dieses Fatum aufkommen) knüpft sich freilich eine andere, ebenfalls höchst bizarre Episode: die Geschichte, wie man in Deutschland als Autor von der Bildfläche verschwinden und sich als kanadischen Klassiker mit vollständig erflunkerter Biographie neu erfinden kann, und wie man im Deutschland jener Jahre als Übersetzer von Jonathan Swift zum Kriminellen werden kann. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.
U.E.
© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.