27. November 2020

嫦娥, 把我传送上去! China auf dem Weg zum Mond



嫦娥, 把我传送上去! "Beam me up, Chang'e!"

I

Die letzten Nachrichten zuerst: Heute nacht, am Mittwochabend um 10 Uhr und 6 Minuten Pekinger Zeit (beziehungsweise 04:06 Mitteleuropäischer Zeit) hat nach Angaben der Nationalen Chinesischen Raumfahrtbehörde CNSA die Mondsonde Chang'e 5 ihre zweite Bahnkorrektur ausgeführt, in einer Entfernung von 270.000 Kilometern von der Erde, indem die beiden 3000 Newton liefernden Bordtriebwerke für sechs Sekunden gezündet wurden, nach einer Flugdauer von 41 Stunden. Das Manöver folgte einer ersten Bahnanpassung genau zwölf Stunden zuvor, als die Triebwerke in einer Entfernung von 160.000 Kilometern für zwei Sekunden lang die Bahnparameter anpaßen, damit die Sonde am Samstag, den 28. November in eine Umlaufbahn in 80 Kilometern Höhe über der Mondoberfläche einschwenken kann. Die Landung der an Bord befindlichen Landekapsel im Oceanus Procellarum ist für den 30. November geplant, der Start der Probenkapsel für den zweiten Dezember. Diese Kapsel selbst wird den Rückflug zur Erde nicht antreten; die bis zu zwei Kilogramm Mondgestein, die der Greifarm des Landers aus einer Tiefe bis zu 1.80 gewinnen soll, werden in das vierte Modul der Sonde, die Rückflugkapsel umgeladen. Am 16. oder 17. Dezember soll dann die Landung in der Inneren Mongolei erfolgen. Als Zielgebiet ist der Mons Rümker festgelegt wurden, der seinen Namen seit 1935 nach dem deutschen Astronomen Karl Ludwig Christian Rümker (1788-1862) trägt, der viele Jahrzehnte zweiter Direktor der Hamburger Sternwarte war, nachdem das erste provisorische Observatorium am Stintberg aufgegeben worden war und der Hamburger Senat 1830 den Neubau am Millerntor genehmigt hatte (die Pfeffersäcke machten das nicht allein zur Förderung der abstrakten Wissenschaft, sondern wünschten sich eine Stätte, an der die zu Schiffsoffizieren ausgebildeten Söhne der Stadt den praktisch-faktischen Umgang mit nautischen Positionsbestimmungen erlernen konnten). Rümker war zuvor Direktor der bis dahin einzigen Sternwarte in Australien, in Parramatta, gewesen, hatte sich aber mit seinem englischen Kollegen und der örtlichen Verwaltung schwer überworfen. Der flache Schildvulkan (chinesisch 吕姆克山 / Lǚmǔkè shān; die klangliche Nachbildung ist deutlich) auf der Position 41°30' nördlicher Breite und 59°30' westlicher Länge ist mit dem Feldstecher leicht aufzufinden: der "Ozean der Stürme" bildet die dunkle Lavafläche am linken oberen Rand der sichtbaren Mondscheibe, wenn man sie sich als ein Zifferblatt denkt, ist er die verbreitete Spitze eines Zeigers, der auf die 11-Uhr-Position weist. Das Massiv mit seiner Basis von gut 70 Kilometern und seiner gut von 1500 Metern ist aus zwei Gründen als Landeort ausgesucht worden: zum einen handelt es sich um vulkanisches Ergußgestein, anders als bei den Bodenproben, die die Apollo-Missionen vor einem halben Jahrhundert, und zuletzt die beiden russischen Zond-Sonden 1976 zur Erde zurückgebracht haben: dies war der dunkle Basalt der "Mondmeere," die ihre Entstehung dem "schweren Bombardement," dem "heavy bombardement" durch Asteroiden von 4-3 Milliarden Jahren verdanken. Anhand der Kraterdichte läßt sich ermitteln, daß der Mons Rümker nicht älter als gut 1,3 Milliarden Jahre sein kann und damit unter den Mondformationen zu den jüngsten zählt.

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Der Zeitraum der Mission ist eng gesteckt: die Landesonde verfügt über keine Heizeinrichtung und wird die Kälte der Mondnacht, die bis zu -150° erreichen kann, vielleicht nicht überstehen. Sollte die Mission erfolgreich sein, ist für 2021 oder 2022 geplant, mit der Folgemission Chang'e 6 zum ersten Mal Gestein von der Mondrückseite zur Erde zu bringen. (Die großen Unterschiede zwischen der Vorder- und der Rückseite des Mondes, der "dunklen Seite," obwohl sie natürlich ebenso im Sonnenlicht liegt wie ihr Gegenpart, gehört zu den ungeklärten Rätseln der Astronomie: die uns stets zugewandte Seite ist von den weiten, von wenigen markanten Kratern gezeichneten dunklen Mare charakterisiert und nur zu einem guten Drittel von den helleren Gebirgszügen; auf der Rückseite bildet das kleine Mare Moscoviense im Kontrast dazu die Ausnahme. Es wäre denkbar, daß hier die Erde eine Rolle gespielt hat, deren Gravitationssenke die Bahnen von großen Asteroiden auf die ihr zugewandte Seite umgelenkt hat, deren Einschläge die Mondoberfläche bis im Tiefen von mehreren Dutzend Kilometern aufschmolz und somit die dunkleren Tiefengesteine freilegte, die nach ihrem Erstarren und Abregnen dann die "Meere" bildeten.

Die Mission Chang'e 5 (嫦娥五号,Cháng'é Wǔhào; ich halte mich an die Pinyin-Umschriftkonvention, daß in Namensbezeichnungen die den Ton bezeichnenden Akzente entfallen) gehört zu den drei chinesischen Raumfahrt-Missionen, die unter der Sammelbezeichnung "超级2020" (Chāojí 2020) geführt werden, was man getrost als "Super 2020" wiedergeben kann (wörtlich übersetzt: "auf höchstem Niveau"). Das verdankt sich der Unterbrechung des chinesischen Raumfahrtprogramms, nachdem am 2. Juli 2017 der Start der für diese Missionen verwendeten Trägerrakete "Langer Marsch 5-B" vom Raumfahrtbahnhof Wenchang fehlgeschlagen war, nachdem eines der VF-77-Triebwerke der zweiten Stufe versagt hatte. Daraufhin wurden die Brennkammern dieses Typs völlig umkonstruiert, während das Programm erst einmal 902 Tage auf Eis lag. Die drei Missionen waren: A.) der Testflug des neuen Modells der bemannten Raumkapsel Shenzhou vom 6. bis 8. Mai 2020, das auf einer stark elliptischen Bahn mit einer größten Höhe von 8000 Kilometern erfolgte; die Bahn diente dazu, bei Wiedereintritt in die Erdatmosphäre die hohen Geschwindigkeiten zu erreichen, die bei der Rückkehr aus einer Mondumlaufbahn auftreten; das neue Modell, das größer dimensioniert ist als die beiden seit 2003 verwendeten Vorgängermodelle, bietet bis zu sieben Raumfahrern Platz. B) der Start der Marssonde Tianwen-1 (天问一号, Tianwen yihao; das "1"/一 wird hier vom gleichen Zahlklassenwort (号) gefolgt wie die "5"/五 in 嫦娥五号) am 23. Juli 2020, die im Februar 2021 einen Rover auf dem Roten Planeten absetzen soll; und C) eben die fünfte Mondsonden-Mission der chinesischen Raumfahrtgeschichte.



II



Das unbemannte chinesische Mondlandeprogramm, und sämtliche Sonden, die in seinem Rahmen eingesetzt werden, nach der traditionellen chinesischen Göttin des Mondes, Cháng'é, 嫦娥 - benannt. Dabei handelt es sich nicht, wie oft in solchen Fällen (etwa im Fall der griechischen Semele) um eine divine Verkörperung des Erdtrabanten selbst, sondern er wird als Wohnsitz einer göttlichen, jedenfalls sagenhaften unsterblichen Gestalt gesehen. Die Legenden um Chang'e und ihren Wohnsitz gibt es in zwei Fassungen. In beiden ist sie die Ehefrau des unsterblichen Bogenschützen Houyi (后羿),), dem das Elixir in beiden Fällen als Lohn dafür gewährt wurde, daß er die Erde vor der Vernichtung durch die zehn Söhne des himmlischen Jadekaisers gerettet hat, die sich in zehn Sonnen verwandelte und die Erde zu verbrennen drohten, bis Houyi sie bis auf einen mit seinem unfehlbaren Bogen vom Himmel schoß. (Westliche Leser werden vielleicht ein Echo dieser Legende in Liu Cixins erstem Teil der "Trisolaris"- oder Santi-Trilogie, "Die drei Sonnen," gesehen haben.) Nach der einen Version entdeckt Houyis Gattin infolge ihrer unbezähmbaren Neugier das Kästchen mit dem Elixier - das wahlweise als Flüssigkeit in einer Phiole oder als Perle beschrieben wird - und nimmt es frevelhafterweise ein. In der zweiten Version verschluckt sie es, um es vor dem Zugriff von Houyis Schüler Fengmeng (逢蒙) zu bewahren, der die Abwesenheit des großen Jägers ausnutzt, um Chang'e zu zwingen, es ihm auszuhändigen. Manche Versionen der Legende begründen ihren hilflosen Aufstieg zum Mond damit, daß die Menge des Elixirs für zwei Personen gedacht war; manchmal ist es schlicht die himmlische Strafe für ihr Vergehen oder das Opfer, das sie wissentlich gebracht hat. Denkbar wäre, daß sich - neben der alten Symbolik des göttlichen oder von göttlichen Wesen bewohnten Mondes - hier wie in den alten kosmologischen Vorstellungen des Westens die Idee spiegelt, daß der "sublunare" Bereich des Wandelbaren, Vergänglichen, Sterblichen der irdischen Sphäre angehört, während der komische Bereich des Unwandelbaren, Ewigen beim Mond beginnt, der zwar von Monat zu Monat seine Phasen durchläuft, selber aber stets gleichbleibt - und somit einen Schwellenbereich, ein "liminales Gebiet" kennzeichnet. Auch in Plutarchs Schrift "De facie in orbe lunae" ("Vom Gesicht, das in der Mondscheibe gesehen wird", ca. 165 AD) findet sich die Vorstellung, daß die Seelen der Verstorbenen nach dem Tod zum Mond aufsteigen und dort ihr Urteil empfangen: die, welche des Elysiums würdig sind, steigen durch einen Tunnel im Mond in die ewigen Gefilde der Milchstraße auf; die anderen werden wieder hinabgeschickt, um wiedergeboren ein weiteres Mal die Qualen des irdischen Daseins zu durchleiden. Daß Cheng'e in der ersten Version der Legende die Rolle von Blaubarts Frau - oder der griechischen Pandora - einnimmt; daß die tödlichen Söhne des Jadekaisers der griechischen Mythe um den Sturz Phaetons entsprechen, dürfte offenkundig sein. Vertreter wildgewordener pseudoarchäologischer These à la Däniken sind denn auch gelegentich in Versuchung gekommen, in beiden Legenden ein Echo etwa für einen Kometeneinschlag in prähistorischer Zeit zu sehen. (Etwa der nordeutsche Pastor Jürgen Spanuth, der in den 1950er Jahren Atlantis in der Doggerbank in der Nordsee verortete, oder Immanuel Velikovsky, dessen "Welten im Zusammenstoß" zur gleichen Zeit das Wissen um die astronomischen Verhältnisse im Sonnensystem auf jeden denkbaren Kopf stellten, um die Wunder des Alten Testaments als verläßliche Augenzeugenberichte nachzuweisen.)

III

Vor kurzem hatte ich es an dieser Stelle mit dem (gleichfalls wüsten) Projekt, bemannte Stützpunkte in der Atmosphäre unseres Schwesterplaneten Venus einzurichten. Ein Projekt wie das der chinesischen Mondmission zeigt indes, wie es, wenn es an die Umsetzung geht, tatsächlich mit der Gestaltung solcher Erkundungen bestellt ist: Langsam und bedächtig, immer wieder von langen Pausen unterbrochen, ein tastendendes Projekt des langsamen Wissensgewinnung, das sich aus zahlreichen kleinen Mosaiksteinen aufbaut. Wenn man die jetzt sechs Jahrzehnte dauernde Inaugenscheinnahme unserer unmittelbaren kosmischen Umgebung Revue passieren läßt, fällt dies ins Auge: hier eine Sonde, da eine Mission, nach Jahrzehnten die längerwährende Präsenz von Messsonden und robotischen Spähern, mit jeder Generation etwas größer und komplexer, und doch (falls dieser Metaphernbruch erlaubt sei) "Fleisch von einem Fleisch." Neue Technologien - etwa Ionenantriebe, die mit wenigen Kilogramm Treibstoff auf Jahre Bahnänderungen vornehmen können, statt wie chemische Booster ihren Treibstoffvorrat in Sekunden zu erschöpfen - werden über Jahre erprobt und eingesetzt. Die rasante Entwicklung des "Space Race," des "Wettlaufs zum Mond" - in 12 Jahren vom ersten Sputnik bis zum "kleinen Schritt für einen Menschen" hat sich als historisch bedingte Anomalie erwiesen, getrieben von dem Prestigeziel, die Überlegenheit der eigenen Seite dadurch vor Augen zu führen, daß man ein paar Menschen zum Mond und heil wieder zurück befördern konnte, und bei dieser Aufgabe der erste zu sein. Die beständige menschliche Präsenz an der Grenze des Raum, in der Internationalen Raumstation ISS, zeigt ein völlig anderes Muster. Raumfahrt, ob nun bemannt oder rein instrumental, erweist sich als ganz und gar dem zweiten Begriff des Paars zugehörig, das Matt Ridley in seinem vor kurzem erschienen Buch "How Innovation Works: And Why It Flourishes in Freedom" (HarperCollins, Juli 2020, 422 Seiten) ins Auge gefaßt hat: "Erfindung" versus "Innovation" - die schrittweise Verbesserung, die tausendfache Bewährung, die Arbeit von Generationen meist namenloser Tüftler, und dem Scheitern der meisten Ideen ("Failure is often the father of success in innovation" schreibt Ridley, zuerst im Hinblick auf die Dampfpumpe von Thomas Savery von 1702). Inwiefern ein größenwahnsinniges Unterfangen wie der Plan von Tesla- und SpaceX-Gründer Elon Musk (dessen Entwicklung der Falcon 9 und Falcon Heavy trotz aller optischen Spektakularität genau dem "Paradigma Innovation" entspricht) an der schnöden Wirklichkeit zerschellt und wann dies der Fall sein wird, bleibt abzuwarten.

(Die oberste Abbildung zeigt eine Reklame für die K-K Battery Company Ltd. in Shanghai aus den 1920er Jahren. Die Zeichnung stammt von Wan Nong.)

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(Die dritte Abbildung zeigt "Chang'e steigt zum Mond auf" - oder in diesem Fall "Jōga," wie ihr japanischer Name lautet, wie in "Joga tsuki hashiru" 嫦娥月へ奔, dem zweiten Ukiyo-e-Farbholzschnitt auf der hundert Bilder umfassenden Folge "Ansichten des Mondes" 『月百姿』(Tsuki hyaku sugata) (1885-1892) von Tsukioka Yoshitoshi 月岡芳年 (1839-1892). Die erste Folge von vier Holzschnitten erschien im Oktober 1885.

嫦娥, 把我传送上去! "Beam me up, Chang'e!" ("Cháng'é, bǎ wǒ chuánsòng shàngqù!"): An dieser Stelle muß ich mich einer kleinen Zitatungenauigkeit schuldig bekennen: das Zitat aus der ersten Inkarnation von "Star Trek" lautet in der geläufig-verballhornten Form bekanntlich: "Beam ME up, Scottie!" An den Singular habe ich mein Motto angepaßt, obwohl der Satz in der chinesischen Variante den Plural aufweist: "史考提, 把我们传送上去!" (Shǐkǎotí, bǎ wǒmen chuánsòng shàngqù!) - Beam UNS rauf; wobei das "Beamen" hier nicht als Fremd- bzw. mittlerweile Lehnwort dem Englischen entliehen ist, sondern den Mandarin-Ausdruck für "senden, verschicken" verwendet.



U.E.

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