10. August 2020

Streiflicht: "Jim Knopf und der Rassismus." Ein Fingerzeig für Franziska Weißgerber

­Zum Auftakt zunächst einmal eine TRIGGERWARNUNG:  In diesem Text findet sich, bei der Nennung eines Buchtitels, die Verwendung eines Wortes, für dessen Gebrauch man nicht erst seit heute, und durchaus berechtigt,  in Bann und Acht gestellt wird. Ich habe mich aber aus philologischen Gründen, und um argumentative Verkrampfung nach dem Motto "Der **** auf ... (* an dieser Stelle steht im Original ein unschönes Wort)" zu vermeiden, für die originale Nennung entschieden; zumal aus dem Kontext deutlich wird, wie dies zu werten ist.

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Anlaß für diese kleine Glosse sind zwei kurze Artikel, die heute auf der Achse des Guten erschienen sind. Im ersten Text, "Laßt meinen Jim Knopf in Ruhe!" verwehrt sich die Autorin, Franziska Weißgeber, vehement, und ebenfalls völlig zurecht, gegen das in der ZEIT vorgebrachte Ansinnen, Michael Endes Kinderbuchklassiker als "rassistisch" zu werten und seine Lektüre anzukreiden.



Ein kleines Baby strandet auf einer Insel, ein Baby, anders aussehend als die Inselbewohner. Doch seine Hautfarbe ist kein Punkt dafür, sich nicht um den kleinen Jungen zu kümmern. Im Gegenteil, er wird sofort lieb und warmherzig aufgenommen, integriert in ihre Gesellschaft, als wäre er einer von ihnen. Was heißt wäre? Er ist einer von ihnen.
Er erhält weder eine Anders-Behandlung noch erfährt er Diskriminierung. Er wird mit großer Zuneigung und Fürsorge aufgezogen und ist schnell jedermanns Freund. Nicht nur Freund, ja sogar ein Held wird er im Laufe der Geschichte. Er ist mutig, freundlich und gutherzig, seine Hautfarbe spielt dabei keine Rolle.
Was also ist daran Rassismus? 
Einen kleinen Hinweis auf die tiefer liegenden Gründe, die dazu führen, daß aufgebrachte und selbsternannte "Antirassisten" auf solche Texte zeigen, und man sich fragt, ob sie jemals die Nase in diese Bücher gesteckt haben, findet man in dem anderen, ebenfalls heute dort publizierten Text, nämlich Thomas Baaders "Wir müssen über Rassismus sprechen", der sich auf den deutschen Titel des gerade als Übersetzung erschienenen Buchs von Robin DiAngelo, White Fragility, bezieht, das 2018 in den USA erschien, über ein Jahr auf den Bestsellerlisten verbrachte und im Kielsog der Black Lives Matter-Proteste erneut zum "Megaseller" avancierte. Für DiAngelo, Affiliate Associate Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität von Washhington, sind Weiße, schlicht durch die Tatsache, daß sie "weiß" sind, unkurierbar mit rassistischen Haltungen grundiert.

DiAngelos Thesen sind nicht falsifizierbar. Daher sind sie auch keine wissenschaftlichen Thesen. In ihrer Ideologie wird sowohl zustimmendes wie auch ablehnendes Verhalten als Richtigkeit ihrer Thesen interpretiert – ein alter Taschenspielertrick in neuer Gewandung. Wer abstreitet, rassistisch zu sein, bestätigt dadurch seinen Rassimus. Wer zugibt, rassistisch zu ein, bestätigt ihn natürlich auch.
Um die Natur solcher brachial-primitiven Thesen einordnen zu können, reicht es völlig, die beiden Positionen solcher Gleichungen auszutauschen. Frau DiAngelo kennt nur "Weiße" und "PoCs", People of Color, und die letzten nur als Schwarze, Afro-Amerikaner, oder wie auch immer der mittlerweile noch erlaubte politisch-korrekt Terminus lautet. (Daß es das Ziel solcher polemischer Anschuldigungen ist, keinen, schlicht keinen wie auch immer gearteteten Begriff mehr zu lassen, dürfte jedem klar sein, der sich mit der Natur solcher ideologischer Kreuzzüge in den letzten 100 Jahren näher befaßt hat.) Man stelle sich schlicht vor, jemand würde mit der Behauptung auftreten, "Schwarze" seien, so wie sie es von "Weißen" behauptet, rassistisch, und zwar grundsätzlich, sie könnten zwar nichts dafür, aber das sei unkurierbar. Die Ähnlichkeit zu den grauenvollen Rassentheoremen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre nicht mehr zu übersehen. Andererseits ist aber eben genau dies ein Charakteristikum "rivalisierender" Ideologeme jener Zeit, daß sie das, was sie bei der Gegenseite verdammten, 1:1 übernehmen und positiv besetzen konnten. Der Sozialismus konnte Führerkult, die Leugung des Individuums, Geschichtsdeterminismus und Welterlösung durch die eigene Heilslehre in identischer Gestalt aufs eigene Panier heben (wobei die Frage, wer hier von wem abgekupfert hat, hier einmal ausgeklammert sein soll).

Frau Weißgerber zählt mit 23 Jahren zu den jüngsten Autoren der Achse ("Autoren" hier im Sinne des generischen Maskulinums verwendet). Das soll kein Ageismus sein ("so junge Hüpfer können noch gar nicht mitreden"). Aber es scheint mir durchaus möglich, daß sie aufgrund ihrer Sozialisation im 21. Jahrhundert nichts von dem vorigen Durchlauf dieser Auffassungen gehört oder gelesen hat, die bei Zeitzeugen, die noch "Achtundsechzig" und dessen akademische und intellektuelle Nachbeben in den 1970er Jahren aus eigener Anschauung mitgemacht haben, für ein starkes Aha!-Erlebnis, ein Déjà vu, sorgen. DiAngelos Thesen sind nämlich in keiner Weise neu oder "originell". Die schlichte Dichotomie "weiß = böse, für alles Schlechte verantwortlich", "schwarz = prinzipiell gut" - dieser Manichäismus fand sich in identischer Form in den Vorstellungen der Achtundsechziger (freilich kam bei ihnen noch das China der Kulturrevolution hinzu; das heutige, aufsteigende China mit seinem brachialen Staatskapitalismus eignet sich nicht mehr als utopische Projektionsfläche). Am grellsten ausgeprägt fand sich diese Ideologie im Werk des kolonialfranzösischen Psychiaters und "politischen Theoretikers" Frantz Fanon (1925-1961), der in seinem Buch Les damnés de la terre (Die Verdammten der Erde, 1961), nicht nur im Zeichen des damaligen "Antikolonialismus", der Entlassung der Staaten Afrikas und Asiens in die Eigenstaatlichkeit, sämtlichen "Kolonialisierten" eine auf Ewigkeit lädierte kollektive psychische Verfassung zuschrieb, sondern als einziges Heilmittel gegen dieses Trauma die schrankenlose Gewalt gegen sämtliche "Kolonisatoren" propagierte. Jean Paul Sartre hat in seinem Vorwort zu diesem Buch solche Gewaltpropagierung noch einmal zugespitzt. Daß sowohl bei Sartre als weißem Mittelklassevertreter, der vom Schwätzen über den Weltzustand ein Caféhausdasein als Bohemien fristen konnte, wie auch im Fall von DiAngelo, bei der früh erfahrene Armut sie nicht daran gehindert hat, eine Full Professorship (an der Westfield State University in Massachusetts) zu erreichen, hier Minderwertigkeitskomplexe in Selbsthaß umgeschlagen sein dürften - wenn schon nicht auf die eigen Person, dann doch aufs Herkommen, dürfte wahrscheinlich sein, tut aber nichts zur Sache.

Frau DiAngelos Behauptung, als Weißer sei man unweigerlich mit "rassistischen" Denkmustern kontaminiert (als Nichtweißer hingegen nicht; in der Optik der BLM-Aktivisten und ihres geistigen Umfeld kann es Rassismus und Diskriminierung nur von "weißer Seite" aus geben; eine Feststellung, die bei Menschen, die sich auf der Welt und in der Geschichte auch nur wenig auskennen, eigentlich nur Fassungslosigkeit auslösen kann), erinnert, und das wohl nicht zufällig, an die Weltsicht des Sozialismus und seiner Theoretiker. Aus dieser Sicht, angefangen mit Karl Marx' "Das Sein bestimmt das Bewußtsein" wird das Denken, werden die Haltungen und Auffassungen der Menschen ausschließlich von ihrer Klassenzugehörigkeit bestimmt, von der sozialen Schicht, in der sie aufwachsen und angehören. Der Ausdruck "Klassenbewußtsein" meinte freilich etwas leicht anderes: da es eben zu den teuflischen Mechanismen der Unterdrückung gehört, daß sich die Unterdrückten ihrer Lage nicht bewußt sind, braucht es eine Abteilung, eine Gruppe, die dieses Denken für sie übernimmt, sie aufklärt, ihre Interessen vertritt und sie per Erziehung die Einsicht in die eigene mißliche Lage vermittelt: eben jenes "Klassenbewußtsein". Das ist im Sozialismus die Partei; genauer: ihre Theoretiker und die Führung eben jener Partei, die die Linie vorgeben.  Damit konnte der Sozialismus auch schmerzfrei über das Paradox hinweggehen, daß seine Protagonisten und Anführer, nicht nicht die Kirchenväter von Marx bis Lenin, sondern auch Mao, Tschou Enlai, Pol Pot, Fidel Castro, Enver Hodscha e tutti quanti sich eben nicht aus dem "Proletariat" rekrutierten. Die von Thomas Baader erwähnte Immunisierung gegen jede Kritik war integraler Teil der sozialistischen Heilslehre: die Bestreitung der Richtigkeit dieser Thesen war eben Ausfluß der falschen Klassenzugehörigkeit; stimmte man ihnen zu, lag es daran, daß diese Theorien durch ihren Wahrheitsgehalt überzeugt hatten. Genau verfuhr auch die Psychoanalyse Sigmund Freuds: die Ablehnung war schon Beweis für die Stimmigkeit der Theorie.
 
Nicht erst im BLM-Kosmos, sondern schon im Tiersmondismus ab Ende der 1950er Jahre, ist dieses "Klassenbewußtsein" in ein "Rassenbewußtsein" umgestanzt worden. Nachdem "die Arbeiterklasse" sich nicht dafür erwärmen konnte, Revolution zu machen und den steigenden Wohlstand und die gesicherten Verhältnisse in der Marktwirtschaft vorzog, anstatt vorschriftsgemäß zu verelenden, entdeckten vor allem die Meisterdenker der Frankfurter Schule, allen voran Herbert Marcuse, in den Menschen der "Dritte Welt" das neue revolutionäre Subjekt. In ihnen und in der westlichen Studentenschaft.

An den Anwürfen gegen "Jim Knopf" zeigt sich recht mustergültig, daß es gar nicht um konkrete Inhalte geht. Allein die Tatsache, daß ein westlicher (weißer, männlicher, mittlerweile verstorbener, nordeuropäischer...) Autor eine solche Gestalt in seinem Werk auftreten läßt, reicht als Verdammungsurteil. Natürlich handelt es sich bei Jim Kopf nicht um eine detaillierte psychologische Studie oder eine ethnische Fallbeschreibung; er ist eine Kinderbuchfigur und als solche archetypisch, bruchlos (die von Zwiespalten und Widersprüchen geprägten Gestalten sind einer älteren Leserschaft vorbehalten); er besitzt genau keinen ethnischen "Hintergrund" außer seiner Hautfarbe - die eben keine Rolle im Buch spielt. Und genau dasselbe ist der Fall in jenem Buch, von dem ich stark vermute, daß es Michael Ende als Anregung für die Lummerländer Konstellation gedient haben könnte: nämlich in Hans Leips 1927 erschienenem Roman Der Nigger auf Scharhörn. Leips Schauplatz beschränkt sich auf die kleine Insel vor Hamburg; die Titelgestalt ist der einzige Überlebende einer der zahllosen Schiffsuntergänge an dieser Stelle, der pejorative Name wird ihm von seiner Umgebung, aus Gedankenlosigkeit beigelegt; der junge Erzähler, der seine Ferien auf dem Eiland verbringt, freundet sich mit ihm an, und er erweist sich als die sympatischste Gestalt des Buches - und als die hilfreichste, als seine Schiffbruchserfahrung und die Kenntnis der verlagerten Fahrrinnen sich bei der Seenotrettuung im nächsten Sturm als entscheidend erweisen. Der Titel ist also bewußt auf die Konterkarierung dieses Begriffes hin angelegt. Gleiches gilt bekanntermaßen für Mark Twains Huckleberry Finn: Jim ist der eigentliche Held des Buches, und Hucks fortwährende Verwendung des N-Wortes ist das Mittel Mark Twains, dem Leser drastisch zu zeigen, wie sehr auch er Kind seiner Zeit ist - vor allem, weil er den Ausdruck eben nicht diskriminierend, sondern nur gedankenlos benutzt. (Beiseit gesprochen: wir werden es nicht erleben, daß es aus China Beschwerden über die Porträtierung der "Oberbonzen Pi, Pa, Po" geben wird - nicht zuletzt, weil solche Grotesken Teil der gängigen literarischen Tropen sind.)

Nach dieser "Logik" wäre Literatur, Film, Kunst natürlich kein Vermittlungsinstrument mehr, das uns die Welt aus anderer Perspektive zeigen kann. Aus dieser Sicht gibt es keine Grenzüberschreitungen mehr. White boys can't play the blues. Wenn alles nur noch als Ausfluß, Resultat der eigenen Ethnizität gesehen - oder gar zugelassen - wird, wäre es uns als Europäern verwehrt, Bücher von James Baldwin oder Zora Neale Hurston zu lesen (nicht nur wegen unserer Hautfarbe, sondern auch, weil unsere sozialen Verhältnisse andere sind als in den Südstaaten der USA der 30er Jahre; zudem, weil es eine andere Zeit war). Deborah Cheetham, Jessye Norman oder Kiri te Kanawa hätten kein Recht, Lieder von Schumann zu singen, und Yuja Wang hätte sich mit ihren Einspielungen von Brahms, Liszt und Rachmaninov gleich doppelt versündigt. Beethoven dürfte nicht länger der am meisten gespielte Komponist überhaupt in China sein. Meine Übertragungen chinesischer Texte wären eine Anmaßung ("cultural appropriation") ohnegleichen. Darf man als Afrikaner oder Lateinamerikaner dann überhaupt Automobile oder Elektrizität benutzen? So absurd solche Fragen sind: wenn man sie konsequent stellt, wird klar, daß der Streit um solche "Zulässigkeit" am Thema vorbeigeht. Es geht nämlich nicht um die Korrektheit solcher Darstellungen (und ja: die Oberbonzen SIND eine Karikatur, und es gibt, nur als Beispiel, in China ganz zurecht Unmut über das Klischee des "Tsching-Tschang-Chinamann" in der Literatur der "Old China Hands" bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts), sondern darum, wer vorschreiben kann, was zulässig, was geduldet ist. Es geht um kulturelle Hegemonie, um das Recht, dergleichen bestimmen zu können. Neu ist das nicht. Es ist seit Jahrzehnten im Streit um die ideologische Lufthoheit üblich. Neu ist höchstens die Schlichtheit, die sich hier zeigt; die Beliebigkeit ist es nicht. Es war ein sicheres Kennzeichen des "Zeitalters der Ideologien", daß die Inhalte frei austauschbar waren. Eurasien war schon immer im Krieg mit Ozeanien.

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PS. Ein kleines Beispiel aus der Praxis, wie man in der Praxis, und ohne Schaum vor dem Mund, mit Stellen, die tatsächlich störend wirken könnten, umgehend kann. Die bekanntesten Texte eines westlichen Autors in China sind die Märchen Hans Christian Andersens (nicht die von Vater Marx - der übrigens, als der Marxismus noch Programm war, kaum im Original gelesen wurde, sondern hauptsächlich durch die Schriften Mao Zedongs rezipiert wurde). 2005 hat ihm die Volksrepublik eine Sonderserie von fünf Briefmarken gewidmet. Und das Märchen, das aufgrund seiner "chinesischen Thematik" seit seiner ersten Übertragung Anfang der 1920er Jahre das dortige Publikum am meisten eingenommen hat, ist "Die Nachtigall". (Es ist nicht das beliebteste Märchen, diese Ehre kommt, wie überall auf der Welt, der kleinen Meerjungfrau zu.) Nun hebt der Text aber bekanntlich so an:

In China, weißt Du wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und Alle, die er um sich hat, sind auch Chinesen. Es ist nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es werth, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird! Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt: ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde, so mißlich, daran zu rühren, daß man sich ordentlich in Acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderlichsten Blumen und an die allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, welche erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. 
Die Übersetzung des ersten Paragraphen lautet nun:

這是一個發生在古老中國的故事。 當時的皇帝住在一座用最精緻的瓷磚蓋成的宮殿裏,宮殿的御花園裏種了許多珍奇的花朵,每一朵上面都掛著一個銀鈴,只要稍微有風吹過,銀鈴就會發出叮叮的聲響,從花朵前經過的人,都忍不住停下來欣賞。

"Dies ist eine Geschichte, die im alten China passiert ist. Zu dieser Zeit lebte der Kaiser in einem Palast, dessen Wände mit den feinsten Fliesen aus Porzellan bedeckt waren. Viele seltene Blumen waren im kaiserlichen Garten des Palastes gepflanzt. An jeder war eine silberne Glocke aufgehängt. Wenn  ein wenig Wind blies, erklang ein silbriges Läuten, und, wenn das silbrige Klingeln ertönte, konnten die Leute, die an den Blumen vorbeikamen, nicht anders, als anzuhalten und es zu bewundern."
















U.E.

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