1. August 2020

Lord Dunsany, "Der Wachtturm" (1912)

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 (Tour Sarrasine in Antibes)

An einem Abend im April saß ich in der Provence auf einem kleinen Hügel, hoch über einem alten Städtchen, das die Goten und Wandalen bislang mit ihren Vorstellungen von Neuzeitlichkeit verschont haben.

Oben auf dem Hügel lag eine alte, vom Zahn der Zahn lädierte Burg mit einem Wachturm und einem Brunnen, der noch Wasser führte, zu dem Stufen an der Innenwand hinunterführten.

Der Wachturm, der mit seinen schartigen Fensterluken nach Süden hin Ausschau hielt, bewachte ein weites Tal, das in der Dämmerung versank und aus dem leise die Abendgeräusche heraufklangen. Er sah den Schein der Lagerfeuer, die Wanderer angezündet hatten und hinter ihnen die dunklen Nadelwälder, sah einen Stern aufblinken und die Dämmerung das Départment Var einhüllen.

Während ich dort so saß und dem Quaken der grünen Frösche lauschte und den deutlichen, fernen leisen Stimmen, während die Lichter in dem kleinen Städtchen eines nach dem anderen aufleuchteten und die Dämmerung der Nacht wich, vergaß ich so viele Dinge, die am Tag bedeutend scheinen, und dachte statt dessen an Seltsames und Entlegenes.

Kleine Windstöße kamen auf und flüsterten hier und da; es wurde kühl, und ich wollte mich schon wieder an den Abstieg machen, als ich hinter mir eine Stimme vernahm: "Vorsicht! Obacht!"



Ich wandte mich um und sah hinter mir einen alten Mann mit einem Horn stehen. Er hatte einen weißen, ellenlangen Bart, und wiederholte lagsam "Hütet euch! Wachsam sein!" Offenbar war er gerade aus dem Turm gekommen, neben dem er jetzt stand, obwohl ich keine Schritte gehört hatte. Normalerweise wäre ich erschreckt gewesen, wenn sich jemand in solcher Einsamkeit und so heimlich an mich herangeschlichen hätte; aber mir war sofort klar, daß es sich bei ihm um einen Geist handeln mußte, und mit seinem klobigen Horn und seinem langen weißen Bart und seinen unhörbaren Schritten paßte er so gut zu diesen Ort und der Zeit, aus der er stammte, daß ich ihn so ungezwungen ansprach wie einen Mitreisenden, den man fragt, ob er etwas dagegen hat, wenn man das Abteilfenster öffnet.

Ich fragte ihn, wovor wir uns hüten sollten.

"Vor was soll sich ein Ort wohl hüten," sagte er, "außer den Sarazenen?"

"Sarazenen?" fragte ich.

"Ja, Sarazenen, Sarazenen," sagte er.

"Und wer seid ihr?" fragte ich.

"Ich? Ich bin der Geist des Turms," sagte er.

Als ich ihn fragte, warum er in menschlicher Gestalt erscheine, so ganz anders als die Steine, aus denen der Turm neben ihm gefügt war, erklärte er, daß all die Leben der Wächter, die einst mit dem Horn hier oben die Wacht gehalten hatten, in ihm zusammengeflossen waren. "Es braucht hundert Leben dafür," sagte er. "Seit langem hält niemand mehr die Wacht hier und der Turm verfällt. Wenn die Mauern einfallen, werden die Sarazenen kommen. So war es stets."

"Heute kommen die Sarazenen nicht mehr," sagte ich.

Aber er schien mich nicht mehr zu sehen und blickte nach Süden.

"Sie werden die Hügel dort hinabströmen," sagte er und wies nach Süden, "sie werden aus den Wäldern hervorbrechen, wenn die Nacht anbricht, und ich werde das Horn blasen.  Die Leute werden wieder zum Turm drängen, aber die Bastionen sind in sehr schlechtem Zustand."

"Heute hört man nichts mehr von den Sarazenen," sagte ich.

"Von den Sarazenen hören!" sagte der alte Geist. "Von den Sarazenen hören! Sie werden eines Abends aus dem Wald strömen, in ihren langen weißen Gewändern, und ich werde in mein Horn stoßen. Und das wird das erste sein, was man von den Sarazenen hört."

"Ich will damit sagen," sagte ich, "daß sie nie mehr kommen. Sie können nicht mehr kommen; heute fürchten die Menschen anderes." Ich hegte die Hoffnung, daß der Geist des alten Wächters Ruhe finden würde, wenn er erfuhr, daß von den Sarazenen keine Gefahr mehr drohte. Aber er sagte: "Es gibt nichts auf der Welt, vor dem man sich fürchten muß, außer den Sarazenen. Alles andere bedeutet nichts. Wie können sich die Menschen vor anderem fürchten?"

Ich erklärte es ihm, damit er seine Ruhe finden möge, und erzählte ihm, daß ganz Europa, besonders aber Frankreich, jetzt furchtbare Kriegsmaschinen besäße, zu Lande wie zur See; daß die Sarazenen nicht über solche Höllenmaschinen verfügten, weder zu Land noch zur See, und deshalb nicht das Meer überqueren könnten und ihnen die Vernichtung sicher sei, wenn sie es doch täten. Ich erzählte ihm von den Eisenbahnen in Europa, die ganze Armeen bei Tag und bei Nacht schneller verlegen konnten als ein Pferd galoppieren kann. Und als ich es ihm so gut ich konnte dargelegt hatte, gab er zur Antwort: "All diese Dinge werden einst wieder vergehen, und die Sarazenen werden bleiben."

Daraufhin sagte ich: "Seit vierhundert Jahren hat es hier keinen Sarazenen mehr gegeben, weder in Frankreich noch in Spanien."

Und er sagte: "Ihr wißt nichts von den Listen der Sarazenen. So war es immer mit ihnen. Sie bleiben einige Zeit fort, sie zeigen sich nicht, für lange Zeit nicht, and eines Tages kommen sie zurück."

Er hielt nach Süden Ausschau, aber er sah nichts, weil der Nebel von den Hügeln aufstieg, und dann schwebte er lautlos zurück zu seinem Turm und die geborstenen Stufen hinauf.

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"The Watch-Tower" erschien zuerst in der Saturday Review vom 3. August 1912 und wurde in Buchform in Tales of Wonder (1916; bzw. The Last Book of Wonder für diie im gleichen Jahr erschienened amerikanische Ausgabe) gesammelt.
  



(Sarazenenturm in Vitrolles)

U.E.

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