4. Juli 2020

Tönnies zum zweiten. Oder: litterae in ovo

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Mitunter frage ich mich: soll ich es eigentlich bedauern, daß aus mir kein Romanautor geworden ist? Das ist nun nicht so sehr eine Frage des Wollens, sondern der Einsicht in die eigenen, sehr bescheidenen Fähigkeiten auf dem Gebiet des Kreativität und des literarischen Vermögens. Denn ich erzähle ja niemals Geschichten, schon gar keine erfundenen; für das Ersinnen einer Fabel geht mir jegliche Begabung ab; das Schildern von Persönlichkeiten, von einer Entwicklung, der stimmigen Ausmalung der couleur locale, des Wechselgeflechts der Beziehung, die Ambivalenzen: Fehlanzeige auf der ganzen Linie. (Vom "Stilgefühl" will ich gar nicht erst beginnen.) Was bliebe also übrig als Metier, wenn schon die triste gegebene Realität nicht um das Ausschlagebende, den narrativen Kosmos, erweitert werden kann? Eines der wenigen Genres, das sich anböte, wäre der Schlüsselroman, der Roman à clef, das tatsächlich gegebene - oder vermutete - Skandale der unmittelbaren Gegenwart in literarischer Verlarvung präsentiert, hinter neuen Namen, neuen Örtlichkeiten - aber den Zeitgenossen sofort entschlüsselbar. Nicht in sublimierter Form, die eine chronique scandaleuse zum Anlaß nimmt, um ein umfassendes Portrait der Moral, der Widersprüche und Spannungen einer Gesellschaft zu zeichnen, wie es etwa Theodor Fontane mit dem "Fall Ardenne" für Effi Briest tat, oder mit dem heute vollkommenen "Fall Ravené" für seinen kleinen Roman L'adultera ein Dutzend Jahre vorher. Das entfällt aus den oben genannten Gründen. Nein: Als grelle Kolportage, deren einziger Zweck wäre, dem Leser Insinuationen nahezulegen, den allgemeinen Zustand eine Gesellschaft - oder einer Unterabteilung, etwa der unternehmerischen Klasse und der classe politique  - als korrupt, verblendet, bar jeder Verantwortung und von strahlender Unfähigkeit zu schildern. Natürlich ist dergleichen ungerecht, immer und zu jeder Zeit. Aber der grobe Holzschnitt ist die Natur dieser Art von Kolportage.



Natürlich müßte man sich absichern: nicht nur die Namen müssen verlarvt sein; es ziemt sich, dergleichen in imaginäre Länder zu verlegen, in Städte, die ein Amalgam vieler bekannter Ortschaften darstellen - jedenfalls wenn der Vorgang, der erkennbar zur Folie der Fiktion dient - und erkennbar muß er sein, weil ein solcher Text sonst nichts enthält, durch das er aus eigener Kraft bestehen kann - noch brandheiß, noch nicht abgeschlossen ist. Ein erheblicher Vorteil eines solchen literarischen (falls das Wort für diese Art holzhammerhafter Kolportage erlaubt ist) Verfahrens wäre, daß "die Wirklichkeit" all die Ingredienzien bereitstellt, um die sich sonst die Imagination des Verfassers bemühen muß. Es braucht keine Wahrscheinlichkeit, da die Handlung den Nachrichtenhen würde entnommen ist, die Schilderung des lokalen Hintergrund kann sich auf das beschränken, was die Handlung unmittelbar tangiert, der Rest darf blaß bleiben, da seine Ausmalung nur vom Zentrum des Interesses ablenken würde.

Ich könnte also, rein theoretisch (im Sinne von: wie ich vielleicht vorgehen würde, wenn ich mich auf dieses Spiel mit der nichtvorhandenen Kreativität einließe) ein auf keiner Landkarte zu findendes kleines Staatswesen postulieren - wie etwa Zenda in Anthony Hopes Der Gefangene von (eben) Zenda, wie Zembla in Vladimir Nabokovs Pale Fire (in dem erkennbar das vorrevolutionäre Rußland durchscheint), wie Laurania in Winston Churchills einzigem Roman Savrola; wie Azania in Evelyn Waughs Black Mischief. Nennen wir es Wakanda. Staffeln wir den Skandal, schon damit es für bescheidene Romanlänge reicht. Es würde sich ein initialer Skandal anbieten, bei dem etwa ein großes Unternehmen, dem seit vielen Jahren der Ruf üble Geschäftspraktiken nachgesagt wird - wohlgemerkt: nur nachgesagt - das im Zuge einer Krise, die den Staat und seine Nachbarn heimsucht - unversehends wegen tatsächlicher Misstände am Pranger der Medienöffentlichkeit steht. Ein Krieg (und im Zusammenhang damit etwa schlechte Truppenausrüstung oder Korruption in der Vergabe von Rüstungsaufträgen) würden sich anbieten, doch ist das Militär (ich schreibe bzw. schriebe auf Deutsch, und angesichts der Art der Kolportage wäre nicht die Force de frappe das Ziel) bei uns ersichtlich zu abgewirtschaftet, um auf diese Weise zu figurieren. Ein tatsächlicher Krieg, mit Schießgewehren und Truppenaufmärschen, scheint für unsere Breiten nach den Entwicklungen der letzten 30 Jahre eher unwahrscheinlich.  Naturkatastrophen haben es an sich, nicht allzulange anzuhalten, und die wenigsten - zumal in unseren Breitengraden - entwickeln nicht genügend anhaltendes Krisenpotential. Vielleicht würde sich die Lebensmittelbranche anbieten; das hätte auch den Vorteil, den Zeitgeist, der seit Jahren medial auf "bio" und "nachhaltig" trainiert wird, anzusprechen; es empfiehlt sich, sich in solchen literarischen Niederungen dem Zeitgeist anzubiedern (also kein Skandal in Sachen "Vergiftung durch Kupferüberdüngung auf dem Biohof"), sondern die "Fleischindustrie", zumal unter dem Stichwort "Billigfleisch" ... Ich hab's (glaube ich): postulieren wir eine Epidemie, eine Pandemie; nach "Outbreak" dürfte das ein geläufiger fiktionaler McGuffin sein. Und zwar nicht von bescheidenem Ausmaß, wie SARS oder MERS, sondern weltweit, steigend, die Schlagzeilen, wie man so sagt 24/7/365 beherrschend. Eine Zoonose (die Erinnerung an SARS nützt doch...), die vom Tier auf den Menschen übertragen wird. Postulieren wir, daß auch Tiere davon infiziert werden können, und daß es nachweislich zu Infektionen von Menschen durch solche Tiere kommen kann. Dann wäre in der fleischverarbeitenden Industrie ganz besondere Vorsicht anzuraten. Setzen wir noch einen drauf: nehmen wir den größten Unternehmer in Wakanda, postulieren wir einen Ausbruch in den Betrieben der Konkurrenz, und daß unser (Anti)Held sich ostentativ als "Saubermann", als positives Gegenbeispiel präsentiert und die Gesundheitsbehörden Wakandas vor voreiligem Aktionismus warnt. Und dann lassen wir den größten Ausbruch, eine Bestätigung aller Verdachtsmomente, die seit Jahren gegenüber ihm im Umlauf waren, in seinem Werk stattfinden. Dramaturgisch wäre das, wie gesagt, mit dem Holzhammer philosophiert, aber im gewählten Genre gilt es wie gesagt zu klotzen statt zu kleckern.

Aber damit nicht genug: im Zug dieses saftigen Skandalons käme auch ans Licht, daß einer der Spitzenpolitiker Wakandas, der sich erst vor kurzem aus der Politik zurückgezogen habe, von just dieser zweilichtigen Firma als Berater für zwei Jahre angeworben worden, obwohl er keinerlei Fachkenntnisse, weder in Sachen der Produkte dieser Firma noch in den speziellen Gesetzen und Vorschriften auf diesem Gebiet vorweisen könnte. Für, sagen wir, ein Fixum von zehntausend Wakanda-Dollars pro Monat und viertausend Wakanda-Dollars für jeden Tag, den er, vorgeblich in der Mission für diese Firma, auf Reisen verbringt. Und der über keinerlei Amt mehr verfügt, um hier Einfluß im Sinne eben dieser Firma ausüben zu können. (Ach, sagt der Thriller-Autor: Seilschaften und Netzwerke sind das A und O jeder ordentlichen Verschwörungstheorie...) Verleihen wir ihm den Namen eines Erzengels; dergleichen Anklänge ans klassische Bildungsgut machen sich nicht nur gut, sondern knüpfen auch an die erste hohe Zeit dieser Art von Literatur an, das 18. Jahrhundert, als statt "Herzog ---mont" Namen aus dem klassischen Altertum oder dessen Sagen verwendet wurden.

Nach den Gesetzen des Literaturgenres wäre der weitere Sachverhalt für alle Kenner damit umrissen. Lassen wir an dieser Stelle des Plots die Beteiligten erklären, es ginge um eine bestimmte Tierkrankheit, um geänderte Import- und Exportvorschriften, gewissermaßen einen Einzelfall der Anwendung von Paragraphen. Es dürfte auch den oberflächlichsten Leser stutzig machen. Für solche Dienste, für einen ausweislich Nichtbeschlagenen, ein solcher Rahmen? Man ahnt, worauf die Handlungsanlage hinauswill: es handelt sich um ein Deckmänelchen, ein Sicherkenntlichzeigen für Vorleistungen. Und gab es da nicht, wie etabliert, vorhergehende Skandale, von Arbeitsverträgen, die die Schutzbedingungen, die Mindestlöhne, all das unterlaufen - Bedingungen (die Ironie der Kolportage fordert das geradezu), die die Partei unseres Erzengels seit unvordenklichen Zeiten zu ihrem ureigenen Interesse erklärt hat? Und dessen Sabotage - hier schließt sich der Kreis - sich in eben jenem Ausbruch zeigt?

Welche Winkelzüge und plötzliche Wendungen der Plot im weiteren nimmt, bliebe noch auszuarbeiten. Aber die Schlußvolte sollte jetzt schon festgelegt werden, um zu vermeiden, sie durch falsche Weichenstellungen zu sabotieren: alle Beteiligten kommen ungeschoren davon, vielleicht zahlt unser Unternehmer eine Konventionalstrafe, vielleicht muß ein Aufsichtsratmitglied oder ein Landrat wegen zu offenkundiger Deckung der Machenschaften seine Basecap nehmen, aber für alle anderen bleibt es eine Episode ohne Bedeutung. Auch das ist natürlich im Genre seit langem ein Klischee - man denke an die Epiloge von Desmond Bagleys The Enemy oder Frederick Forsyths The Fourth Protocol.

Aber dergleichen gilt natürlich nur für den narrativen Kosmos zwischen zwei Buchdeckeln (oder dem Anfang und Ende der 3 bis 5 MB einer Ebookdatei). Im RL, in "wirklichen" Leben (vorausgesetzt, hier handelt es sich nicht um eine von der Matrix erzeugte Illusion) gelten andere Regeln. Dort könnte es absolut gängig sein, daß fünfstellige Monatshonorare für nutzlose Beratertätigkeiten nur Peanuts darstellen, daß es sich nicht um Sinekuren als Dank für vorher ermöglichte und gedeckte halbseidene Geschäfte handelt, daß sich die Politiker der großen Parteien sich nicht den Staat und seine Institutionen zur Beute gemacht haben, um sich eine Bühne zu verschaffen, um sich trotz erwiesener flächendeckender Unbegabtheit in allen Bereichen eine kommode Lebensführung zu ermöglichen, sondern dem eigenen Land und seiner Wirtschaft tatsächlich dienen. Mit anderen Worten: daß dies nicht Wakanda ist.


U.E.

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