29. Mai 2020

Lord Dunsany, "Das Feld" (1909)


Wenn die Blütenpracht des Frühlings in London vorbei ist und der Sommer seinen Einzug gehalten und früh verwelkt ist, wie das in den Großen Städten so geht, und wenn man dann noch immer in London gefangen ist, dann bleibt es nicht aus, daß die Hügel mit ihren Blumen und Wäldern nach einem rufen, mit mächtiger und drängender Stimme, deren Ketten eine hinter der anderen in die Abendluft ragen wie die Reihen eines Engelschors, dessen Gesang selbst einen Trunkenbold aus der Spelunke locken könnte. Kein Straßenlärm kann diesen Ruf übertönen, nichts, was London einem zu bieten hätte, könnte dagegen ankommen. Sobald er ertönt, nimmt er alle Phantasie gefangen und entführt sie zu Bächen, in denen die Kiesel in allen Farben glänzen, und sämtliche Londoner Versuchungen sind so tot wie Goliath, als ihn ein solcher Kiesel in die Stirn traf.

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Der Ruf erklingt aus weiter Ferne, über die Meilen und die Jahre hinweg, denn die Hügel, die da nach einem rufen, sind die der uralten Zeit, und ihre Stimmen sind die aus der Vorzeit, als die Elfenkönige noch in den Wäldern ihr Horn erschallen ließen.

Ich sehe sie deutlich vor mir, diese Hügel meiner Kinderzeit (denn es die sind die, die nach mir rufen), die Gipfel in die dunkelnde Abenddämmerung gereckt, und die schimmernden Gestalten der Elfen, die aus dem Farnkraut spähen und auf den Abend warten. Was hingegen nicht vor meinem geistigen Auge steht, das sind die teuren Villen und begehrten Landsitze, die sich gewisse Leute gebaut haben, deren Geschäfte sich allein um Kunden und Mieter drehen.



Lange Zeit hatte ich die Angewohnheit, mit dem Rad zu den Hügeln hinauszufahren, wenn ihr Ruf zu stark wurde. Bei einer Zugfahrt fällt das langsame Näherkommen fort, man läßt London nicht langsam hinter sich versinken wie eine alte Sünde, die vergeben und vergessen ist. Man kommt nicht durch die Dörfer am Weg, in denen das offene Land zu schon spüren ist, und fragt sich nicht bange, ob sie noch ganz wie früher sein werden. Und man gelangt nicht allmählich dahin, wo sich das Land zu heben beginnt wie ausgebreitete Gewänder, die Hänge hinauf, bis man ihre freundlichen, gastlichen Antlitze vor sich sieht. Bei einer Zugfahrt biegt man um plötzlich um eine Kurve, und sie liegen unverhofft vor einem in der Sonne.

Ichc habe mir immer vorgestellt, wie es sein müßte, durch einen tropischen Dschungel zu streifen und ihn hinter sich zu lassen. Die wilden Tiere würden seltener, die Finsternis würde sich allmählich lichten, das Grauen eines solchen Orts würde verbleichen. Aber je weiter man sich dem Stadtrand Londons nähert, desto häßlicher werden die Häuser, desto heruntergekommener die Straßen, desto dichter die Finsternis, die über allem liegt, und alle  Schattenseiten der Zivilisation erstrecken sich nackt und schäbig vor den weiten Feldern aus.

Da, wo die Häßlichkeit ihren Höhepunkt erreicht, wo den Betrachter das Elend geballt anfällt, wo man sich vorstellen kann, wie sich die Architekten gesagt haben: "Mehr können wir nicht leisten. Der Satan sei gelobt!", findet sich eine kleine Brücke aus gelben Backsteinen, und wenn man sie überquert, gelangt man aufs freie Land, wie über ein silbergeschmiedetes Tor, das einen ins Feenreich führt.

Links und rechts erstreckt sich die infame Stadt, so reicht das Auge sieht, aber vor einem erstrecken sich die Felder, wie ein Lied aus uralten Tagen.

Dort liegt eine Wiese, die voller Butterblumen steht. Ein Bach fließt hindurch, gesäumt von einem kleinen Bestand an Weiden. Dort habe ich oft vor der langen Fahrt ins Hügelland Rast gemacht.

Dort konnte ich London hinter mir lassen, eine Straße nach der anderen. Manchmal habe ich mir dort einen Strauß Butterblumen gepflückt, als Passierschein für die Hügel.

Ich kam dort oft vorbei. Zuerst fiel mir nichts auf als die Schönheit und der Frieden, den die Wiese ausstrahlte.

Aber bei meinem zweiten Besuch beschlich mich das Gefühl, das irgendetwas Unheimliches im Gang war.

Zwischen den Butterblumen am seichten Bachrand hatte ich das beklemmende Gefühl, daß hier, genau hier, etwas Furchtbares geschehen könnte.

Ich hielt mich nicht lang dort auf. Es schien mir, daß ich zu lange in London gewesen war und diese morbiden Anwandlungen ein Echo davon waren.

Ich verbrachte ein paar Tage auf dem Land, und als ich zurückkam, fuhr ich noch einmal bei dem Feld vorbei, um die letzte Landruhe zu genießen, bevor ich wieder nach London kam. Das die beklemmende Atmosphäre hing immer noch zwischen den Weiden.

Ein Jahr verging, ehe ich dort wieder vorbeikam. Ich kam aus der Düsternis Londons in den hellen Sonnenschein hinaus; das grüne Gras und die Butterblumen glühten im Sommerlicht, und das Plätschern des kleinen Bachs klang wie ein fröhliches Lied. Aber in dem Augenblick, als ich die Wiese betrat, kehrte meine alte Beklemmung zurück, schlimmer als zuvor. Es war fast, wenn die Vorahnung eines furchtbaren Unglücks seinen Schatten vorauswarf, und um ein ganzes Jahr nähergerückt wäre.

Ich sagte mir, daß die übermäßige Anstrengung des Radfahrens vielleicht solche Folgen haben könnte, und die Stimmung verdüstern könnte, sobald man eine Ruhepause einlegte.

Ein wenig später kam ich nachts am diesem Feld vorbei, und das Rauschen des Wassers in der Dunkelheit führte mich in Versuchung. Aber unten überfiel mich die Vorstellung, daß dies ein entsetzlicher Ort sein müßte, wenn man aus irgendeinem Grund verletzt unter dem kalten Sternenlicht liegen müßte und nicht fort könnte.

Einer meiner Bekannten kannte sich mit der Geschichte jener Gegend in allen Einzelheiten aus, und ich fragte ihn, ob auf jenem Feld jemals etwas Bemerkenswertes oder Geschichtsträchtiges vorgefallen sei. Er wiederum fragte nach dem Grund für mein Interesse und ich sagte, daß mir die Wiese ein ausgezeichneter Platz zu schein schien, um einen historischen Festumzug aufzuführen. Aber er erklärte mir, daß sich auf diesem Fleckchen Erde niemals irgendetwas zugetragen hätte.

Also lag die Katastrophe, die ich hier spüren konnte, in der Zukunft.

Drei Jahre hindurch besuchte ich dieses Feld, und bei jedem Besuch fühlte ich deutlicher, wie etwas Böses seinen Schatten vorauswarf, und mein Unbehagen wuchs bei jedem Mal, wenn mich das kühle grüne Gras unter den Weiden in Versuchung führte. Einmal verfiel ich auf den Gedanken, mich abzulenken und zu schätzen, wie schnell der kleine Bach wohl floß, aber es geriet mir zur Frage, ob das Wasser wohl schneller strömte als Blut.

Mich beschlich die Furcht, daß es entsetzlich sein müßte, hier den Verstand zu verlieren und Stimmen zu hören.

Zuguterletzt wandte ich mich an einen Dichter, den ich flüchtig kannte. Ich riß ihn aus seinen gewaltigen Plänen und erzählte ihm von dem Feld. Er war das ganze Jahr noch nicht aus London herausgekommen, und er versprach, mich zu begleiten, das Feld in Augenschein zu nehmen und mir zu sagen, was dort bevorstand. Wir fuhren Ende Juli hinaus. Die Gehsteige, die Straßenzüge, die Häuser, die Luft und der Straßenschmutz waren von der Sommerhitze ausgedörrt, der Straßenverkehr wälzte sich wie in endloser Agonie langsam wieter, und der Schlummer floh London, breitete seine Flügel aus, erhob sich in die Luft und floh hinaus aufs Land.

Als mein Dichter die Wiese erblickte, war er begeistert; die Blumen säumten in unübersehbarer Zahl das Bachufer, und er lief mit ausgereiteten Armen zu den Weiden. Am Bachrand blieb er stehen, und wurde sehr ernst. Er sah den Wasserlauf hinauf und hinab, dann kniete er sich hin  und betrachtete die Butterblumen aufmerksam von nahem. Er schüttelte den Kopf.

Er blieb lange so stehen, ohne ein Wort zu sagen, und meine Furcht vor der Zukunft und meine düsteren Ahnungen kehrten zurück.

Schließlich sagte ich: "Was ist das hier für ein Feld?"

Und wieder er schüttelte nur traurig den Kopf.

"Es ist ein Schlachtfeld," sagte er.

*           *          *

Daß im Laufe einer Pestilenz Geschichten erzählt werden, geht zurück die den "Schwarzen Tod", die Beulenpest, die Europa zwischen 1348 und 1353 heimsuchte und mindestens ein Drtteil der damaligen Bevölkerung des Leben kostete. In Boccaccios Decamerone findet sich der Ursprung der abendländischen Erzählprosa, die sich von dem antiken Vorbild des epischen Verses gelöst hat und das das Unerhaltungsgenre begründet hat, indem die alltägliche Bedrohung unter den fünf Männern und fünf Damen, die sich, reihum, sn zehn Tagen jeweils zehn Erzählungen, Anekdoten, skandalöse Vorfälle, zum Besten geben, um das Elend außerhalb der bergenden Mauern ihres Villino außen vor zu halten.
Ganz in diesem Sinn sei dieser kleine Beitrag verstanden. Zu anderen wollte ich, da Lord Dunsanys Erzählungen womöglich nicht zum eisernen  Bestand des hiesigen kulturellen Gedächtnisses gehören, ein kleines Beispiel für eins der beiden anderen narrativen Modi zeigen, die sein OEuvre ausmachen, anders als die beiden doch sehr hingetuschten Chonoiserien, mit denen diese kleine Reihe vor ein paar Tagen begann: zum einen die kurzen Fantasy-Erzählungen, die ihn zum Klassiker dieses Genres gemacht haben, zum anderen die oft parabelhaft anmutenden Contes morales, oft mit zynischen Schlußvolten (wobei nicht verschwiegen sei, daß viele von ihnen literarisch arg leichgewichtig ausgefallen sind, besonders die Club-Erzählungen um Jorkens, die einen großen Teil seines Spätwerkes ausmachen.

"The Field" erschien zuerst in der Londoner Saturday Review vom 20. November 1909 und wurde in die Sammlung A Dreamer's Tales aufgenommen, der englische Ausgabe im Jahr darauf im Londoner Verlag George Allen & Sons und im gleichen Jahr im New Yorker Verlag J. W. Luce herauskam. Meine Übersetzung ist nicht die erste ins Deutsche; diese erschien 1983 in der Edition Weitbrecht im Rahmen der Bibliothek von Babel im Thienemann Verlag im Band Das Land des Yann in der Übertragung von Eva Schönfeld unter dem Titel "Die Wiese". Ich habe mich beim Übersetzen express gegen diese Version orientiert; das bedeutet nicht eine Mißachtung, sondern soll die Eigenständigkkeit meiner Version betonen (es dürfte kaum eine übereinstimmende Formulierung zwischen den beiden Versionen zu finden sein; mit Ausnahme etwa des Schlußsatzes, der sich nicht gut umformulieren läßt.)  Meine Option für das "Feld" statt der näherliegenden "Wiese" verdankt sich der Assonanz jener letzten Zeile.

Der Name des Autors reimt sich übrigens auf "one rainy".



U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.