27. Mai 2020

Literarische Chinoiserie: Zwei kleine Erzählungen von Lord Dunsany

­"Ein Archiv der unvordenklichen Geheimnisse"

Im Archiv der uralten Geheimnisse in China erzählt man die Geschichte, daß ein Sohn aus dem Hause Tlang so geschickt im Umgang mit scharfem Eisen war wie niemand sonst, und daß er sich in die grünen Jadeberge begab und dort einen grünen Jadegott schnitzte. Das geschah im Jahr des Drachen, im achtundsiebzigsten Jahr dieser Ära.

Und fast ein ganzes Jahrhundert hindurch weigerten sich die Menschen, an den grünen Jadegott zu glauben. Danach beteten sie ein Jahrtausend lang zu ihm, und als es verstrichen war, verloren sie erneut den Glauben an ihn. Und der grüne Jadegott tat in seinem Zorn ein Wunder und vernichtete die grünen Jadeberge und ließ sie eines Abends, als die Sonne unterging, mit ihr in die Erde versinken. Daher erstreckt sich heute an dem Ort, an dem sich einst die grünen Jadeberge erhoben, nur ein Sumpf. Und dieser Sumpf ist über und über mit Lotusblüten bedeckt.

Und am Ufer dieses Lotussees, der im Abendlicht glüht, geht Li La Tang, das chinesische Mädchen. Sie treibt die Kühe heim, sie geht hinter ihnen her und singt dem Fluß Lo Lang Ho ihr Lied. Und dies singt sie dem Fluß, singt es über Lo Lang Ho: daß er der wunderbarste ist von allen Flüssen, entsprungen aus Bergen, die älter sind als selbst die Weisen ahnen, geschwinder als fliehende Hasen, tiefer als das Meer, Herr über alle Flüsse, die wie Rosen duften und heller leuchtend als die Edelsteine, die den Hals von Prinzen schmücken. Und sie richtete ihr Gebet an den Fluß Lo Lang Ho, den Herrn aller Flüsse, das Ebenbild des Himmels, wenn der Tag anbricht: daß er ihr einen Liebsten senden möge, der in einem Boot aus Licht aus dem Landesinneren gerudert käme, in einem Gewand aus gelber Seide mit Türkisen, die seine Handgelenke zierten, jung und fröhlich und ohne Sorgen, mit einem Antlitz, das gelb wie Gold schimmern sollte und einem Rubin auf der hohen Mütze, der im Licht der Laternen im Dämmerschein leuchten würde.

So betete sie am Abend zu dem Fluß namens Lo Lang Ho, während sie hinter den Kühen am Ufer des Lotussees ging, und den grüne Jadegott unter dem Lotussumpf erfaßte Eifersucht auf dem Liebsten, auf den sich das Gebet des Mädchens Li La Tang an den Fluß Lo Lang Ho richtete, und er wandte sich gegen den Fluß und verwandelte ihn in ein fauliges und stinkendes Gewässer, wie es nun einmal die Art von Göttern ist.

Und dies geschah von über tausend Jahren, und Lo Lang Ho ist nur noch ein Fluch, den Reisende ausstoßen, und der Ruhm und die Schönheit des großen Flusses ist vergessen. Und keine Sage erzählt davon, was aus dem Mädchen wurde, obwohl alle Männer glauben, daß sie in eine Göttin aus Jade verwandelt wurde, die an der Seite des grünen Jadegottes aus einem Lotus sitzt, der auf Stein gehauen auf den Gipfeln der Berge ruht. Aber alle Frauen wissen, daß ihr Geist noch immer in den Lotussümpfen umgeht, wenn sie im Abendlicht glühen und sie von Lo Lang Ho singt.





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"Cheng Hi und der Fenstermacher"

An einem Abend, als die Jahreszeit der verblühenden Weiden noch nicht weit fortgeschritten war, suchten Hsu He und Peng Yuen gemeinsam den Garten von Cheng Hi auf und fanden ihn in die Betrachtung der Schönheit des Mondes versunken. Und nachdem sie ihm die Ehre erwiesen hatten, stellte jeder von ihnen ihm eine Frage. Und Hsu He fragte ihn, warum er sich nicht damit umtäte, Geld zu verdienen, viele Silbermünzen, mit vier Ecken und einem Loch in der Mitte, damit man sie an einer Schnur um den Hals tragen könnte.



Und Cheng Hi neigte den Kopf, nachdem er diese Frage gehört hatte, und dachte darüber nach.

Peng Yuen sprach zu ihm:

"Oh Cheng Hi, es kann kein Zweifel daran bestehen, daß dein Garten gut und angemessen ist, und deine Betrachtung der Schönheit des Mondes ist ehrenwert, aber noch ehrenwerter ist es, es wie die Klugen zu halten, die die Zuckerernte besprechen und die Schiffe, die auf Fahrt nach Ching gehen."

Und Cheng Hi verbeugte sich und versank darüber in ein noch tieferes Nachdenken als bei Hsu Hes Frage.

Und als sie nach einer Stunde keine Antwort erhalten hatten, verbeugten sich Hsu He and Peng Yuen nur einmal kurz und brachen auf. Und Cheng Hi erhob sich ebenfalls und begleitete sie.

Und während die drei allesamt erklärten, wie unwürdig sie seien, den anderen Gesellschaft zu leisten - ein Brauch, der seit dreitausend Jahren ohne Unterlaß gepflegt wird: die Zeit hat ihn geheiligt und ihn für vollkommen befunden - während nun jeder von ihnen ringsum die eigene Unwürdigkeit zum Thema seiner höchsten Eloquenz erkor, gelangten sie vor ein noch unfertiges Haus und sahen einen Fenstermacher an der Arbeit.

Und als Cheng Hi diesen Handwerker erblickte, der an seinem Fensterrahmen sägte und hämmerte, hielt er inne und sprach zu ihm (Hsu He und Peng Yuen hörten dabei zu):

"O Handwerker am späten Abend: so fertigt man keinen Besenstil. Um einen Besenstil anzufertigen, ist es nötig, sich ins Tal zu begeben und eine Weide zu fällen, in der Zeit, in der man Weiden fällt, und sie auf die Länge zu kürzen, die ein Besenstil besitzen sollte, was genau der Größe entspricht, die eine Frau hat, wenn sie gebeugt einhergeht, und ihn mit einem Messer zu runden und zu glätten, dessen Griff aus Elfenbein sein muß, und damit fortzufahren, bis der Stil rund und wirklich schön ist, glatt und weiß und eine wahre Augenfreude, ein Kunstwerk: dann! ja dann besitzt man einen Besenstil!"

Und der Handwerker fuhr fort, an seinem Rahmen zu werken und gab keine Antwort, denn er sagte zu sich: "Dieser Mann ist unzweifelhaft ein großer Gelehrter, und hat deshalb allen Verstand eingebüßt."

Aber Hsu He und Peng Yuen flüsterten einander zu: "Für einen Mann eine Art der Arbeit. Und für einen anderen eine andere Arbeit. Das ist der Sinn der Fabel von Cheng Hi."

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Vielleicht ist es angesichts meiner Interessenlage einfach unvermeidbar, neben "genuin chinesischen" Themen auch einmal jenem Randbereich ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken, der zu Zeiten "politischer Korrektheit" ein arg vermintes Terrain darstellt: dem Orientalismus: der Fabel, der Erzählung, dem Märchen, die das exotische Kolorit nur als ein Spiel nehmen, als Verfremdung, als Dekor. Nicht zufällig tritt ein solcher Orientalismus  - der sich auch der Staffage des Nahen Osten bedienen kann - zur gleichen Zeit literarisch in Erscheinung, als die ersten Contes des Fées um 1700 herum in Frankreich entstehen; als die ersten Übersetzungen aus dem alf-Layla wa-Layla, dem "Buch der tausend Nächte und der einen Nacht" durch Antoine Galland erschienen (in denen sich zugleich die ersten Beispiele dafür finden: zwei der bekanntesten Texte des Genres, "Aladin und die Wunderlampe" und "Ali Baba und die vierzig Räuber" finden sich nicht in den arabischen Textausgaben; sie sind Zugaben des Übersetzers (Galland schrieb, die fußten auf mündlichen Erzählungen seines aus Syrien stammenden Sekretärs, der ihm bei der Übertragung half; in diesem Fall gibt es im Philologiversum keine abschließende Klarheit). Und natürlich sind "chinesische Szenen" ein belibtes Thema der frühen Meißner und anderer Porzellanmanufakturen des 18. Jahrhunderts; China diente bis etwa zum Ausgang dieses Jahrhunderts für die Fernsehnsüchte Europas als durchaus positiv besetzte Projektionsfläche, die freilich kaum von irgendeiner Detailkenntnis getrübt wurde; die völlige Vagheit und absolute Fremdartigkeit förderte das sowohl, weil sie der Phantasie absoluten Spielraum ließ, und verhinderte sie zugleich, weil sie keiner Einzelheiten, keine Geschichten, keine Gestalten, Orte, Namen bot, an denen sich diese Projektionen festmachen konnten  - anders als die Antike, deren Geschichte, Kultur und Philosophie dem europäischen Bildungsideal seit dem Humanismus das Modell und die Texte lieferten.

Dieses seltsame "Sagen-China", dessen maßgebliche dort spielenden Texte im Umfeld des Kielsogs des Fin de Siécle entstanden - etwa Kafkas "Beim Bau der chinesischen Mauer" oder Hofmannthals "Der Kaiser von China spricht" ("In der Mitte aller Dinge / Wohne Ich, der Sohn des Himmels. / Meine Frauen, meine Bäume, / Meine Tiere, meine Teiche / Schließt die erste Mauer ein") - dürfte, wie so manche rigide umrissene Subgenres, ein "abgeschlossenes Sammelgebiet" darstellen. Sowohl unsere Detailkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse und der Geschichte Ostasiens wie auch die erwähnte "PC" (nicht nur im lästigen Sinne von Sprach- und Darstellungstabus, sondern eben auch von der tatsächlichen Kenntnis der Wirklichkeit) dürften diesen Modus ein eingeschreint haben wie etwa den englischen Landhauskrimi, der immer das ideale Spielfeld für die bekannten zehn Regeln des Detektivromans aus den zwanziger Jahren darstellte.* Ja: es gibt noch, hier und da, vereinzelte Texte, die in diesen Modi arbeiten: aber es sind bewußte Pastiches, Rückgriffe und Zitationen (wie beim Landhauskrimi etwa die Romane von Gilbert Adair; oder in puncto Chonoiserie die "Meister Li und Ochse Nummer Neun"-Trilogie von Barry Hughart). Ein Buch wie Max Dauthendeys "Die Acht Gesichter von Biwasee" ist zwar immer noch denkbar, stellt aber, aufgrund seiner bewußten Aufnahme eines solchen kuriosen Verfahrens vergangener Jahrhunderte, einen "Exotismus zweiter Ordnung" dar.

(* Ein kleines Beiseit: das fünfte des "zehn Gebote", die Ronald Knox 1929 als Dekalog für das Verfassen von Mordgeschichten aufsetzte, lautete: "No Chinaman must figure in the story." Das war den rassistischen Klischees der Unterhaltungskolportage à la Sax Rohmer (The Insidious Dr. Fu Manchu; oder, bei uns völlig unbekannt, Thomas Burkes Limehouse Nights von 1916) geschuldet. Knox führte dazu aus: "ich sehe keinen Grund, warum etwa ein Chinese einen Kriminalroman verderben würde. Aber es ist nun einmal so: wenn man in der Buchandlung ein Buch anblättert und unverhofft auf die 'schmalen, geschlitzten Augen von Ching Loo' stößt, sollte man die Finger davon lassen. Es ist ein schlechtes Buch.")




Daß Lord Dunsany (1878-1956) 18. Earl of Plunkett aus dme tiefsten Irland und einer der Väter des literarischen Modus, das wir heute "Fantasy" nennen, sich in einigen seiner frühen Erzählungen dieser Tropen bedient hat, kann nicht wundernehmen. Dunsanys frühe kurze Erzählungen erfanden das, was wir seit Tolkien als "sekundäre Welt" kennen: einen Erzählkosmos, der in einer irdischen Welt spielt, die aber mit der hiesigen Geschichte und Geographie nichts zu tun hat, in der das Übernatürliche real ist und die Lebensweisen denen der Antike und dem Mittelalter entsprechen. Darüber hinaus spielen viele dieser frühen Texte, zwischen 1905 bis zu seiner sechsten Sammlung, Tales of Three Hemispheres von 1919 auch oft an den Randbezirken der hiesigen Welt, in den Trödelläden und schummrigen Seitengassen Londons, wo die Wirklichkeit durchlässiger wird und man ab und an einen Blick auf die Bereiche "jenseits der Felder, die wir kennen", "beyond the fields we know", erhaschen kann - ohne den Zugang, wenn man ihn aufs neue sucht, je wieder finden zu können (etwa in der Erzählungen "A Shop in Go-By Street" und "The Bureau d'Echange de Maux"). (Daß meine Auswahl auf zwei Texte fiel, die vor ziemlich genau 100 Jahren erschienen sind, ist als ein hübscher Zufall zu nehmen.)

Bei beiden Texten handelt es sich um Erstübersetzungen ins Deutsche.
"An Archive of the Older Mysteries" erschien zuerst in der erwähnten Sammlung Tales of Three Hemispheres, im November 1919 im New Yorker Verlag J. W. Luce erschienen (die englische Erstausgabe folgte im Juni 1920 bei T. Fischer Unwin in London).
"Cheng Hi and the Window Framer" erschien in der Novemberausgabe 1919 der von H. L. Mencken gegründeten amerikanischen Literaturzeitschrift The Smart Set (Bd. LX, Nr. 3) und wurde seitdem nie mehr nachgedruckt oder übersetzt, wie ich der maßgeblichen Bibliographie zum Werk Dunsanys von S. T. Joshi und Darrell Schweitzer (Lord Dunsany: A Comprehensive Bibliography, Rowman & Littlefield, 2013) entnehme.




U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.