14. Mai 2020

Ein Fundstück aus dem Frühjahr 1920

­Es dürfte, zumal im deutschsprachigen nördlichen Nachbarland, nicht wenige Zeitgenossen geben, nach deren Dafürhalten die Boole'sche Kombination der Vokabeln "SCHWEIZ" + "SATIRE" den Begriff der "leeren Menge" trefflich illustriert. Und dennoch: die Schweiz ist heute Heimat der ältesten satirischen, noch bestehenden Zeitschrift der Welt. Der Nebelspalter, 1875 nach dem Vorbild des englischen Punch, or The Modern Charivari als Wochenzeitschrift ins Leben gerufen, erscheint heute, wen auch schon seit geraumen Jahren nur noch im Monatsrhythmus. Und im Nebelspalter erschien von fast genau 100 Jahren, in der Ausgabe 10 des 46. Jahrgangs (der hier auf der Netzseite der ETH Zürich vollständig einzusehen ist) vom Dienstag, dem 6. März 1920, eines jener satirischen Zeitgedichte, die in all den Blättern dieser Gattung, vom Punch selbst über den Münchner Simplicissismus und die Berliner Weltbühne, das A und O des ironischen Kommentars zur Weltlage darstellten, mit denen sich Autoren wie Kurt Tucholsky, Erich Kästner oder Mascha Kaleko (oder auf der anderen Seite des Ärmelkanals etwa der bei uns völlig unbekannte R. P. Lister) ins Gedächtnis der Zeitgenossen eingeschrieben haben.

Unter dem Titel "Die Grippe und die Menschen" hieß es dort:


Als Würger zieht im Land herum
Mit Trommel und mit Hippe,
Mit schauerlichem Bum, bum, bumm,
Tief schwarz verhüllt die Grippe.

Sie kehrt in jedem Hause ein
Und schneidet volle Garben -
 Viel rosenrote Jungfräulein
Und kecke Burschen starben.

Es schrie das Volk in seiner Not
Laut auf zu den Behörden:
"Was wartet ihr? Schützt uns vorm Tod -
Was soll aus uns noch werden?

Ihr habt die Macht und auch die Pflicht -
Nun zeiget eure Grütze -
Wir raten euch: Jetzt drückt euch nicht.
Zu was seid ihr sonst nütze!

's ist ein Skandal, wie man es treibt.
Wo bleiben die Verbote?
Man singt und tanzt, juheit und kneipt.
Gibt's nicht genug schon Tote?"

Die Landesväter rieten her
Und hin in ihrem Hirne.
Wie dieser Not zu wehren wär',
Mit sorgenvoller Stirne:

Und sieh', die Mühe ward belohnt.
Ihr Denken ward gesegnet:
Bald hat es, schwer und ungewohnt,
Verbote nur geregnet.

Die Grippe duckt sich tief und scheu
Und wollte sacht verschwinden -
Da johlte schon das Volks aufs Neu'
Aus hunderttausend Münden:

"Regierung, he! Bist du verrückt -
Was soll has alles heißen?
Was soll der Krimskrams, der uns drückt,
Ihr Weisesten der Weisen?

Sind wir den bloß zum Steuern da,
Was nehmt ihr jede Freude?
Und just zuu Fastnachtszeiten - ha!"
So gröhlt und tobt die Meute.

"Die Kirche mögt verbieten ihr,
Das Singen und das Beten -
Betreffs des andern lassen wir
Jedoch nicht nah uns treten!

Das war es nicht, was wir gewollt.
Gebt frei das Tanzen, Saufen.
Sonst kommt das Volk - hört, wie es grollt,
Stadtwärts in hellen Haufen!"

Die Grippe, die am letzten Loch
Schon pfiff, siie blinzelt leise
Und spricht: "Na endlich - also doch!"
Und lacht auf häm'sche Weise.
"Ja, ja - sie bleibt doch immer gleich
 Die alte Menschensippe!"
Sie reckt empor sich hoch und bleich
Und schärft aufs neu die Hippe.


Oder, um den Satzspiegel des Originals herzusetzen:




Ähnlichkeiten mit Szenen, die sich am letzten Wochende in deutschen Großstädten, von Stuttgart bis Berlin, abgespielt haben, sind selbstredend nicht gegeben.

Bei der "Grippe" handelt es sich natürlich um die Spanische Grippe, die nach ihrem Ausbruch im Frühjahr 1918 weltweit irgendwo zwischen 17 und 50 Millionen Menschen das Leben kostete (beide Werte sind umstritten; die erste genaue epidemische Aufnahme des weltweiten Pandemiegeschehens setzte die Opferzahl 1991 zwischen 29 und 37 Millionen an). .Dabei war die zweite Wellte vom September bis Anfang Dezember 1918 um etliche Größenordnungen verheerender als die erste; die dritte Welle, die vom Frühjahr 1919 bis in den Juni andauerte und hauptsächlich England, Spanien und Mexiko traf, forderte im Vergleich zur zweiten nur etwa ein Drittel der Opfer, aber immer noch das Doppelte jener ersten Welle. Das Gedicht ist ausgelöst von einer befürchteten vierten Welle, nachdem es überall im Februar 1920 zu erneuten lokalen Ausbrüchen kam, die sich auf New York, England, Skandinavien und Österreich beschränkten, keine pandemische Dynamik entwickelten und vergleichweise sehr niedrige Operzahlen forderte. Es wird geschätzt, daß von dieser Pandemie etwa 500 Millionen Menschen, ein gutes Drittel der damaligen Weltbevölkerung betroffen war.

(Ein kleines Seitenstück, da es durchaus Stimmen gibt, die der chinesischen Regierung die Hauptschuld am Ausbruch der Pandemie zuweisen möchten oder ihr gar eine Absicht unterstellen - obwohl die chinesische Regierung die WHO am 30. Dezember davor gewanrt hat und chinesische Forscher das Gnom der Virus bereits am 7. Januar weltweit frei zugänglich publiziert haben - und allen Gesundheitsbehörden auf der gesamten Welt  mit dem Lockdown in Wuhan am 23. Januar die Möglichkeit einer weltweiten Pandemie samt ihren Konsequenzen vor Augen stehen mußte: diesen Leuten sei ins Stammbuch geschrieben, daß es 1918 durchaus Experten gab, die in der Spanischen Grippe eine bewußt eingesetzte biologische Waffe der Deutschen vermuteten.

That America was engaged in a World War provided a convenient target upon which to heap suspicion: the reviled Kaiser and his German countrymen. As thousands of Bostonians fell under the flu’s deadly spell, rumors began to spread almost as fast as the flu itself. One widely accepted notion — outside of the medical profession, that is — had German spies deliberately seeding Boston Harbor with influenza-sprouting germs. Such innuendo was lent credence by statements of individuals who should have known better. On September 17, 1918, Lt. Col. Philip Doane, head of the Health and Sanitation Section of the Emergency Fleet Corporation, forcefully voiced his opinion that the epidemic might have been started by Germans put ashore from U-Boats. Said Doane, “It would be quite easy for one of these German agents to turn loose influenza germs in a theater or some other place where large numbers of persons are assembled. The Germans have started epidemics in Europe, and there is no reason why they should be particularly gentle with America.”)


Wenig frivol, sondern tatsächlich tragisch findet sich ein Echo auf die Zeile "Die Kirche mögt verbieten ihr, /Das Singen und das Beten.." in jener Meldung in der niederländischen Zeitschrift Trouw vom 9. Mai, in der unter der Überschrift "Die ene Passion die wel doorging, met rampzalige gevolgen" ("Die Passion, die weiterging - mit katastrophalen Folgen") von den Konsequenzen einer Generalprobe und eines Bühnenkonzerts für den Amsterdammer "Gemengd Koor" (Gemischter Chor) berichtet. Dies bestätigt die Meldungen aus dem Februar aus Südkorea, wo ein Gottesdienst mit Gesang zum Ground Zero des gravierendsten Clusters wurde.

Het Amsterdams Gemengd Koor zong begin maart Bachs Johannes-Passion, maar de aanvankelijke trots over het mooie concert maakte plaats voor grote verslagenheid. Tijdens de repetities en de uitvoering van die Johannes-Passion sloeg het coronavirus ongemerkt, maar genadeloos toe. Met als gevolg: vier dodelijke slachtoffers en ruim honderd zieke koorleden.

Bei der Generalprobe der Johannespassion infizierten sich am 8. März, fünf Tage vor dem niederländischen Shutdown, bei der Probe in einer Kirche 109 der insgesamt 130 Chormitglieder und ein Großteil des Orchesters; die meisten davon schwer. Das Durchschnittsalter betrug 50 Jahr; ein 78-jähriges Chormitglied und drei Angehörige andererer Chormitglieder haben es nicht überlebt.




Angesichts der immer noch steigenden Fallzahlen, der zwar abgeschächten, aber bislang ungebrochenen Dynamik des Epixdemiegeschehens bleibt nur zu hoffen, daß das Tempo der Lockerungen, wir es jetzt nicht nur bei uns vorgelegt wird, sondern in ganz Europa (Rußland angesichts der sich dort dramatisch verschärfenden Lage ausgenommen), nicht zu voreilig ist - und vor allem, daß die "Coronademonstrationen", die am Samstag, den 9. Mai ihren Auftakt genommen haben, hier nicht zum Auslöser eines weiteren Flächenbrandes werden. (Daß die Grenzschließungen in Nordrhein-Westfalen ab dem 15. Mai "entfallen" sollen, ist sowieso nur sprachliche Kosmetik. De facto findet seit Wochen kleiner Grenzverkehr zwischen etwa zwischen dem Münsterland und den Niederlanden statt; auch die Züge verkehren weiterhin grenzüberschreitend.)

Um aber beim Thema "Gesang" zu enden: Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an eine US-amerikanische Fernsehserie von vor fast zwanzig Jahren, deren Dreh- und Angelpunkt hochriskante Stunts und Torheiten bildeten, bei denen die Darsteller Leib und Leben riskierten (oder zumindest diesen Eindruck hervorriefen) und die erhebliche Kirik auf sich zog, weil befürchtet wurde, die Nachahmung der glücklich folgenlosen Narreteien könne unter den Zuschauern üble Folgen zeitigen. Die in drei Staffeln vom Musiksender MTV produzierte Serie trug den Titel Jackass (zu deutsch etwa mit "Volltrottel" oder "Vollpfosten" deftig aber zutreffend  wiederzugeben). Und die Titelmusik war dem dritten Album der amerikanischen Punkband The Minutemen von 1984 entnommen, und trug den Titel ... "Corona".

Da "Hardcore-Punk" weder die Stilrichtung dieses Netztagebuchs noch die des Referenten darstellt, sei an dieser Stelle die mit Mariachi-Bläsersektion gefälliger ausgefallene Coverversion der Texmex-Combo Calexico als Hymne nahegelegt: "...the people will survive / in their environment..." (Es sei auch nicht verschwiegen, daß mit der "Krone" in diesem Fall weder die im Spanischen wie im Lateinischen so bezeichnete Herrschaftsinsignie, sondern die allbekannte mexikanischen Biersorte gemeint ist: "...I just had a corona".)




















U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.