21. Mai 2020

叶永烈 (1940年8月30日-2020年5月15日). "Vom kleinen Herrn Allwissend zum Smartphone." Zum Tod des Schriftstellers Ye Yonglie

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Zu einer der seltsamen Konstanten von diktatorischen Gesellschaften, von "formierten Gesellschaften" in ihrer rigidesten, den menschlichen Geist rigoros abtötenden Form, in der maximalen Verneinung der menschlichen Freiheit, scheint das formale Verbot der Zukunft zu gehören. Nicht in der Form, daß es sie nicht geben darf - denn totalitäre Sozietäten beziehen ihre ureigenste ideologische Rechtertigung daraus, daß sie - und nur sie - die Zukunft darstellen. Sondern in dem Verbot, von ihr zu erzählen, und sei es nur als utopische Einlösung all der vage beschworenen "lichten Zukunft".

Hierbei scheint eine Nebenbedingung zu sein, daß solche Gesellschaften über eine reichhaltige, über die Jahrhunderte zurückreichende literarische Erzähltradition verfügten, bevor ihnen, um George Orwells Wendung zu zitieren, die Partei "auf immerdar mit dem Stiefel auf das Gesicht eintrat": in Nordkorea unter den Kims wie in Albanien unter Enver Hodscha fehlte das, was man eine "bürgerliche Erzähltradition" nennen könnte: der reiche literarische Assonanzraum aus Lyrik, Epik, Historie und jener einzigartigen Erfindung des menschlichen Gedächtnisses: dem Roman, um sowohl das Abenteuer des Unbekannten, die Hoffnung der alltäglichen Erfahrung und die Teilnahme am Schicksal erdachter Personen in all ihren Facetten in dem aufbewahren zu können, was als mündliche Form der Legende und des Heldenepos begonnen hat.


Wie es der Zufall will (oder auch nicht) kam es in den "drei großen" Staatsformen des Totalitarismus zu einem solchen "Verbot der Zukunft". Im Dritten Reich erfolgte dies im Sommer 1940 durch einen formalen Erlaß der Reichsschrifttumskammer, daß hinfort Büchern mit utopisch/technischem/abenteuerlichen Inhalt kein Imprimatur mehr zu gestatten sei, also jener Art der jugendlichen Lektüre, wie sie am mustergültigsten von Hans Dominik oder Rudolf Daumann bedient worden war. (Es sei nicht verschwiegen, daß es in den Anfangsjahren des Dritten Reichs durchaus noch zur Veröffentlichung dystopischer Texte, also Warnutopien gekommen ist, etwa Paul Gurks Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1 aus dem Jahr 1935 und, als berühmtestem Werk dieser Sparte, Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen von 1939). Für die Sowjetunion Stalins fiel dieses Verdikt in mehreren, rigoros erfolgenden Schritten: von Stalins eigener Verdammung fantastischer, "nichtrealistischer und nichtrevolutionärer" literarischer Sujets 1929 bis zur formellen Lancierung der Strikturen des Kodex des "sozialistischen Realismus" durch Andrej Schdanow auf dem Zweiten Allunionskongreß der Schiftsteller im August 1934. Für das China Maos war der formale Rahmen der erlaubten Sujets durch seine "Reden bei der Tagung in Yünnan über Kunst und Literatur" vom 2. Mai 1942 vorgegeben: Literatur hatte sich einzig dem Dienst der "Revolution" zu widmen; die Ausmalung der Zukunft lenke nur von ihrer Umsetzung ab, und sei, da sie einem festgelegten, von der Partei umgesetzten Plan folge, überflüssig.

Eine gewisse "Löchrigkeit" dieses Verdikts gegen die Ausmalung der Zukunft bildete stets die Emphase, die in diesen technokratisch austarierten Diktaturen auf die Wunder der Ingenieurskunst und die Erkenntnisse der Wissenschaft gelegt wurden. Selbst für das dritte Reich kann man noch - wenn auch an der Peripherie und weitab vom Blick der Berliner Zentrale, nämlich mit Druckort Graz - zwei oder drei "Ingenieursromane" ausmachen, in denen etwa die Entwicklung von Düsenjägern vor der Sabotage amerikanischer und bolschewistischer Spione bewahrt werden müssen. Weiter östlich publizierte seit 1944 Iwan Jefremov seine Erzählungen über Raketenschiffe und außerirdische Besucher in prähistorischer Vorzeit ("Обсерватория Нур-и-Дешт"; Das Observatorium von Nur-i-Descht", 1944 in der Literaturbeilage der Iswestija publiziert), bevor er unmittelbar nach dem "Sputnik-Schock" mit seinem Roman Туманность Андромеды/Der Andromedanebel, gewissermaßen den Startschuß für die sowjetische SF gab. Und für westliche Betrachter wirken die Raketen und Mondstädte, die die Titelbilder der Jugendzeitschrift Техника — молодёжи ("Technik für die Jugend")  in den frühen Fünfziger Jahren schmückten, nachgerade verstörend, so sehr gleichen sie den Bildern, die ältere Leser vieleicht noch von den populären Technikmagazinen wie Mechanix Illustrated her geläufig sind, und die man bei der Rigidität und angesichts der drucktechnischen Dürftigkeit der Publikationen jener Jahre schlicht nicht erwartet hätte.


(Titelbild Tekhnika molodeschi, April 1950)



(Titelbild Tekhnika molodeschi, August 1953)

Für die Volksrepublik China der frühen Mao-Zeit bildeten diese solitäre Ausnahme die Jugenderzählungen von 郑文光, Zheng Wenguang (1929-2003), ab 1954 zur Illustration eben solcher alsbald in Aussicht stehenden technischen Fortschritte publiziert. Bei allen diesen Ausnahmen fällt nun eins ins Auge: sie waren eben dies: Solitär, Ausnahmen; sie begründeten kein Genre, keine Ausfaltung in einer Vielzahl von Texten - und die Auflösung des Gefängnisses erfolgte auf zwei Schienen: dem nicht mehr zu übersehenden tatsächlichen Fortschritt der Technik - in der Sowjetunion und seinem westlichen Vorfeld in Gestalt des über den nächtlichen Himmels ziehenden Lichtpunkt von Sputnik 1 im Oktober 1957 (in Wirklichkeit handelte es sich um die dritte Stufe der Startrakete R7, weil sich die Teleskopantennen des kleinen "Begleiters" beim Aussetzen in der oberen Schanzverkleidung verklemmt hatten; mit bloßem Auge wäre die kleine Kugel mit ihren 60 Zentimetern Durchmesser nicht sichtbasar gewesen). Und es war ein sichgtbares - lesbares Zeichen dafür, daß eine neue Ägide begonnen hatte: kulturell und in dem, was nun "wieder erlaubt" war. Für den Ostblock war dies das "Tauwetter" nach Chrustschows Abrechnung mit den Verbrechen des Stalinismus iim Juni 1956.


Und für die Volksrepublik China zeigte sich ein solches erstes kulturelles Wetterleuchten im August 1978, vier Monate bevor Deng Xiaoping nach der Ablösung Hua Guofengs als Parteivorsitzender im Dezember seine 门户开放政策, die ménhù kāifàng zhèngcè, die "Politik der offenen Tür", der Wirtschaftsreformen mit der Schaffung der ersten Wirtschaftssonderzonen, ankündigte, die China zum ersten Mal in seiner jahrtausendelangen Geschichte aus dem Joch der ewigen Armut erlösen sollte (das war zwar auch das Versprechen des Maoismus gewesen, aber bekanntlich hat der Sozialismus die feudalen, ausbeuterischen, vernichtenden sozialen Strukturen, die er zu überwinden nach eigenem Verständnis angetreten war, in wahrhaft entsetzlicher Form erneut hervorgebracht). In jenem Monat erschien in Pekinger Verlag 少年儿童出版社 / Shàonián értóng chūbǎnshè ("Kinderbuchverlag") ein kleines Büchlein mit dem Titel 小灵通漫游未来 / Xiao Lingtong mànyóu wèilái: Xiao Lingtong erkundet die Zukunft, mit einem Umfang von 122 Seiten, 67.000 Zeichen umfassend und mit schlichten Strichzeichnungen illustriert, die auch Betrachtern, die des Chinesischen unkundig sind, das Opusculum korrekt einordnen lassen: der Protagonist findet sich im Traum mehrere Jahrzehnte in die Zukunft versetzt und bekommt von seinen Traumfreunden die Wunder des frühen 21. Jahrhunderts vor Augen geführt und erklärt. Laut dem Text ist er "Reporter", aber das ist er so wenig wie Tintin, bzw. Tim in der deutschen Fassung von Hergés klassischem Comic, ein Reporter ist; die Bezeichnung ist ein Platzhalter, der der auktorialen Fiktion carte blanche gibt, sein Alter ego in jegliches Abenteuer stürzen zu können. Die tour d'horizon der technischen Neuerungen reicht von bemannten Raumstationen, "künstlichen Monden", die als gigantische Reflektoren in der Erdumlaufbahn die Nachtseite der Erde erhellen, zu Haushaltsrobotern, Kontaktlinsen ("Brillengläsern, die auf dem Auge selbst aufliegen"), fliegenden Autos - jenem unverbrüchlichen Topos einer nahen urbanen Zukunft - tragbaren Bildtelefonen, zielgerecht gemanipulierten Pflanzen, die den Hunger ein für allemal besiegt haben, Wetterkontrolle, künstliche Organe. All dies ist für westliche Leser jener Alterskategorie - etwa 8 bis 12 Jahre - seit den frühen 1950er Jahren "old hat", ein alter Hut. Für die chinesisischen Leser war es augenöffnend. Das Werkchen mit einer Startauflage von 150.000 Exemplaren erreichgte in der ersten Ausgabe bald 1,6 Millionen Exemplare; bis heute steht die Gesamtauflage bei 3,5 Millionen.

 ("'Oh - oh -' Er beginnt zu fliegen. Langsam steigt er bis unter die Decke....")

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Zwei abschweifende Anmerkungen:  
1. Eingangs wurde bemerkt, daß eine literarische Tradition nötig ist, um nach der Unterbrechung durch eine barbarische Zäsur von neuem daran anzuknüpfen. China hat, auch die kulturelle Modernisierung des späten 19. und des frühen 20 Jahrhunderts eingerechnet, praktisch nichts vorzuweisen, was der "Gestaltung der Zukunft" der futuristischen Imagination zuzurechnen ist. Die Ausnahmen lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Was es hingegen gibt - beziehungsweise gab - ist eine reichhaltige Tradition des populären Schrifttums, der "Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten", zumal des wuxia-Genres, der Schwertkämpfer-Erzählungen (die dem westlichen Genre des Westerns in erstaunlich vielen Punkten entsprechen, einschließlich ihrer Entstehung als Erzählgenre in den 1880er und 1890er Jahren), den seichten Liebesschmonzetten der Mandarinenten und Schmetterlinge,  und etwa den Adaptationen der Abenteuer des Großen Detektivs aus der Londoner Baker Street 221B, die 程小青/Cheng Xiaoqing (1893-1976) seinen Shanghaier Ermittler Hao Sang,  霍桑, und seinen leicht begriffstutzigen Adlatus Bao Lang (包朗) ab Ende 1914 in 74 Folgen erleben ließ. An "Zukunftsliteratur" ist das bekannteste (und auch bei uns im Westen geläufige) Beispiel Lao Shes (1893-1966) satirischer Roman 猫城记 / māo chéngjì ("Die Stadt der Katzen") aus dem Jahr 1933, das die chaotischen politischen Verhältnisse der frühen Republikzeit als theriomorphe Persiflage aus dem Mars versetzt. Als "erster chinesischer SF-Roman" gilt 月球殖民地小說 / Yuèqiú zhímíndì xiǎoshuō ("Die Kolonie auf dem Mond") aus dem Jahr 1904, dessen nicht ermittelter Autor unter dem Pseudonym 荒江釣叟, Huangjiang Diaosou schrieb - was schlicht nicht für einen Namen, sondern für "der Fischer vom verborgenen Fluß" steht. Der kurze Roman beschreibt die Abenteuer einer chinesischen Michael Koolhaas, der einen korrupten kaiserlichen Beamten tötet, der sich an seiner Ehefrau vergreifen will, auf der Flucht vom japanischen Erfinder eines lenkbaren Luftschiffes gerettet wird - Jules Vernes Robur le conquerant läßt grüßen (Kapitän Mors, der Held der deutschen Vorkriegs-Groschenheftserie "Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff", der ebenfalls in der Verne'schen Erbnachfolge steht, und dessen geistiger Vater ebenfalls bis heute nicht ermittelt ist, betrat die Bühne des ephemeren Trivialen erst ein paar Jahre später). Nachdem die edlen Rächer an den irdischen Verhältnissen verzweifelt sind, starten sie einen völligen Neuanfang auf dem Erdtrabanten.




(Ill. aus 月球殖民地小說, 1904)

Näher am literarischen Verfahren der "Zukunftsschau im Traum" sind die beiden kurzen Romane 新中國未來記 ("Die Zukunft des neuen China", 1902) des Journalisten und politischen Reformers des späten Qing-Zeit, 梁啟超 / Liang Qichao (1873-1929) und 陸士諤 / Lu Shi'es (1878-1944) Weiterspinnen der darin vorgestellten Ideen in 新中國 / xīn zhōngguó ("Das neue China", 1910). In beiden Texten finden sich die Protagonisten im Traum um ein gutes halbes Jahrhundert in eine lichte Zukunft versetzt, die grell mit den elenden Verhältnissen der Gegenwart kontrastiert. Das Verfahren ist aus Edward Bellamy Looking Backward (1888) bekannt; in beiden (chinesischen) Texten symbolisiert eine Weltausstellung (im Jahre 1951 bei Liang, 1962 bei Lu), die in Shanghai stattfindet, den Aufstieg des "neuen China" zum primus inter pares in der Gemeinschaft der Nationen der Welt; bei Lu findet die Expo nicht zum 150. Jubiläum der ersten Weltausstellung in London statt, sondrn zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Republik, und aus der Gelegenheit der feierlichen Annulierung der "ungleichen Verträge" nach den beiden verlorenen Opiumkriege, die China zum willkürlichen Spielball fremder Interessen von England bis Japan machten.
2. Apropos "was schlicht nicht für einen Namen steht": der Name unseres kleinen rasenden Reporters, 小灵通 / Xiao Lingtong ist nicht nur, wie fast alle chinesischen Eigennamen, sprechend. Als Held eines Kinderbuchs schiebt sich in diesem Fall die wortwörtliche Bedeutung der Zeichen unüberhörbar in den Vordergrund: 小 = klein und 灵通 = "bescheid wissen", "alles kennend". Von daher stammt meine Übertragung als "kleiner Herr Allwissend" im Titel dieses Blogbeitrags.
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Der Hinweis, der weiter oben auf die Bedeutung der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit der Freigabe des spekulativen Genres unter den restriktiven Publikationsmöglichkeiten etwa eines sozialistischen Systems gennant wurde, ist nicht zufällig. Der Autor der Abenteuer von Xiao Lingtong, Ye Yonglie, hatte bis dahin seine Laufbahn als Autor genau in diesem Metier bestritten. Ye, am 30. August 1940 in Wenzhou in der ostchinesischen Provinz Zhejiang, gleich südlich and Shanghai angrenzend, geboren, hatte 1960, ein Jahr nachdem er in Beijing das Studium der Chemie begonnen hatte, damit begonnen, Beiträge für das vielbändige enzyklopädische Jugendlexikon 十萬個為什麼 / shí wàn gè wèishéme ("100.000 Gründe" - wörtlich "hunderttausendmal warum") zu liefern. Der Titel knüpfte an das sowjetische enzyklopädische Sachbuch Сто тысяч почему von Michail Iljin an, das 1934 von in der Übersetzung von Dong Chuncai im Shanghaier Verlag Kaiming erschienen war und bis zum Ende der Republik zehn Auflagen erlebte. Für die erste neunbändige Ausgabe, die sich mit je einem Band den Themen Mathematik, Physik, Chemie, Astronomie und Wetterkunde, Landwirtschaft, Zoologie, Geologie und Gesundheit widmete, lieferte Ye insgesamt gut 300 der jeweils 2000 Zeichen umfassenden Beiträge - ein gutes Drittel des gesamten Textvolumens. (Zwischen 1964 und 1968 erschienen sechs weitere Supplementbände. Im Lauf der Jahrzehnte änderte sich - wenig überraschend - die Ausrichtung des Inhalts; die brachiale politische Propagandaausrichtung mit den zahllosen Zitaten des Großen Steuermanns entfiel Ende der 70er Jahre; im Jahr 2000 stand die Gesamtauflage der damals 10 Bände bei über 100 Millionen Exemplaren. 


(Umschlag von 十萬個為什麼, Band 1, von 1960)


Aus dem Geist dieser kindgerechten Faktenvermittlung schrieb Ye 1961 die erste Fassung seiner didaktischen Erzählung. Zu einer Veröffentlichung konnte es im Klima des "Großen Sprung nach Vorn", dessen katastrophale Hungersnot sich damals auf dem Höhepunkt befand, und in den sich anschließenden Jahren der Kulturrevolution nicht kommen. Erst nach dem Tod Maos, nach der politischen Abrechnung mit der "Viererbande" (die natürlich auch dazu diente, das Prestige, nicht zuletzt die ideologische Rechtfertigung der Kommunistischen Partei, zu retten), konnte er 1977 daran gehen, den Text für eine Publikation vorzubereiten. Der größte Teil des Textes blieb dabei unverändert; die technischen Details und die Beschreibungen der Planeten des Sonnensystems wurden dem neuen Wissensstand angepaßt.
Für etwa 20 Jahre wurde Ye mit diesem, aber auch mit nachfolgenden Texten bis Mitte der 80er Jahre so etwas wie der "Vater der chinesischen SF". Zumeist gehören seine Erzählungen jener Sparte des Genres an: didaktische Texte für junge Leser, meist im Alter bis zu 13 Jahren. Was an Erzählungen in andere Sprachen übertragen worden ist (viele sind es nicht), ist dem schmaleren Corpus der Fiktionen entnommen, die sich an eine ältere Leserschaft richten. Auch unter seiner chinesichen Leserschaft überwiegt der Eindruck, man habe es zwar mit einem verdienstvollen Pionier, aber eben nicht mit einem "richtigen" Autor zu; jemand, der jungen Lesern einen ersten spielerischen Eindruck von den Tropoi, den Themen der spekulativen Literatur vermittelt, aber nicht zu den bedeutenden, gewichtigen Vertretern des Genres zählt: ein Kinderbuchautor in dem auch bei uns geläufigen leicht despektierlichen Sinn. (Damit steht er nicht allein: wer würde etwa im deutschen Sprachbereich Boy Lornsen als "ernsthaften SF-Autor" wahrnehmen, obwohl Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt unzweifelhaft mit den Themen und Versatzstücken des Genres jongliert, auf durchaus gewitzte Weise, und der pädagogische Impetus der spielerischen Wissensvermittlung im Zentrum steht? Im englischen Sprachraum nimmt Eleanor Camerons The Wonderful Flight to the Mushroom Planet aus dem Jahr 1954 eine vergleichbare "peinliche" Stellung ein. Es handelt sich also um eine kulturelle Universalie.)

Der andere Faktor, der wohl dazu beigetragen hat, daß Ye seit Mitte der achtziger Jahre keine Texte mehr verfaßt hat, die sich der SF zurechnen lassen (bis auf zwei Fortsetzungen mit Xiao Longtang von 1986 und 2000, respektive), dürfte nicht nur in der literarischen Marginalisierung zu suchen sein, sondern auch, daß er und sein Werk zum zentralen Ziel der letzten politisch-kultuellen Kampagne der Partei wurden, der 清除精神污染 / Qīngchú jīngshén wūrǎn ("Kampagne gegen geistige Verschmutzung"), die zwischen Oktober und Dedzember 1983 von altmaoistischen Kadern lanciert wurde und versuchte, die Öffnung nach Westen und die Erlaubnis "dekadenter", "bürgerlicher" Einflüsse brachial zu unterbinden - zu denen mit nur die Lieder Teresa Tengs, sondern eben auch die Zukunftsspekulationsliteratur gehörten. Dengs Machtwort vom Februar 1984 setzte dem ein Ende.  Ye selbst sah im nachhinein Aspekte grimmiger Ironie in dieser unerfreulichen Episode. Als einen der Belege, daß spekulative Literatur falsches Wissen promulgiere, hatte ein Paläontologe Ye erste Erzählung im Genre nach der Kulturrevolution angeführt, 石油蛋白 / shíyóu dànbái ("Das Erdöl-Ei") aus dem Jahr 1976, in dem aus einem im Ölschiefer der Mongolei erhaltenen Dinosaurier-Ei Erbsubstanz für ein Klon-Projekt gewonnen wird (Michael Crichtons "Jurassic Park" erschien im englischen Oroginal erst 1990) Ye verwies darauf, daß genau ein solches Projekt, in just derselben Weltgegend, von chinesischen Wissenschaftlern 1995 in Angriff genommen wurde. Die chinesische SF erhielt dadurch einen Rückschlag, von dem sie sich erst wieder im Lauf der 1990er Jahre erholt hat. Diese Zäsur hat unter anderem dazu geführt, daß es, mit Ausnahme eben Yes, im Bewußtsein der heutigen Genreleser kaum eine Kontinuität zwischen jener "alten Garde" und den heute das Genre bestimmenden Autoren gibt. 
Die gut 50 Buchtitel in Yes Bibliographie seit jener Zeit zeigen, zumeist für ein junges Publikum geschrieben, Lebensbeschreibungen von Politikern aus der kommunistischen Frühzeit, auch von chinesischen Wissenschaftlern, aber auch Reiseberichte (sein letzter Eintrag in seinem persönlichen Netztagebuch beschreibt "drei Besuche bei Elon Musks Tesla-Werken im kalifornischen Silicon Valley"). 

(Titelbild der allerersten in Westen publizierten Anthologie mit chinesischen SF-Erzählungen, 1984 bei Goldmann in Rahmen der Reihe "Die positiven Utopien" erschienen und 7 Erzählungen aus den Jahren 1979 bis 1981 umfassend. Von Ye findet sich darin die Novelle 腐蚀 / Fushi ("Zersetzung") aus dem Jahr 1981.)


(Eine kleine ironische Adnote: SF-Autoren, deren Metier die Zukunftstechnik darstellt, stehen notorisch mit dieser, wenn sie denn vor der Tür steht, auf Kriegsfuß. Isaac Asimov, Vater der Roboter und Univacs,  konnte sich während der letzten Jahrzehnts seines Lebens nicht mit dem Gedanken der Textverarbeitung anfreunden; Stanislaw Lem, geistiger Vater von Trurl und Klapaucius, Ersinner der Robotermärchen und Autor der "Summa Technologiae", hat sich in seinem letzten Deznniums auf Erden wie ein Rohrspatz über die Barbarei des Internets ausgemährt ("niemand kann das alles lesen!"). Ye hat sich 2014 in einem Interview über Windows 8 beklagt: zu viel unnützer Firlefanz: "für einen Autor wie mich ist Windows XP ideal."

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Zum Thema Zäsur und Zensur wäre ein letztes Beispiel zu nennen: 1986 verfaßte Ye einen kurzen Roman, auch diesmal für eine jugendliche Leserschaft, der sich als erster Text in der Volksrepublik überhaupt mit der AIDS-Problematik befaßte: 爱之病  / ài zhī bìng ("Die Liebeskrankheit") und dem Kampf eines Ärzteteams in der südlichen Provinz Yünnan dagegen. Obwohl die Novelle zur Veröffentlichung (für die Yangcheng-Abendnachrichten) angenommen war, wurde die Publikation kurzerhand von der Zensur unterbunden, mit der Begründung: "in China gibt es kein AIDS" - und ein solcher Text wurde nur einen falschen Alarm schüren und Zweifel an der Politik der Partei wecken, der es bislang gelungen sei, die "dekadente", "dem westlichen Lebensstil" geschuldete Seuche aus China fernzuhalten. Bei allen Vorbehalten gegenüber der staatlichen Zensur war dies, was die Sachlage betraf, womöglich nicht einmal falsch: nach den offiziellen chinesischen Gesundheitsstatistiken wurden zwischen 1985 und 1989 insgesamt 22 HIV-Infektionen registriert, davon 18 bei eingereisten Auslandchinesen. Zwanzig Jahre später, 2007, schrieb Ye aus dem Rückblick dazu für Sina.blog im Blick auf die AIDS-Problematik in China: "...aber China ist zum Glück ein großes Land, und ich konnte ausweichen. Ich reichte den Text bei 成都晚报 (Chengdu-Abendnachrichten) ein, und sie druckten die 100.000 Worte zwischen Juli und September 1986 ab, ein Jahr später erschien er mit drei anderen Erzählungen in einem Sammelband mit dem gleichen Titel."
 
(爱之病, Titelbild der Ausgabe von 2010 bei 贵州大学出版社 /Guizhou Universitätsverlag, 211 S.)
 
(Literarisch ist die AIDS-Problematik in China mit Yan Liankes dokumentarischem Roman 丁庄梦 / Dīng zhuāng mèng ("Der Traum des Dorfes Ding"; die 2009 bei Ullstein erschienene deutsche Übersetzung trägt den Titel "Der Traum meines Großvaters") verbunden, der sich mit den entsetzlichen Folgen der 血浆经济 /Xiějiāng jīngjì ("Blutplasma-Wirtschaft") beschäftigt, bei der zwischen 1991 und 1995 zum Aufbau einer landesweiten Blutbank rund drei Millionen arme Dorfbewohner an einem Blutspendeprogramm gegen gute Bezahlung teilnahmen und durch eklatante Hygienemängel (Nichtsterilisierung von Nadeln) und das Außerachtlassen elementarer Testverfahren möglicherweise bis zu 40 Prozent der Spender mit HIV infiziert wurden.) Yans Roman ist in der Volksrepublik nach der Erstpublikation nie wieder aufgelegt worden; aber eine Filmfassung unter dem Titel 最爱 / Liebe zum Leben unter der Regie von Gu Changwei kam 2011 in die chinesischen Kinos. (Und nein: Die Wege der chinesischen Zensur sind nicht nur dem Protokollanten, sondern auch allen chinesischen Bürgern selbst ein ewigwährendes Welträtsel.)
Als finales Beispiel sei Yes Bericht über die Verhältnisse in Nordkorea genannt. Auf Betreiben der Regierung in Pjöngjang wurde sein Buch 真实的朝鲜 / zhēnshí de cháoxiǎn ("Das wirkliche Nordkorea") 2008 von der Zensur in der Volksrepublik verboten.

(Ye Yonglie, Ende der siebziger Jahre in Shanghai.)

Am 15. Mai ist Ye Yonglie im Alter von 79 Jahren in Shanghaier Distrikt Yangpu gestorben.

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PS. Der "kleine Herr Allwissend" wurde weiter oben erklärt. Wie aber kommt nun das "Smartphone" in den Titel? Ganz einfach: im Chinesischen (genauer: im Mandarin) ist das, was wir mit dem englischen Neologismus als "schlaues Telefon" zu benennen pflegen, und das im Chinesischen die technische Bezeichung 智能手机 / zhìnéng shǒujī (zusammengesetzt aus 智能 / "klug", tja: smart eben, und 手机 /  "Mobiltelefon") trägt,  in den letzten gut 15 Jahren umgangssprachlich, gemäß unserem "Handy", als eben 小灵通 / xia lingtang, "kleiner Alleswisser" geläufig geworden - wohl nicht ohne Remineszenz an die literarische Vorlage und, so steht zu vermuten, mit einem Anklang an das englische "ringtone."
 
So kann's gehen...




U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.