20. April 2020

G. K. Chesterton, "Spargel" (1914)

Da die Spargelzeit, nicht zuletzt aufgrund des Streit um die Ausnahmegenehmigungen für saisonale Erntehelfer aus Osteuropa zu Zeiten von Corona vor kurzem ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt ist, und weil dieser Saison gerade im Münsterland, in dem ich dies schreibe, ein nachgerade liturgischer Rang zukommt, hier ein Beitrag zum Thema vom Vater des legendären Detektivs Father Brown und nach Oscar Wilde dem größten Meister des Paradoxen, Gilbert Keith Chesterton (soweit ich dies sehe, in deutscher Erstübersetzung), aus einer Zeit unmittelbar vor der Zäsur des Ersten Weltkriegs herübergrüßend, der die Weltordnung des Alten Europa unter sich begrub.

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"Spargel"

Heute mittag, ungefähr um einundzwanzig Minuten nach zwei, wurde mir mit einem Mal klar, daß der Spargel das wahre Geheimnis des Adels ist. Ich war gerade dabei, mir eine lange Stange davon zum Mund zu führen, als mir diese Erkenntnis durch den Kopf schoß (und der Spargel sein Ziel verfehlte). Ich meine damit keineswegs nur eine metaphorische und triviale Gleichsetzung, die sich natürlich anbieten würde. Wir könnten den Schluß ziehen, daß am Ende das Korpus tot und weiß ist, und nur ein kleiner Fleck ganz oben noch grün sprießt. Es ließe sich die Moral daraus ziehen, daß die Aristokratie doch erheblich stärker ist, als uns erzählt wird, und die Spargelstangen zum Sinnbild dafür nehmen. Angeblich soll eine Spargelstange durchaus dazu taugen, einen Hund zu prügeln - aber hat das schon jemals jemand ernsthaft mit einem wirklichen Hund versucht?  Wir könnten die Lehre ziehen, daß die  Traditionen des Adels für beliebter galten, als sie jemals waren. Die Geschichte strotzt von Mißverständnissen: "Normannisch" gilt heutzutage als "Englisch"; aus französischen Leoparden wurden englische Löwen. Und in gleicher Weise wurde das ernste Wort "Spargel" (englisch "asparagus") im Volksmund zu "sparrowgrass" (wörtlich "Spatzengras"), das gleich zwei der pittoreskesten Sachen der Welt bezeichnet. Asparagus, von dem ich mal vermute, daß es sich um den Namen eines römischen Prokonsuls handeln dürfte, Marcus Asparagus Esculens oder ähnlich, hat das Glück nicht verdient, seine Wurzeln einzubüßen und zu so alltäglichen und rechtschaffenen Dinge zu mutieren wie den dreisten Stadtvögeln und der grünen Demokratie des Feldes. Wir könnten natürlich auch noch darauf verweisen, daß Spargelstangen oft die Köpfe verlieren und für Aristokraten dasselbe gilt. Beider Köpfe sind oft unter dem Messer gefallen. Nur hinkt dieser Vergleich - wir müßten, um im Bild zu bleiben, behaupten, daß der Kopf den besten Teil der Adligen ausmachte: eine leicht gewagte Hypothese. Aber ich will gar nicht auf solche Vergleiche aus dem Reich der Redewendungen hinaus. Der Spargel wurzelt tiefer im Erdreich.   

Die wahre Essenz der Aristokratie besteht darin, ihrer Zeit voraus zu sein. Das bedeutet, daß sie über etwas verfügen muß, das nur wenigen Auserwählten bekannt ist. Es muß eine Losung, ein Schlüsselwort, ein Paßwort geben, um dazuzugehoren; es muß sich dabei um etwas Neues handeln. Weiterhin muß es unvernünftig, irrational, unsinnig sein: alles Vernünftige könnte von den Nichteingeweihten schnellstens verstanden und nachgemacht werden. Aus dem gleichen Grund, weil solche gesellschaftlichen Gebräuche einen Rangunterschied kennzeichnen, müssen solche Gebräuche (zumindest, was ihre Funktion angeht), künstlich, unnatürlich sein. Man darf sie nur aus demselben Grund kennen, aus dem ein Soldat seine Parole kennt: weil sie ihm mitgeteilt worden ist.

Das bekannteste Beispiel für uns, die wir die Mittelklasse ausmachen, ist die alte, ganz willkürliche Art, die festlegt, wie man Spargel zu essen hat. Abgesehen von Kannibalismus und der Gewohnheit, Sand zu essen (mit der ich mich nicht auskenne): gibt es wirklich nichts auf der Welt, das sich weniger dazu eignet, mit den Fingern gegessen zu werden als Spargel. Er ist lang; er ist klebrig; er neigt zu jeder Art von plötzlichen und weichen gastronomischen Unglücksfällen; er wird stets mit einer öligen Soße serviert; die Beherrschung des Spargelessens setzt die Fähigkeiten eines Jongleurs voraus und die Kunst, eine eingeseifte Kletterstange zu bewältigen. Kaltes Fleisch könnte man schlicht mit den bloßen Fingern essen; zur Not sogar nur mit den Zähnen. Mir ist selten ein edler Käse untergekommen, bei dem ich nicht dem Drang verspürt habe, meine Zähne hineinzuschlagen. Kartoffeln könnte man mit den Fingern so gut essen wie Ostereier, und Whitebait (*) könnten wir uns genausogut mit einem Maschinchen in den Mund schaufeln lassen, ohne sie mit Messer und Gabel zu sezieren. Fischstäbchen könnte man so einfach verspeisen wie Sesamstäbchen. Rührkuchen ist von einer Substanz, die beinahe buntem Marmor gleichkommt; sauberer, härter und gleichförmiger als jedes Brot oder jeder Zwieback. Aber von all dem wird erwartet,, daß wir uns mit Hilfe eines kleinen Schwerts und eines stumpfen Dreizacks darüber hermachen. Nur dieses anstrengende, wackelnde Gemüse muß ich essen, indem ich es mir zwischen Finger und Daumen klemme. Ich könnte besser als Giraffe eine Palme abgrasen; die muß wenigstens nicht festgehalten werden.

Wir wollen nicht übertreiben. Suppe mit den Finger zu esssen ist keine Übung für Anfänger, und Soßen, Pudding, und sogar Curry eignen sich eher nicht für direkte Handarbeit. Gedünsteten Rhabarber würde ich niemals mit den Fingern anfassen (und auch mit keinem anderen Instrument, das das menschliche Ingenium je erfinden wird). Mir ist nicht einmal alles genehm, was mit Sirup zu tun hat. Aber, um alle Übertreibung und Leichtfertigkeit mal beiseite zu lassen, möchte ich doch festhalten, daß Spargel von allen Nahrungsmitteln das ist, das am wenigsten zu den bloßen Fingern paßt. Anders gesagt: diese Eßgewohnheit ergibt sich nicht auf natürlichem Weg; sie erschließt sich nicht der Vernunft; sie ist kein Ausfluß menschlicher Instinkte. Es handelt sich eben nicht um Gewohnheit; es handelt sich um Etikette.

Das Wesen der menschlichen Natur führt im Lauf der Zeit dazu, daß sich alles ihr unterordnet. Aus dem Grurnd ist eine privilegierte Klasse, wenn sie sich denn nicht alsbald wieder im Rest der Übrigen wiederfinden will, darauf angewiesen, fortwährend Neues zu ersinnen: neue Ausgaben, neue Ziele, neue Kulturen, neue Moden, neue Röcke und Strumpfbänder. Sie muß jeden Tag eine neue Geschichte erzählen oder vergehen, wie die Erzählerin in Tausendundeiner Nacht. Tennyson, der zuviel von diesem aristokratischen - oder snobistischen - Futurismus in sich trug, schrieb "Lest one good custom should corrupt the world" - was letzten Endes bedeutet: damit nicht jedermann lernt, wie man Spargel richtig ißt. Und aus diesem Grund, aus Überfluß und Verschwendung und Langeweile, ist das Fieber, das auf den Namen Fortschritt hört, in die Welt entsprungen.

Was höre ich da? Daß Spargel heute nicht mehr mit den Fingern gegessen wird? Ob ich nicht weiß, daß man in den besten Häusern bezaubernde kleine Forken für jeden Tischgast vorhält? Ob ich nicht gehört hätte, daß Spargel heutzutage am Faden hängend in den offenen Mund versenkt wird, oder mit einer Tischkanone hineingeschossen, oder mit den Zehen gegessen wird, oder gar nicht mehr gegessen wird? Nein: davon weiß ich nichts, und genau darum geht es mir hier. Sie haben das Paßwort geändert.

("Asparagus", erschienen in der Wochenzeitschrift New Witness am 29. Juni 1914. Ü.: U.E.)

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* "Whitebait" ist eine gerade im Englischen nicht seltenen Vokabeln, bei denen man als Übertrager vor eine Gewissensfrage gestellt wird: Traduttore, traditore. Es gibt keine handliche Übertragung; das Original ist nicht geläufig, und knappe Ersetzungen treffen den gemeinten Kern nicht völlig. Es handelt sich um ganz junge Fischlein ("Junge Sprotten" würde sich also anbieten), fast noch durchsichtig, mit einer Länge unter 50 Millimetern, die keinen Mageninhalt aufweisen und als Ganzes gegessen werden.

The New Witness war eine Wochenzeitschrift, die 1912 von Gilbert Keith Chestertons jüngrem Bruder Cecil (1879-1918) gegründet wurde und deren Herausgeberschaft G.K. übernahm, nach sich Cecil 1914 zum englischen Militärdienst gemeldet hatte; nach dessen Tod führte er sie bis zu ihrer Einstellung 1923 weiter; das Nachfolgerprojekt, G.K.'s Weekly, von 1925 bis 1938, also zwei Jahren nach seinem eigenen Hintritt publiziert, kann als nahtlose Fortsetzung angesehen werden. (Der Tennyson-Vers findet siich übrigens in La Morte d'Arthur; Tennysons Versuch, Malorys mittelenglisches Epos 1871 den viktorianischen Befindlichkeiten anzupassen; diese Versuche der Gründerzeit waren nicht nur im Englischen durch die Bank peinliche Mißerfolge; für den deutschen Sprachbereich könnte man hier an Robert Hamerling denken, für Frankreich an Victor Hugos La legende des siècles, für die USA an Longfellows patriotische Balladen. Schon Chesterton selbst merkte an, daß unser Bild des viktorianischen Zeitalters vor allem durch die Kritiker geprägt wurde, die Dichter und Autoren, die diese Verhältnisse vehement ablehnten und dagegen opponierten.)

Im Englischen ist "asparagus", also die lateinische Form, seit dem elften Jahrhundert belegt; die alten Lateiner hatten es ihrereits aus dem Griechischen (asparagos/aspharagos) übernommen; im späten Mittelenfgflischen verschliff sich der Anlaut zu asparages, mit dem "falschen" Singular aspergy für die einzelne Spargelstange; zur Zeit Shakespeares war es zu sperach oder sperage mutiert. Im Zug der Gelehrtentradition der elizabetanischen Zeit setze sich in Adel und oberem, also Bildungsbürgertum die lateinische Form wieder durch; wurde aber im Volksmund durch die übliche Volketymologie zu dem von G.K.C. erwähnten "sparrowgrass", im 17. Jhdt. geläufig wurde. Samuel Pepys notierte am 20. April (!) 1667 in seinem Tagebuch: "So home, and having brought home with me from Fenchurch Street a hundred of sparrowgrass, cost 18d." John Walker vermerkte 1779 in seinem Critical Pronouncing Dictionary and Exposition of the English Language: "Sparrow-grass is so general that asparagus has an air of stiffness and pedantry." Im neunzehnten Jahrhundert schlug das Pendel wiederum zurück, und asparagus ist seit 150 Jahren der Standard, während sparrowgras als Kindersprache gilt.

Zur Kultivierung dieses Gemüses findet sich, um auf den römischen Prokonsul zurückzukommen, hilfreiches im ältesten erhaltenen längeren Prosatext in lateinischer Sprache, in De agri cultura von Cato Maior, dem Älteren, abgefaßt um das Jahr 175 v.Chr., in dem es im Abschnitt 161 heißt:
Asparagus quo modo seratur. Locum subigere oportet bene qui habeat humorem aut loco crasso; ubi erit subactus, areas facito, uti possis dextra sinistraque sarire, runcare, ne calcetur; cum areas deformabis, intervallum facito inter areas semipedem latum in omnes partes; deinde serito ad lineam palo, grana bina aut terna demittito et eodem palo cavum terrae operito; deinde supra areas stercus spargito bene; serito secundum aequinoctium vernum. Ubi erit natum, herbas crebro purgato cavetoque ne asparagus una cum herba vellatur; quo anno severis, sum stramentis per hiemem operito, ne praeuratur; deinde primo vere aperito, sarito runcatoque. Post annum tertium quam severis, incendito vere primo; deinde ne ante sarueris quam asparagus natus erit, ne in sariendo radices laedas. Tertio aut quarto anno asparagum vellito ab radice. Nam si defringes, stirpes fient et intermorientur. Usque licebit vellas, donicum in semen videbis ire. Semen maturum fit ad autumnum. Ita, cum sumpseris semen, incendito, et cum coeperit asparagus nasci, sarito et stercorato. Post annos VIII aut novem, cum iam est vetus, digerito et in quo loco posturus eris terram bene subigito et stercorato. Deinde fossulas facito, quo radices asparagi demittas. Intervallum sit ne minus pedes singulos inter radices asparagi. Evellito, sed circumfodito, ut facile vellere possis; caveto ne frangatur. Stercus ovillum quam plurimum fac ingeras; id est optimum ad eam rem; aliud stercus herbas creat.
(Da ich den Lesern dieses Netztagebuches flüssige Kenntnisse des Lateinischen zutraue, erspare ich mir die Übersetzung; daß Spargel früh gesetzt werden muß, daß es darauf ankommt, daß der Boden trocken ist und auf keinen Fall nass sein darf; daß ein Pflanzloch mit einem Pflock in den Boden gebohrt wird und dies um die Zeit der Frühlings-Tagsundnachtgleiche erfolgen muß, das zum Ernten der Korpus von der Wurzel gerupft werden muß, es also gilt, die Erde darumso aufzugraben, daß die Stange nicht abbricht, dürfte dem Text spielend zu entnehmen sein. Für diei Römer war Spargel eines der wichtigsten Gemüse in ihrer Küche; heutzutage ist übrigens der größte Spargelproduzent der Welt China, das mehr als 85% der Welternte einbringt.)

Um noch einmal auf den Prokonsul Marcus Asparagus Erculens zurückzukommen: hier irrt Chesterton. Es handelt sich mitnichten um einen hohen Würdenträger, sondern um einen Zenturio einer der zu Caesars Zeiten im nordwestlichsten Winkel der Provinz Gallia transalpina stationierten Legionen.. Gewissenhafte historische Quellenforschung hat uns mittlerweile sogar das einzige Konterfei dieses verdienstvollen Mannes im Korpus des antiken Schrifttums zugänglich gemacht:



U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.