17. November 2019

Maurice Baring, "Venus"

Da im vorigen Eintrag der Name Charles Cros fiel, und das Thema die Kontaktaufnahme mit dem Mars war, sei als Ausgleich die Traumvariante aus dem Umzirk der Jahrhundertwende vom inneren Schwesterplaneten Venus hierhergesetzt.

Die Unmöglichkeit, mit irdischen Teleskopen einen Blick durch die undurchdringliche Wolkendecke zu werfen und Genaueres über die Verhätlnisse auf ihrer Oberfläche zu erfahren, haben ihr in der phantastischen Literatur immer einen zweiten Platz hinter dem roten Planeten zugewiesen. Svante Arrhenius' Mutmaßung von 1915, daß es sich um eine ins Extrem gesteigerte Variante der "grünen Hölle" der tropischen Regenwälder handeln können (aufgrund der größeren Sonnennähe) - "everything on Venus is dripping wet," schrieb er.


We must therefore conclude that everything on Venus is dripping wet…A very great part of the surface of Venus is no doubt covered with swamps, corresponding to those on the Earth in which the coal deposits were formed…The constantly uniform climactic [sic] conditions which exist everywhere result in an entire absence of adaptation to changing exterior conditions. Only low forms of life are therefore represented, mostly no doubt belonging to the vegetable kingdom; and the organisms are nearly of the same kind all over the planet. The vegetative processes are greatly accelerated by the high temperatures.


(The Destiny of the Stars, 1918, New York: G. P. Putnam's Sons; im Original Stjärnornas Öden, 1915)

Diese Vision war den Autoren der Pulp-Magazine, allen voran Edgar Rice Burroughs, ein Geschenk, aufgeladene Dschungelabenteuer unter einer "primitiven" Tier- und Eingeborenenwelt spielen zu lassen. Für eher symbolistisch gestimmte Autoren der vorhergehenden Generation blieb der symbolische Gehalt einer "Welt der Liebe" anziehender.

*     *     *

Charles Cros - "Sonnet astronomique" (1873)

Alors que finissait la journée estivale,

Nous marchions, toi pendue à mon bras, moi rêvant
À ces mondes lointains dont je parle souvent.
Aussi regardais-tu chaque étoile en rivale.

Au retour, à l'endroit où la côte dévale,
Tes genoux ont fléchi sous le charme énervant
De la soirée et des senteurs qu'avait le vent.
Vénus, dans l'ouest doré, se baignait triomphale.

Puis, las d'amour, levant les yeux languissamment,
Nous avons eu tous deux un long tressaillement
Sous la sérénité du rayon planétaire.

Sans doute, à cet instant deux amants, dans Vénus,
Arrêtés en des bois aux parfums inconnus,
Ont, entre deux baisers, regardé notre terre.


"Astronomisches Sonett" (1873)

Wir gingen, als der Sommertag verglomm,
Du hingst an meinem Arm. Ich träumte von den fernen
Welten, von denen ich so gerne rede
Und weckte in dir Eifersucht zu allen Sternen.

Und auf dem Rückweg, wo das Land in Klüften
zum Meer abfällt, die Knie vom Abendzauber weich
Badete, in Gold getaucht, die Venus in den Lüften.
Des Abendwinds und seinen sachten Düften.

Und matt vor Liebe sahn wir auf; angesichts
Des Zaubers. Mit ermatteter Gebärde
Verweilten wir lang in der Ruhe ihres Lichts.

Und zweifellos steht auf der Venus gerade jetzt
Ein Paar im Wald, von unbekanntem Duft ergötzt
Und schaut zwischen zwei Küssen auf zu unserer Erde

*     *     *

Maurice Baring - "Venus" (1909)

John Fletcher war ein kleiner, mit Arbeit überlasteter Beamter in der Verwaltung eines Ministeriums. Er führte ein einsames Leben, und er führte es, seitdem er ein Junge gewesen war. In der Schule hatte er sich so gut wie nicht mit seinen Mitschülern abgegeben, und er hatte nichts übrig für die Dinge, die sie interessierten, für Sport und Spiele. Andererseits (obwohl er durchaus das war, was man "fleißig" nennt) machte er sich nichts aus Büchern. Maschinen aller Art faszinierten ihn, und in seiner Freizeit war er mit Experimenten beschäftigt oder sah den Zügen nach, die auf der Great-Western-Linie verkehrten. Einmal sengte er sich die Augenbrauen ab, als er mit explosiven Chemikalien hantierte, auf seines Händen zeigten sich immer dunkle, geheimnisvolle Flecken, und sein Zimmer sah aus wie die Klause eines Alchemisten aus dem Mittelalter: voller Retorten, Flaschen und Reagenzgläsern. Noch vor dem Schulabschluß baute er eine Flugmaschine (schwerer als Luft), und der gescheiterte Startversuch auf der Hauptstraße brachte ihm viel Spott und Häme ein.
          Nach dem Abschluß studierte er in Oxford. Dort war sein Leben so einsam wie vorher. Der schmutzige, ungepflegte kleine Junge mit den Tinten- und Chemikalienflecken wurde zu einem dünnen, aufgeschossenen, nachlässig gekleideten Mann, der sich völlig von den anderen fernhielt - nicht weil er für seine Mitmenschen Abneigung oder Verachtung hegte, sondern weil er ganz von seinen eigenen Gedanken in Beschlag genommen war und ihn eine Grenze aus Träumen von der Welt ausschloß.
      Sein Studium in Oxford verlief gut, und im Anschluß danach trat er in Regierungsdienste und übernahm einen Büroposten in der Verwaltung eines Ministeriums. Dort blieb er so allein wie zuvor. Er erledigte seine Aufgaben schnell und ordentlich, denn trotz seiner äußerlichen Nachlässigkeit verfügte er über einen scharfen Verstand, und erwies sich als guter Bürokrat, obwohl er mitunter wichtige Angelegenheiten infolge seiner Zerstreutheit vergaß.

Seine Kollegen hielten ihn für einen Spinner und eine Witzfigur; aber es gelang keinem von ihn, ihn näher kennenzulernen oder sein Vertrauen zu gewinnen. Sie fragten sich, was Fletcher in seiner Freizeit trieb, welchen Hobbies er nachging - falls er denn welche hatte. Sie vermuteten, daß Fletcher ein ganz spezielles Interesse hatte, das ihn ganz in Beschlag nahm, weil er den Eindruck eines Schlafwandlers erweckte, der sich wie ein Mechanismus, ein Automat bewegt. In anderen Umständen, anderswo, mußte er bestimmt erwachen und Interesse an irgendetwas oder irgendjemandem nehmen.
          Falls sich jemand die Mühe gemacht und ihm nach Dienstschluß zu seinem kleinen Zimmer in den Canterbury Mansions gefolgt wäre, hätte eine Überraschung auf ihn gewartet. Denn wenn er nach einem anstrengenden Arbeitstag aus dem Büro heimkehrte, blätterte er nur in einem Buch, das Konstruktionszeichnungen und Baupläne von Lokomotiven und anderen Maschinen enthielt. Und am Sonntag nahm er einen Zug zu einem der großen Bahnhöfe, verbrachte den ganzen Tag damit, den Schnellzügen nachzusehen, und kehrte abends nach London zurück.
          Eines Tages, als er etwas früher als üblich vom Büro heimkam, erhielt er einen Anruf. Er hatte kein eigenes Telephon in seinem Zimmer, aber er konnte den öffentlichen Fernsprecher benutzen, der vor dem Haus stand. Er betrat die kleine Telephonzelle und mußte feststellen, daß die Vermittlung die Verbindung getrennt hatte. Er vermutete, daß der Anruf aus dem Büro gekommen war, also fragte er bei der Vermittlung nach der Rufnummer. Währenddessen fiel sein Blick auf ein Reklameplakat, das über dem Fernsprecher hing. Es war eine Zeichnung in Schwarzweiß, auf der die Vorzüge einer Seife mit dem Namen "Venus" angepriesen wurden: eine Dame im klassischen Stil, die ein Opernglas in der einen und ein Stück jenes wunderbaren Toilettenartikels in der anderen Hand hielt, stand im Mittelpunkt eines Kreises, der von züngelnden Strahlen umgeben waren und der zweifellos den hellsten aller Planeten darstellen sollte.
          Fletcher setzte sich auf das Bänkchen und nahm den Hörer zur Hand. In diesem Augenblick hatte er den Eindruck, daß der Boden unter seinen Füßen nachgab und er einen Abhang hinabstürzte. Aber bevor es klar und eindeutig wurde, hörte der Eindruck des Fallens auf. Er schüttelte sich, als wäre er aus dem Schlaf erwacht, und einen Moment schien es, als er ob sich an die Träume der vergangenen Nacht erinnerte, bis sie ohne spurlos verblichen. Er sagte sich, daß er einen langen und seltsamen Traum gehabt hatte, und wußte, daß es zu spät war, sich an ihn zu erinnern. Dann öffnete er die Augen und blickte sich um.
          Er stand auf einem Hügel. Unter seine Füßen befand sich eine Art grünes Moos, das unter seinen Tritten federte. Es war hier und da mit roten, wächsernen Blüten gesprenkelt, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er befand sich auf einer weiten Ebene, unter ihm ersteckten sich ein Wald von riesigen Pilzen, größer als ein Mensch. Hinter ihm erhob sich eine Mauer aus dichter Vegetation, und über all dem spannte sich eine graue, dichte Wolkendecke, die im Schein eines fernen weiß-silbrigen Lichts schimmerte.
          Er ging auf die Vegetation zu, und fand sich bald in einem Wald, oder vielmehr einem Dschungel wieder. Links und rechts wuchs Pflanzengewirr; lange Schlingpflanzen mit großen blauen Blüten hingen herab. Im Wald herrschte tiefe Stille; keine Vögel sangen und im Unterholz war nicht das leiseste Rascheln zu hören. Es war bedrückend heiß, und die Luft war von einer schweren, duftenden Süße. Ihm war, als befände er sich in einem Treibhaus voller Gardenien und Stephanotis. Zu gleicher Zeit war ihm die Atmosphäre überaus angenehm: weder seltsam noch abstoßend. Er fühlte sich in diesem schimmernden Dschungel und dem heißen, schwer duftenden Dämmerlicht zuhause, als ob er dort sein ganzes Leben verbracht  hätte.
          Er ging automatisch weiter, als ob er auf ein bestimmtes Ziel zuhalten würde. He ging schnell, aber trotz der drückenden Atmosphäre und der dichten Vegetation wurde es ihm weder heiß noch stickig. Ganz im Gegenteil fand er Gefallen an der Bewegung, und die heiße Luft schien ihn zu beleben. Er beinahe drei Stunden, wählte sorgfältig den Weg, vermied manche Stellen und hielt auf andere zu: er hatte einen bestimmten Weg und ein bestimmtes Ziel. Während der ganzen Zeit unterbrach kein Laut die Stille, und er begegnete keinen´m lebenden Wesen, weder einem Tier noch einem Vogel
          Nach ein paar Stunden wurde die Vegetation lichter, der Dschungel öffnete sich, und von einer Lichtung aus konnte er vor sich einen Berg ausmachen, der ganz von Bänken von schweren, grauen Wolken verhangen war. Er setzte sich auf den grünen Bewuchs, der wie Gras und doch zugleich kein Gras war, am Rand der Lichtung, die ihm diese Aussicht bot, und pflückte (es schien ihm ganz natürlich) vom Zweigen eines Baum einer rote, saftige Frucht und aß sie. Dann sagte er zu sich (er hätte nicht sagen können, wieso), daß er keine Zeit verlieren durfte und weitermußte.
          Er nahm einen Pfad zur Rechten und lief den Dschungelhang mit weiten, federnden Schritten, fast rennend, hinab; er kannte den Weg, es ob er ihn schon tausend Mal gegangen wäre. Er wußte, daß er gleich einen ganzen Hain von roten Blumen erreichen würde, und er wußte, daß er sich nach rechts halten mußte, wenn er ihn erreichte. So war es: bald tauchten die roten Blüten vor ihm auf. Er bog ab, und hinter dem spärlicher werdenden Bewuchs sah er eine freie Ebene, auf der mehr Pilze standen. Aber die Ebene schien weiter entfernt, und die Pilze wirkten kleiner.
          "Ich werde rechtzeitig da sein." dachte er. Er ging eine weitere halbe Stunde weiter; jetzt waren die Pilze nahe. Unter unter ihnen konnte er jetzt deutlich grüne, große Lebewesen ausmachen, die gewaltigen Raupen mit glühenden Augen glichen. Sie bewegten sich langsam und schienen friedlich, Hinter ihnen erstreckte sich eine flache Ebene aus grünen Halmen wie Weizen oder Hirse, nur höher und dünner.
          Er lief weiter, und jetzt, direkt vor ihm, vor seinen Füßen, bewegten sich die grünen Raupen. Sie waren so groß wie Leoparden. Als er sich näherte, schienen sie ihm Platz zu machen, und sich um die dicken Stämme der Pilze in Gruppen zu sammeln. Er folgte dem Pfad, den sie ihm für ihn freigemacht hatten, im Schatten der breiten Schirme der gigantischen Pilze. Es war fast ganz dunkel geworden, aber es fiel ihm nicht schwer, seinen Weg zu finden. Sein Ziel war die grüne Ebene. Der Boden war mit Raupen bedeckt; sie schienen so zahlreich wie Ameisen in einem Ameisenhügel, aber sie schienen sich weder an ihren Artgenossen noch an ihm zu stören; sie schienen ihn nicht einmal wahrzunehmen. Er fühlte weder Überraschung noch Erstaunen über sie.
          Es wurde dunkel; das einzige Licht in dieser Welt glomm in den Augen der sich langsam bewegenden Raupen, die wie kleine Sterne leuchteten. Die Nacht war um nichts kühler als der Tag. Die Atmosphäre war genauso feucht, dicht und schwer duftend wie zuvor. Er ging weiter und weiter, fühlte keine Spur von Müdigkeit oder Hunger, und immer wieder sagte er zu sich selbst: "Ich werde rechtzeitig da sein." Die Ebene war flach, und mit Pilzen bestanden, deren Dächer sich überlappten und ihm die Sicht auf den dunklen Himmel nahmen.
          Schließlich nahm die Pilzebene ein Ende und er erreichte die hohen grüne Halme, die sei ziel gewesen waren. Jenseits der Wolken leuchtet wieder ein silberner Schimmern auf. "Ich komme gerade rechtzeitig," sagte er sich. "Die Nacht ist zu Ende, die Sonne geht auf."
          In diesem Moment entstand ein gewaltiges Schwirren in der Luft, und aus den grünen Halmen erhoben sich Millionen riesiger Schmetterlinge mit weitgespannten Flügeln in jeder Farbe und Schattierung - silbern, golden, violett, braun und blau. Manche trugen dunkle Samtflügel wie Schillerfalter oder der rote Admiral, andere waren durchscheinend und schillernd wie Libellen. Andere glichen enormen pelzigen, silbrigen Motten. Sie stiegen aus der ganzen Ebene auf, und stiegen zum grauen Wolkenland auf, in dem sie verschwanden.
          Fletcher war dabei, loszulaufen, als er eine Stimme an seinem Ohr sagen hörte:
          "Ist dort Victoria 6493? Sie sprechen mit dem Innenministerium -"

*     *     *

In selben Moment, in dem er die Stimme des Büroboten hörte, fand sich Fletcher abrupt in seiner gewohnten Umgebung wieder, und das seltsame Erlebnis, das so lang gedauert gedauert zu haben schien und in Wirklichkeit so kurz war, verblich zu kaum mehr als etwa einer Tagträumerei, wenn man über etwas nachgedacht hat oder etwas auf der Straße, etwa eine Reklame, betrachtet hat und das Verstreichen der Zeit nicht bemerkt hat.
          Am nächsten Tag kam er ins Büro zurück, und seine Kollegen bemerkten, daß er die ganze folgende Woche hindurch seine Arbeit fleißiger und gewisserhafter erledigte als je zuvor. Dennoch wurde nahmen seine Anfälle von Geistesabwesenheit an Häufigkeit und Stärke zu. Einmal legte er dem Direktor der Abteilung ein Schriftstück zur Unterzeichnung vor, und nahm er anschließend nicht wieder an sich, sondern schaute nur starr vor sich hin, und erst als sein Chef ihn dreimal laut mit Namen angesprochen hatte, kam er wieder zu sich und schien wieder Herr seiner selbst.Da sich diese Zwischenfälle häuften, fragte er einen Arzt um Rat, der ihm erklärte, er benötige Luftveränderung, und ihm dazu  riet, seine Sonntage in Brighton oder einem ähnlichen Ort mit frischer Seeluft zu verbringen. Fletcher hielt sich nicht an den Rat des Arztes: er verbrachte seine Freizeit wie bisher -  indem er einen der großen Bahnhöfe aufsuchte und den ganzen Tag den Schnellzügen nachsah.
          Eines Tages, als er damit beschäftigt war - es war Sonntag, der 19. August 19--, als die Ägyptische Ausstellung große Besuchermassen anzog - und er, wie gewohnt, auf einer Bank auf dem Bahnsteig von Slough Station saß, fiel ihm ein Inder auf, der den Bahnsteig entlang auf und ab ging und ihm ihm ab und zu einen Blick zuwarf, als ob er mit ihm sprechen wollte. Nach einiger Zeit kam er näher und setzte sich auf die gleiche Bank, und nachdem sie ein paar Minuten schweigend nebeneinander gesessen hatten, machte der Inder eine Bemerkung über die Sommerhitze.
          "Ja," sagte Fletcher, "es ist anstrengend, vor allem für Leute wie mich, die jetzt im Sommer in London bleiben müssen."
          "Sie arbeiten bestimmt in einem Büro," sagte der Inder.
          "Ja."
          "Und Sie machen bestimmt viele Überstunden."
          "Wir haben keine langen Arbeitszeiten," sagte Fletcher, "und ich könnte mich nicht beklagen, wenn ich nicht... nun, ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich glaube, man nennt es 'Nervenleiden.'"
          "Ja," sagte der Inder. "Das konnte ich an ihren Augen erkennen."
         "Ich neige zu Geistesabwesenheiten," sagte Fletcher, "und es wird schlimmer. Im Büro vergesse ich manchmal zwei oder drei Minuten lang, wo ich bin, die Kollegen fangen an, darüber zu tratschen. Ich habe einen Arzt um Rat gefragt, und er hat gemeint, ich bräuchte Luftveränderung. Nächsten Monat nehme ich meinen Jahresurlaub, und vielleicht gönne ich mir etwas Luftveränderung, aber ich glaube nicht, daß es mir nützen wird. Aber diese Anfälle sind lästig, und einmal ist mir etwas wirklich Seltsames passiert."
          Der Inder zeigte großes Interesse und fragte nach näheren Einzelheiten dieser merkwürdigen Erfahrung, und Fletcher erzählte ihm alles, an das er sich erinnern konnte. - denn das meiste war verblaßt - als er in jener Nacht telephoniert hatte.
          Der Inder dachte eine Weile nach, als er diese Geschichte gehört hatte. Schließlich sagte er: "Ich bin kein Arzt. Ich bin nicht einmal das, was Sie einen Quacksalber nennen würden - ich bin nur ein schlichter Zauberkünstler, und verdiene mein Geld mit Zaubertricks und Wahrsagerei auf der Messe, die gerade in London stattfindet. Aber obwohl ich nur ein armer Mann und nur ein unwissender Mann bin, habe ich ein wenig Ahnung, einen leichten Anhauch von altem Wissen, und ich kann ihnen sagen, was mit Ihnen los ist."
          "Und was ist mit mir los?" fragte Fletcher.
        "Sie haben die Macht - oder ETWAS hat diese Macht," sagte der Inder, "Sie von Ihrem irdischen Leib zu trennen, und Ihr Astralleib hat einen anderen Planeten besucht. Nach Ihrer Beschreibung glaube ich, daß es sich um den Planeten Venus handelt. Es kann sein, daß es Ihnen noch einmal passiert, und für einen längeren Zeitraum - einen viel längeren."
          "Kann ich etwas dagegen tun?" fragte Fletcher.
        "Nichts," sagte der Inder. "Sie können es mit Luftveränderung versuchen, aber," setzte er mit einem Lächeln hinzu, "ich glaube nicht, daß es Ihnen viel nützen wird."
          In diesem Moment lief ein Zug in den Bahnhof ein, und der Inder verabschiedete sich und stieg ein.
          Als Fletcher am nächsten Tag, am Montag, ins Büro kam, ergab sich die Notwendigkeit für ihn, zur Erledigung eines Auftrags das Telephon benutzen zu müssen. Als er den Hörer abhob, erinnerte er sich eindringlich an alle Einzelheiten jener Abend, an dem ihm jenes seltsame Erlebnis widerfahren war. Die Reklame für die Venus-Seife, die in der Telephonzelle gehangen hatte, stand ihm lebhaft vor Augen, und während er an sie dachte, schien es ihm wieder, als würde er einen Sekundenbruchteil fallen, und als er sich die Augen rieb, fand er sich in der grüne, feuchten Atmosphäre einer fremden Welt wieder.
          Diesmal befand er sich nicht in der Nähe des Waldes, sondern am Meeresufer. Vor ihm ersteckte sich ein graues Meer, glatt wie eine Öllache, aus der Dampfschwaden aufstiegen, und hinter ihm dehnte sich die grüne Ebene in die wolkenverhangene Ferne. Fern am Horizont konnte er die schattenhaften Umrisse der ihm gut bekannten Riesenpilze ausmachen, und auf der Ebene, die hinter dem Strand begann, konnte er die großen grünen Raupen sehen, deren endlose Herde sich langsam und gemächlich bewegte. Die Wellen brachen sich mit einem leisen Dröhnen auf dem Sand. Aber fast zur gleichen Zeit vernahm er ein anderes Geräusch, dessen Ursprung er nicht ausmachen konnte, und das er kannte. Es war ein leises, pfeifendes Geräusch, und es schien vom Himmel zu kommen.
          In diesem Augenblick wurde Fletcher vom einer unerklärlichen Panik erfaßt. ER fürchtete sich vor etwas; er wußte nicht, was es war, aber er war sich absolut sicher, daß eine Gefahr - keine vage Bedrohung, sondern eine akute Gefahr - über ihm drohte, in greifbarer Nähe - etwas, vor dem es zu fliehen galt, schnell zu fliehen galt, wenn er sein Leben retten wollte. Und doch war nirgends ein Zeichen für eine Gefahr auszumachen: vor ihm war das graue, regungslose Meer, hinter ihm die leere, schweigende Ebene. In diesem Moment bemerkte er, daß die Raupen verschwanden, als ob sie in sich in die Erde eingraben würden. Sie waren zu weit entfernt, als daß er ausmachen konnte, was genau geschah.
          Er begann, am Strand entlang zu laufen. Er lief, so schnell er konnte, aber er wagte nicht, sich umzudrehen. Er lief vom Strand in Richtung der Ebene, von der ein weißer Nebel aufzusteigen begonnen hatte. Alle Raupen waren verschwunden. Das Pfeifen hielt an und wurde lauter.
          Schließlich erreichte er den Wald und stürzte weiter, trat lange Gräser nieder und kämpfte sich durch die dicke, dampfende Dämmerung der endlose Pfade. Er kam an eine kleine Lichtung, auf der der Stamm eines Baumes von ungewöhnlicher Größe aufragte; er verschwand in der Höhe zwischen den Gewirr der Lianen. Er versuchte, den Baum zu ersteigen, aber der Stamm war zu breit, und seine Anstrengungen vergeblich. He konnte keinen Laut vernehmen, aber er fühlte, daß die Gefahr, was immer es auch sein mochte, ganz nah war.
          Es wurde dunkler und dunkler. Im Wald herrschte die Nacht. Er stand gelähmt vor Furcht; es war, als ob er an Händen und Füßen gefesselt wäre, aber es blieb ihm nichts übrig, als zu warten, bis der unsichtbare Feind ihm seinen Willen aufzwang und ihn vernichtete. Und doch war die Agonie dieses dumpfen Wartens so entsetzlich, daß er das Gefühl hatte, daß in ihm etwas nachgeben mußte, wenn sie noch einen Augenblick weiter anhielt...und gerade als ihm der Gedanke kam, daß keine Ewigkeit länger dauern könnte als jeder dieser Augenblicke, die er durchmachen mußte, überkam ihn eine gesegnete Ohnmacht. Er erwachte aus ihr, als ihn ein Bürobote an der Schulter faßte, der ihn sagte, er habe ihn zwei oder drei Mal angerufen, ohne daß er geantwortet hätte.
          Fletcher erledigte seinen Auftrag und ging nach oben ins Büro. Seine Kollegen fragten ihn, was passiert sei, denn er war aschfahl. Er erklärte ihnen, er habe Kopfschmerzen und fühle sich nicht wohl, und beließ es dabei.
    Diese letzte Erfahrung änderte seine ganze Lebenseinstellung. Seine früheren Geistesabwesenheiten hatten ihn nicht beunruhigt, und seine erste merkwürdige Erfahrung hatte ihn nur vage interessiert - aber jetzt war es anders. Er fürchtete sich vor einer erneuten Wiederholung. Er wollte um keinen Preis in diese grüne Welt, zu diesem öligen Meer zurückkehren, er fürchtete sich vor dem pfeifenden Geräusch, und davon, von einem unsichtbaren Feind verfolgt zu werden. Diese Angst belastete ihn so sehr, daß er sich weigerte, das Telephon zu benutzen, um nicht die Kette der Assoziationen loszutreten, die mit dem furchtbaren Erlebnis verbunden waren.
          Kurze Zeit darauf nahm er seinen Urlaub und verbrachte ihn, wie ihm der Arzt geraten hatte, am Meer. Während dieser Wochen war er wohlauf; nicht ein Mal wurde er von den seltsamen Anfällen heimgesucht. Als er im Herbst nach London zurückkehrte, fühlte er sich frisch und ausgeruht.
          An seinem ersten Tag im Büro wünschte ihn ein Freund am Telephon zu sprechen. Als er hörte, daß man für ihn am Apparat sei, zögerte Fletcher kurz, dann ging er zum Fernsprechbüro hinunter.
          Er blieb zwanzig Minuten fort. Schließlich fiel seine Abwesenheit auf, und man suchte nach ihm. Man fand ihn steif und ohne Bewußtsein in der Telephonzelle; er war über dem Tisch zusammengesunken. Sein Gesicht war bleich, und in seinen aufgerissenen Augen lag ein Ausdruck von absolutem, namenlosem Entsetzen. Man rief einen Arzt, und er erklärte, Fletcher sei an einem Herzanfall gestorben.

*     *     *


H. P. Lovecraft, "Evening Star" (1930)

I saw it from that hidden, silent place
Where the old wood half shuts the meadow in.
It shone through all the sunset’s glories—thin
At first, but with a slowly brightening face.
Night came, and that lone beacon, amber-hued,
Beat on my sight as never it did of old;
The evening star—but grown a thousandfold
More haunting in this hush and solitude.

It traced strange pictures on the quivering air—
Half-memories that had always filled my eyes—
Vast towers and gardens; curious seas and skies
Of some dim life—I never could tell where.
But now I knew that through the cosmic dome
Those rays were calling from my far, lost home.

"Abendstern"
Ich sah ihn von der still versteckten Stelle
An der die alten Bäume an die Wiese grenzen
Zuerst nur matt im Abendrot aufglänzen
Doch nach und nach mit immer größerer Helle.
Die Nacht fiel - und das bernsteingelbe Licht
Fesselte mir wie nie zuvor die Sicht.
Der Abendstern - er strahlte weit
Geheimnisvoller durch die stille Einsamkeit.

Sein Licht ließ Bilder in der kühlen Luft entstehen
Von Türmen. Gärten, fremden Firmamenten, Seen
- Erinnerungen, die tief in mir schliefen
An ein versunkenes Leben, ein vergessenes Geschehen.
Jetzt wußte ich, daß aus den Weltraumtiefen
Die Strahlen mich aus der verlorenen Heimat riefen.

*     *     *

Charles Cros Sonett erschien zuerst in der Sammlung Le Coffret de Santal (Das Sandelholzkästchen) von 1873.
Maurice Barings (1874-1945) kleine Erzählung "Venus" erschien zuerst in der Sammlung Orpheus in Mayfair (1909) und wurde in Half a Minute's Silence and Other Stories (1925) nachgedruckt.
"Evening Star" ist das vorletzte der 36 Sonette, die H. P. Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 unter dem Sammeltitel "Fungi from Yuggoth" schrieb, von denen etwa die Hälfte in den folgenden Jahren in Weird Tales und in Lokalzeitungen in seiner Heimatstadt Providence, Rhode Island, erschienen. "Evening Star" erschien zuerst in der ersten Gesamtpublikation des Zyklus in der Sammlung Beyond the Wall of Sleep 1943 im Verlag Arkham House.

(Alle drei Übertragungen gehen auf das Konto des Endunterfertigten.)
U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.