9. Mai 2019

Waldkampf



Wenn man nachts im Traum in einem Buch liest... 

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Klong! Kalong! Plonk! Hier ist Schang Kloot, und er kommt die Treppe hinab gekollert, gebeugt von der Last der EU und geplagt vom Ischias, den Kopf voran, eine Stufe nach der anderen. Soweit ihm bekannt ist, ist das die einzige Art und Weise, nach unten zu gelangen. Manchmal scheint es ihm, als ginge es auch anders, wenn ihm das Gepolter nur einen Moment Zeit lassen würde, darüber nachzudenken. Und dann wieder scheint es alternativlos. Als er und die EU ganz unten angekommen waren, weil es nicht mehr tiefer ging, setzte er sich langsam auf, hielt seinen schmerzenden Kopf und sagte zu sich: 

"Aua! Pu! Ich muß mir für diese EU wirklich etwas einfallen lassen. Das wird nicht leicht für einen Bären von sehr geringem Verstand, wie ich es bin. Aber es bleibt mir wohl keine Wahl. Pu!" Und so wollen wir ihn im Weiteren auch nennen.


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Als Christopher Robin am Nachmittag in den Hundermorgenwald kam, saß Pu vor dem Eingang seiner bescheidenen Hütte und hielt sich noch immer den Kopf. Mit seinem Nachdenken war er nicht weit gekommen, und er blickte traurig vor sich hin. Christopher Robin fragte ihn nach dem Grund, und Pu erzählte es ihm. Daraufhin lachte Christopher Robin laut und sagte: "Dummer alter Bär! Ich weiß, was du brauchst und was dich ablenken wird."

"Erzähl!" sagte Pu.

"Wir müssen einen Waldkampf machen!" sagte Christopher Robin. "Einen großen Waldkampf, für den ganzen Wald!" "Wieso?" fragte Pu und schaute sich um. "Wir haben doch einen Wald. Warum sollten wir darum kämpfen?" "Das verstehst du nicht," sagte Christopher Robin. "Wenn wir darum kämpfen, haben wir ihn am Ende wirklich, wenn wir gewinnen. Dann gehört er uns, und niemand kann ihn uns wegnehmen." "Aber was ist, wenn wir verlieren?" fragte Pu. "Wir richten es so ein, daß wir gar nicht erst verlieren können," sagte Christopher Robin zu ihm. Er hatte am Morgen in der Schule von Waldkampf und Waldzetteln gehört, und es schien ihm eine aufregende Sache zu sein, auch wenn er manche komplizierten Wörter wie Repräsentation und Gewaltenteilung nicht wirklich verstanden hatte. 

"Und wie sollen wir so einen großen Waldkampf machen?" fragte Pu weiter. Christopher Robin wußte es auch nicht. Aber er wußte jemanden, der es bestimmt wissen würde. "Wir fragen Äule!" sagte er. "Sie ist die Klügste im Hundertmorgenwald, und sie weiß immer Bescheid bei Dingen, die uns zu hoch sind."

Äule war wirklich klug. Sie konnte bis drei zählen, weil sie ein Matheabitur hatte, und sie konnte "Wald" V-A-L-T buchstabieren. Sie blickte alle in der Runde, zu der sie gebeten worden war, der Reihe nach scharf an, als hätte sie ihre Brille vergessen (sie hatte ihre Brille vergessen), plusterte das Gefieder und räusperte sich: "Das Wichtigste," begann sie, "das Wichtigste bei einem Waldkampf ist, daß wir viele Waldplakate aufhängen. Ganz viele. Am besten so viele, daß man den Wald vor lauter Waldplakaten nicht mehr sieht. Dann wissen alle, daß wir einen Waldkampf abhalten. Laßt mich das nur machen. Und wenn wir dann noch darauf schreiben, was wir wollen, wissen alle auch, worum es uns geht, und wer wann und wo für wen stimmen möchte und warum das so ist." Die vielen schwierigen Wörter mit w- verwirrten sie ein wenig, und sie blickte wieder in die Runde, während sie überlegte, wie es weitergehen sollte.

"Aber was haben wir davon, wenn wir uns all diese Mühe geben? Was bekommen wir dann, was wir jetzt noch nicht haben?" fragte Kaninchen. Es war im Wald allgemein als hartleibiger Skeptiker bekannt, und man sagte ihm nach, daß es nicht einmal an den tiergemachten Klimawandel glaubte. "Das verstehst du nicht!" sagte Äule streng zu ihm. "Wenn wir einen Waldkampf machen und gewinnen, können wir bestimmen, was im Wald passiert. Und niemand sonst kann uns da hereinreden." "Und wie bestimmen wir das, was wir bestimmen möchten?" fragte Kaninchen weiter. "Ganz einfach: wir stellen etwas mitten in den Wald, und wenn niemand protestiert, gilt es. Und dann stellen wir einfach mehr davon in den Wald. Und dann noch mehr, und immer so weiter." "Auch Honigtöpfe, die gefüllt werden sollen?" fragte Pu. "Gerade auch Honigtöpfe, die gefüllt werden sollen!" sagte Äule. "Wir wollen ja alle etwas davon haben. Und dann gründen wir noch eine Präsidentschaft, und bilden eine Kommission und setzen Gremien ein, die für die Normierung von Honigtöpfen zuständig sind. Und auf diese Weise werden wir am Ende alle davon profitieren."

"Aber was ist, wenn jemand uns nicht wählen will?" fragte Kanga, während sie versuchte, Klein Ruh im Auge zu behalten, die unbändig um die versammelte Gesellschaft herumhüpfte. Äule wiegte bedenklich den Kopf. "Das darf auf keinen Fall passieren!" sagte sie und senkte die Stimme. "Wir dürfen nicht vergessen, alle zu warnen. Dann gewinnen nämlich die ---" Sie schaute in die Runde und machte eine Pause - "..die anderen!" "Welche anderen?" fragten alle. "Die, nun, die ... nun, etwa die Hungern."

"Hungern? Hunger kenne ich," sagte Pu und dachte an die Honigtöpfe in seiner Speisekammer. Konnte es sein, daß Hungern etwa auch Heißhunger nach Honig antrieb? Ihm war klar, daß er sich auf keinen Fall diesem Risiko aussetzen durfte.

"Und, schlimmer noch," fuhr Äule flüsternd fort, "die ... Blaumiesen!"

"Blaumiesen?" Ferkel machte entsetzt eine Raute und tat einen Sprung rückwärts. "Ja!" sagte Äule. "Sie sind ganz besonders gefährlich! Sie sind überall!" Klein Ruh fragte interessiert: "So wie CO2-Moleküle? Ich kann sie sehen! Sie sind ÜBERALL!" "Genau so!" bestätigte Äule. "Deswegen ist es ja so wichtig, daß wir gewählt werden." Christopher Robin fragte: "Was genau führen sie denn Böses im Schilde?" Er hatte diese Wendung in einem Buch gelesen und war froh über die Gelegenheit, sie anwenden zu können. "Sie sind -  Waldfeinde! Sie wollen den Wald abschaffen!"

Angespornt von diesen entsetzlichen Aussichten war der Waldkampf ein voller Erfolg. Bald gab es keinen Baum mehr, an dem nicht Äules Waldplakate dem Unheil wehrten. Der Wald ist die Lösung! war da zu lesen. Wir sind für den Wald! oder auch: Wir sind für noch mehr Wald! Unser Wald sichert Frieden! Unser Wald macht stark! 

Im sumpfigsten Winkel des Waldes stand wie üblich I-Ah im Wasser, das ihm bis an den grauen Bauch reichte, betrachtete sein Spiegelbild unter sich und ließ die langen Ohren hängen. "Gebt euch keine Mühe," sagte er mit trauriger Stimme zu Pu. "Die Blaumiesen werden nicht gewinnen, sosehr ihr euch auch anstrengt." "Das liegt nur daran, daß du nicht genderfluid genug bist und dich nicht entscheiden kannst. Du hast keinen Schwanz mehr, obwohl du genagelt worden bist," sagte Pu zu ihm. "Aber wenn wir gewinnen, stehen dir alle Optionen offen." Und zur Aufmunterung pappte er ihm ein Plakat auf die graue Flanke, auf dem Wald ist kuhl! zu lesen stand. "Nein," sagte Kanga zu Klein Ruh. "Ab jetzt wird nur noch für den Wald gehüpft, nicht mehr für das Klima. Selbst Freitags. Das gilt auch für Tieger."

"Aber wie wollen wir denn wählen?" fragte Christopher Robin. "Die meisten von euch können nicht schreiben. Oder gar einen Stift halten." "Das ist einfach," erklärte Pu. "Wir spielen Pu-Stöckchen mit Verschärfung: alle Kandidaten werden ins Wasser geworfen, und wer es schafft, über Wasser zu bleiben, bekommt einen Sitz im Parlament. Ich glaube, man nennt das Chancengleichheit." Aber trotz der Geschäftigkeit, die den Hundertmorgenwald erfüllte, beunruhigte ihn etwas. Etwas fehlte ihm, er wußte aber nicht, was. Er versuchte, wie üblich vor sich hin zu summen, aber es fiel ihm nichts wirklich Passendes ein. Er sagte es zu Ferkel, das neben ihm durch den Wald stapfte, und zu Äule, als sie wieder bei Pus Hütte angelangt waren, über deren Eingang sie gerade #Walokahl #fettwiegugelhautz gemalt hatte.

"Ich glaube, du hast recht," sagte Äule. "Was der Wald braucht, damit er ein richtiger Wald ist, und damit alle Hungern und Blaumiesen ihn nie davontragen, ist eine Hymne." "Was ist eine Hymne?" fragte Pu. "Eine Hymne ist etwas, das man singt, wenn man nicht mehr weiterweiß," sagte Äule. "Wenn etwa ein Schiff mit einem Eisberg zusammengestoßen ist und untergeht, oder -" (fuhr sie schnell fort, weil Ferkel wieder ein entsetztes Gesicht machte) "wenn Pepperland von den Fab Four vor den Blue Meanies bewahrt ---" "Ich verstehe kein Wort!" sagte Pu. "Das ist unwichtig!" gab Äule zur Antwort. "Wir sind jetzt in der Politik, und da braucht man von dem, was man tut oder sagt, überhaupt nichts zu verstehen. Ich glaube, ich habe hier noch etwas, das für unsere Zwecke geeignet ist." Und sie suchte aus einer wurmstichigen Kiste ein vergilbtes Blatt hervor, das sie dem künftigen Präsidentenpaar vorsichtig überreichte.

Der Waldtag wurde, wie nicht anders zu erwarten, ein voller Erfolg. Zwar wußte niemand genau zu sagen, ob es nun am Gehüpfe gelegen hatte, daß der Dürresommer in Springfluten ertrunken war und der Wald unerreichbar von der Außenwelt grünte und sproßte wie nie zuvor, oder ob Äules Hymne wirklich die Unaussprechlichen in die Flucht geschlagen hatte. Aber um sicherzugehen, wurde noch lange nach Mitternacht von allen Kehlen das neue Lied angestimmt: "Und lange klingt's im Walde noch: Salamander lebe hoch!"



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Soweit die kraus onirische Traumwirklichkeit. Im realen Leben findet dergleichen selbstredend nicht statt.



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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.