Welchen stimmigen Ersatz gibt es für den umstrittenen Begriff „christliches Europa“? Es existiert noch das poetische Relikt „die Seele Europas“, aber das wirkt peinlich und überholt. Vielleicht die vagen Bezeichnungen „Europas ideelles Band“, „ideelle Substanz“? Da fehlen aber die Migranten, der Pluralismus. „Wertekosmos“ klingt ungeografisch und opahaft. „Wirtschaftsgemeinschaft“ wäre realer – aber das Leben ist bunter und hässlicher: Gemeinschaft auch mit Armen, mit Kinderehen, Genitalverstümmelungen und Antisemiten? Niemanden ausgrenzen – eine Utopie? Oder der Biss eines „europäischen Gewissens“? Am einfachsten ist es, man spricht nur abstrakt von einer „Identität Europas“. Ein Lokal ohne aushängende Speisenkarte.
2050 werden die Europäer nur noch 6 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Ihre Werte Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Trennung von Staat und Religion, Solidarität und Friede könnten, wenn sie hier in Europa überzeugend gelebt und mit den Migranten geteilt sind, in aller Welt gültig werden.
„Christliches Abendland?“
Die derzeitige Kritik an diesem nicht mehr schmückenden Beiwort ist berechtigt. Die Kirchenaustritte befördern einen europäischen, menschlichen Wert: die Ehrlichkeit. Das Beibehalten des Aufklärungsmärchens, die Menschenrechte, die Abschaffung der Sklaverei, die Freiheit der Wissenschaft habe Europa gegen die Kirche durchsetzen müssen, ist oberflächlich und undifferenziert.
Es ist so unhistorisch wie die verbreitete Millionenzahl der getöteten ‚Hexen‘ (im Kirchenstaat, wo die Folter verboten war, nur 30 Personen) und so ins Gegenteil gefälscht wie das kulturelle Urteil über die Vandalen.
Europa hat zwar seine evangelikalen Christen verfolgt und vertrieben. Aber es hat auch in der großkirchlichen Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft mit dem Gottesbezug ein unerhört ehrwürdiges Menschenbild herausgestellt, das trotz aller Kränkungen durch seine Infragestellung (Stäubchen im Weltall, nackter Affe …) an der Menschenwürde ‚Ebenbild Gottes‘ festhält.
Germanische Mythen
Es ist merkwürdig, dass man als die Wurzeln Europas mit dem Stichwort „Athen“ die Vernunft der alten Griechen reklamiert und mit „Rom“ das Rechtsdenken und die Technik der Straßen und sich, wegen Auschwitz, aber immer noch etwas verschämt, mit dem Stichwort „Jerusalem“ auch daran erinnert, dass das Christentum ein Import aus dem „Morgenland“ ist.
Wir sollten unsere deutschen Wurzeln vergleichen, z. B. das Nibelungenlied. Da geht es vor allem um Rangstreit, Gewalt und Rache. Das eingeführte Christentum ist peinliche Randfigur: Streit, wer der zwei Frauen als erste durch die Kirchentüre treten darf, Ehe mit einem Barbaren um des Zweckes willen, die eingeladenen Verwandten alle umbringen zu können, Ertränken des Kaplans als Opfer für die glückliche Überschreitung der Donau, mehr ist bei diesen Christgermanen nicht zu sehen.
Natürlich muss man auch das friedlichere Gudrunlied danebenstellen, in dem der Firnis des christlichen Gebots der Versöhnung am Ende stärker ist als das die „Panzer viel zerhauen“. Aber zwischen den zwei Weltkriegen zitiert ein 1938 gestorbener Berliner Professor als Schluss seiner Einleitung zum Gudrunlied in Sperrdruck den alten Rachedurst des grimmen Wate: „Doch wenn einst die Jugend dieses Landes zu Männern herangewachsen sein wird, dann kommt der Tag der Rache!“ und verheißt: „Es ist, als spräche der alte Kämpe zu dem Geschlecht unserer Tage…“
12 Sterne aus Israel
Das Christentum hat freilich nicht immer praktiziert, was es lehrte: die Freiheit von Sklaverei und Sünde. Aber das alte Griechenland kannte nicht einmal den Begriff Sünde. Nicht Körperkult oder Erotik, sondern die griechische Tragödiendichtung zeigt es. Das Christentum besaß lange die Hefe der Judenchristen und damit das Ziel eines selbstverantwortlichen messianischen und heiligen Volkes. Das neue Jerusalem sollte, nach dem Schlussbuch im Neuen Testament, auf die Erde herabkommen: 2 400 km in Länge, Breite und Höhe, so groß wie, aber anders als das Römische Weltreich.
Paulus konnte die Sklaverei nicht abschaffen, aber sie in den Gemeinden zur Bruderliebe umwandeln. Das römische Imperium griff, nach etwa 30 000 christlichen Märtyrern, zu den Christen, um das Reich von den Christen retten zu lassen. Christliche Philosophen entdeckten den Personbegriff, weil sie formulieren mussten, wie der weltferne Gott auf Erden sprechen könne in einem jüdischen Menschen, der für den Geist und Willen Gottes – und für uns - starb. Voltaire hat die Indianerdörfer der Jesuiten als einzige gelungene sozialistische Utopie bezeichnet (später hat er die paternalistische Leitung gerügt, natürlich, es gab nur kaum zwei gebildete Patres pro Siedlung). Benediktinische Mönche haben uns als Abschreiber in ihren Bibliotheken die antike Literatur erhalten. Mönche haben auch das neue wissenschaftliche Bild des Kosmos mitentwickelt. Die Zisterzienser haben an Bachläufen ihr Kloster gebaut und verbreiteten die Wassermühlen, weil sie Zeit für das Lesen und Beten herausschinden wollten. Nur im Kloster entstand architektonisch eine Aufhebung zwischen Sakralbau und Profanbau: Der Bettenraum für die Kranken hatte die Qualität der Kapelle, der Kuhstall ein Säulengewölbe, mit dem heute ein Restaurant Staat machen kann.
„Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!“ (Goethe)
Die biblischen Ursprungssagen unterscheiden sich. Auch hier ist der Mensch zwar derselbe: Er steht zwischen Tier und Gott. Aber statt der Heimkehr des Odysseus zu seiner Frau und seinem Bett auf der Insel geht es hier um einen Aufbruch in unbekanntes Land. Abraham begann als heiliger Agnostiker. Mit welchem Recht durfte er den Glauben seines Vaters verwerfen? Er stammte aus Babylonien und suchte religionskritisch oder als Ketzer ausgestoßen nach dem wahren Gott: Der Mond konnte es doch nicht sein. Mose war ein halber Ägypter. Ihm schrieb man den großen Befreiungsmythos für die Versklavten zu. Jesus war und blieb ein Jude. Was wäre Europa ohne die Juden geworden?
Der Kulturphilosoph George Steiner verglich die großen Mythen der Völker, um die Eigenart der Wurzeln Europas zu benennen. Die Schlauheit der Europäer sah er im homerischen Helden Odysseus dargestellt, die Anbetung und die Verbindung von Sex und Gewalt bei den Europäern in der Entführung Europas durch den obersten Gott Zeus als Stier. Das Stierbild ist auch das „goldene Kalb“, vor dem Mose und die jüdischen Propheten Israel bewahren wollten.
Was war Steiners Verhältnis zum modernen Israel? „Israel ist ein reines Wunder. Es ist jetzt der einzige sichere Zufluchtsort für den Juden, wenn es irgendwo wieder losgeht. Und es wird wieder losgehen!“ (Zitiert in: Wir alle sind Gäste des Lebens und der Wahrheit, F.A.Z., 31. 5. 2003, S. 39)
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken. (Das Foto stammt von Τράπεζα της Ελλάδος (Bank von Griechenland) - Europäische Zentralbank, PD-Amtliches Werk, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=6229248)