8. September 2018

Noch einmal Chemnitz. Was man weiß, was man nicht weiß

Vielleicht ist zu Chemnitz, wie die Kanzlerin meint, tatsächlich schon alles gesagt worden. Denn wenn die mächtigste Frau im Staat, von der Presse gewöhnlich zum Gegenentwurf zum Twitter-Topuser Trump stilisiert, offenbar allein aufgrund eines in der Fake-News-Hölle der sozialen Medien veröffentlichten Videos mit - seien wir aufrichtig - doch eher geringer Schockwirkung von "Hetzjagden" spricht und ihr zahlreiche Medienvertreter auf derselben Grundlage dabei sekundieren, ist das so realsatirisch, wie es sich ein aufstrebender Drehbuchschreiber nicht besser hätte einfallen lassen können.
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Aber vielleicht ist zu Chemnitz doch noch nicht alles gesagt worden. Denn seitdem der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz seine "vorsichtige[n] Bewertung" eines einschlägigen Internet-Videos als apokryph publik gemacht hat - gemeint ist wohl der offenbar auch der Merkel'schen Wortspende zugrunde liegende, von "Antifa Zeckenbiss" ins Netz gestellte Streifen - dreht die politische und publizistische Klasse dieses Landes am Rad. Dass das holzschnittartige Verhalten des auf Speicherkarte gebannten "rechten Mobs" ("Ihr seid nicht willkommen!") und die komisch bis verstörend wirkende Tonspur, in der eine Frau ihren wohl gewaltbereiten "Hasen" im Hundekommando-Sound zurückpfeift, geeignet sind, Zweifel an der Authentizität des Videos zu säen, ist zwar richtig. Doch der Beweis dafür, dass es sich bei der Bildfolge um Fake handelt, ist damit noch nicht erbracht. Antje Hermenau, ehemalige Grünen-Politikerin aus Sachsen, behauptet, der Anfang des Films sei entfernt worden: Dort höre man, dass die Migranten die späteren Gegner als "Scheiß-Deutsche" apostrophierten. Ihre Quelle möchte die Leipzigerin jedoch nicht nennen. Der Tagesschau-Faktenfinder teilt mit, das Video sei zuvor noch nicht online gestellt worden, was ein wichtiger Hinweis für seine Echtheit sei. "Antifa Zeckenbiss" erklärt in einer Presseaussendung demgegenüber, es handle sich bei der Sequenz um einen "Netzfund", den man "am 26.8.2018 in einer patriotischen Gruppe" entdeckt habe.

Ein Mitschnitt, der die Szene angeblich aus der Gegenperspektive zeigen soll, ist wie folgt zu bewerten: Man kann in diesem Film zwar einen der Abgebildeten als Darsteller des "Hasen"-Videos identifizieren und mutmaßen, dass der Aufnahmeort ein in dem anderen Streifen erahnbarer, vom Ort des Geschehens durch eine mehrspurige Straße getrennter Parkplatz ist. Ansonsten sieht man nur einige Männer laufen. Ob sie einem anderen Menschen hinterherrennen, vor dem akustisch dominanten Martinshorn fliehen oder nur schnell die Örtlichkeit wechseln möchten, ist anhand dieses Videos, falls der Verfasser dieser Zeilen nichts übersehen hat, nicht festzustellen.

Ein weiterer Handyfilm, der einen Übergriff auf einen Migranten zeigen soll, ist seinerseits im Sinne der Wahrheitsfindung ziemlich unergiebig. Zu Beginn sieht man einen Mann auf dem Boden eines Bahnsteigs sitzen. Er steht auf, hebt einen Gegenstand auf und geht in Richtung der Kamera. Gegen ihn gesetzte Gewalttätigkeiten sind nicht zu erkennen. Die Vorgeschichte des Geschehens bleibt völlig im Dunkeln.

Was die Benutzung des Wortes "Hetzjagd(en)" zur Beschreibung der Ereignisse in Chemnitz betrifft, ist die Faktenlage also nach wie vor äußerst dünn bis nicht vorhanden. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden sieht aufgrund des ihr vorliegenden Beweismaterials keinen Anlass zur Verwendung dieser Vokabel. Die an Ort und Stelle zweifellos stärker als die überregionalen Medien vertretene Lokalpresse erklärte auch, warum sie diesen Ausdruck vermied.

Dieses Fazit sollte freilich nicht dahin missverstanden werden, dass nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse auf den "rechten" Demonstrationen alles Friede, Freude, Eierkuchen war. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ermittelt in 120 Fällen, unter anderem wegen Landfriedensbruchs und Körperverletzung, wobei freilich derzeit noch nicht gesagt werden kann, wie viele dieser Ermittlungsverfahren der "rechten" Szene zuzurechnen sind und zu einer rechtskräftigen Verurteilung führen werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass auf den oder anlässlich der "rechten" Demonstrationen keine einzige Straftat begangen wurde, dürfte angesichts der genannten Zahl bei realistischer Betrachtung aber ziemlich gering sein.

Vielleicht könnten sich all diejenigen, die nicht emotionalisieren, sondern begreifen wollen, was in Chemnitz tatsächlich passiert ist, auf Folgendes einigen: Nach heutigem Erkenntnisstand waren die Ereignisse in der sächsischen Großstadt kein 9. November, das heißt: weder 1989 noch 1938. Und man sollte natürlich nicht vergessen, dass am Anfang aller im Fokus des Betrachters stehender Geschehnisse der gewaltsame Tod eines Menschen stand, den zu betrauern nichts Schändliches, sondern etwas zutiefst Humanes ist.

Noricus

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