8. April 2018

Levin Schücking, "Swift in Moor-Park" (1840)

Der Sonntag den Künsten!

Und zwar sei der heutige Termin zur Abwechslung einer kleinen literarischen Ausgrabung gewidmet: nicht einer vergessenen Trouvaille (dazu reicht die Qualität des Textes nicht hin), sondern höchstens einer verschollenen Kuriosität, oder, in der Schreibweise jeder Zeit "Curiostität." Zudem ist es als Fortsetzung der kleinen Reihe von Ehrbezeigungen an den größten Satiriker Irlands - und einen der bedeutendsten der gesamten englischen Literaturgeschichte überhaupt - zu sehen: an Jonathan Swift, dessen Geburtstag sich im vergangenen November zum 350. Mal jährte. Diesmal jedoch nicht mit einer neuen Übersetzung eines seiner Gedichte, sondern mit einem erzählenden Text, der sich einem wichtigen und prägenden Abschnitt seiner Biographie widmet, wenn auch in stark romantisierender und frei fabulierender (und auch, wo er sich an die historischen Tatsachen hält, nicht immer faktengetreuer) Weise: einem von zwei "Fragmenten eines Romans" (so der Untertitel), den Levin Schücking, zu Beginn seiner Laufbahn als Schriftsteller, 1840 in der damals verbreitesten und auflagenstärksten (ein Wort, bei dem man sich die ""-Gänsefüßchen hinzudenken sollte; sh. dazu die kurzen Anmerkungen zum Schluß) Literaturzeitschriften, dem in der Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart und Tübingen verlegten "Morgenblatt für gebildete Leser" publiziert hat. "Swift in Moor-Park" erschien dort in Fortsetzungen zwischen Freitag, dem 6. Juni und Freitag, dem 19. Juni 1840. Der Text ist in keiner der Novellensammlungen Schückings aufgenommen und auch sonst seit seinem Erscheinen vor fast 180 Jahren niemals nachgedruckt worden. Die Orthographie entspricht der Vorlage - mit der Ausnahme von Umlauten am Wortanfang von Substantiven, an denen die typographische Convention der in Frakturschrift gesetzten Vorlage eine Aenderung in eine Doppelletter bewirkt hat, die im Fall von Kleinbuchstaben im Original nicht erfolgte. Als Textgrundlage diente das Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek.

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(Erste Seite der Ausgabe des Morgenblatts vom 22. April 1842 mit der ersten Folge der "Judenbuche".)



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"Swift in Moor-Park. Fragmente eines Romans"

          I.
Moor-Park liegt in der Grafschaft Surrey, unweit der Stadt Farnham. Im Jahre 1688 war dieser durch seine geschmackvollen Parkanlagen berühmte Landsitz das Eigenthum und die Residenz des Ritters William Temple, eines Mannes, den damals England den Weisesten seiner Staatsmänner und Schriftsteller nannte. Er hatte den beiden Stuarts der Restauration als Rath und Gesandter gedient, und trotz seines Mangels an Bereitwilligkeit, den Launen dieser unklugen Regenten seine Überzeugungen und Ansichten über ihre politischen Maßregeln zu opfern, ihnen eine Achtung abgerungen, die kaum die Werkzeuge ihres Despotismus, die Männer der berüchtigten Cabal, besaßen. Aber der Hof war durch diese und das Beispiel von oben während der Regierung Karls II. und Jakobs II in eine Verderbtheit gerathen, und hatte sich zu Schritten verleiten lassen. welche den, alle Zweizüngigkeit hassenden Diplomaten mehr als einmal veranlaßten, sich vor allen Staatsangelegenheiten auf seine Güter zu flüchten, um friedlich seine Gärten zu bauen und die Erfahrungen seines Lebens in Denkschriften der Nachwelt aufzuzeichnen.

Sir William Temple hatte viel erfahren; er hatte die stürmische Periode der englischen Revolution erlebt, er hatte Cromwell und Monk, die Stuarts und endlich Wilhelm von Oranien über sein Vaterland herrschen, es unter dem Beile der Fanatismus und der empörenden Mißhandlungen leichtsinniger Willkür bluten sehen. Er war der Zeitgenosse Richelieus und Ludwigs XIV., hatte die Stürme des dreißigjährigen Kriegs und den Glanz der Sonne von Versailles erlebt, selbst den Frieden von Aachen vermittelt und auf dem Kongreß von Nymwegen England als Mediateur vertreten; er war ein Freund des Großpensionärs Johann de Witt und des Prinzen von Oranien geworden, und hatte für des lezteren Vermählung mit der englischen Maria gewirkt; kurz, das ganze siebzehnte Jahrhundert mit der Menge seiner glänzenden und nichtigen, großen und blutigen Erscheinungen war an dem diplomatischen Auge des alten Sir William Temple vorübergezogen. Er hatte einer jeden dieser Erscheinungen ihren Tribut an dem Schatz seiner Erfahrungen abgefordert, und in solchem Besitz konnte er mit Recht sagen, zum Reichtum fehle ihm nichts als Geld, konnte er zufrieden und ohne weiteren Ehrgeiz alle Aufforderungen von sich weisen, die ihn aus der Ruhe seiner Zurückgezogenheit ziehen wollten, um ihn als Minister auf die Stufen eines Thrones zu stellen, den ein wankelmüthiger Herrscher wie Jakob II. in bedenklichem Schwanken zu halten sich angelegen seyn ließ. Auf einem flachen Haupte sitze ein Hut fest, sagte Sir William, auch wenn es ein schwerer goldener sey. Als durch die Revolution von 1688 Wilhelm von Oranien auf den englischen Thron gelangte, war er vom Alter zu gebeugt und an seine Muße zu gewohnt, um dem ehrenvollen Ruf an den Hof dieses Fürsten nachkommen zu mögen.


Was zudem Sir William Temple in seinem Entschlusse, die Einsamkeit seiner Schlösser Sheene und Moor-Park für den Abend seines Lebens nie wieder zu verlassen, war ein häusliches Unglück, welche alle Kraft des sonst so starken, herzumpanzerten Mannes zu brechen gedroht hatte. Er hatte über fünf Kindern gefaßt den Grabhügel aufschaufeln sehen; es hatte nur dazu gedient, den einzig übrig gebliebenen Sohn Johannes zum Träger seines ganzen Glückes zu machen.. Johannes hatte die schöne und reiche Erbtochter einer französischen Hugenottenfamilie, Agnes de Rambouillet du Plessis, als Gemahlin heimgeführt; er war zum Kriegssekretär ernannt worden, und kaum eine Woche nach diesem Eintritt in eine glänzende laufbahn, die sich vor dem jungen, reichbegabten Manne öffnete, war Johannes Temple an den Strand der Themse hinabgegangen, hatte ein Boot bestiegen und unter die Londonbrücke rudern lassen; da, wo die Wellen des Flusses schäumend und wogend unter dem Bogen des drückenden Joches sich umwirbeln, hatte er in das grollende Element sich gestürzt. Warum? Keiner wußte es: wer sieht den Kummer, der im Innern einer jugendlichen, blühenden Gestalt wühlt, die dem Lächeln der Welt sich mit gleichem Lächeln entgegenzustellen Kraft und Stolz genug hat, bis das Innere nach Luft aufstöhnt und den licht- und sonnenlosen Kerker zertrümmert? Als Sir William die Nachricht von dem Tode seines Sohnes empfing, hatte er, ohne eine Thräne im Auge, seiner unglücklichen Gattin aus den Lehren der Stoa, deren Philosophie seine Lebensansicht sonst abgeneigt war, zu beweisen gestrebt, daß der Mensch seines Lebens Herr sey und es da abkürzen könne. wo es ihm gut scheine; am andern Tage aber war sein ergrautes Haupt bleich wie Schnee und seine hohe Gestalt zusammengebrochen; Mondenlang war kein Wort von seinen Lippen gehört worden, hatte keiner seiner Diener die Schloßhalle von Sheene betreten dürfen, wenn der trauernde Gebieter langsam in ihr auf und niederschritt.

Es war ein feuchter, verschleierter Dezembertag, so milde, wie zu so vorgerückter Jahreszeit im Norden nur in England die Luft seyn mag. Die Natur schien zu träge, für einen so still und gleichgültig verrinnenden Tag aufzuwachen, und von einer Nacht in die andere hinüber träumen zu wollen; an den Linden- und Rüsternzweigen in den Waldungen um Moor-Park hingen dicke Nebeltropfen; kein Dichter hätte ihr trübes Wasser mit Perlen oder Diamanten verglichen, und darum mochte kein Sonnenstrahl es der Mühe werth halten, sie aufzusaugen; es war ein Tag, an dem man nicht weiß, ob Morgen oder nachmittag ist, und von dem man nichts erwartet, weder ein äußeres noch ein inneres Erlebniß, der ein nichtssagender Gedankenstrich der Zeit zu seyn scheint, um zwei Perioden in einander zu ziehen.



(Luftansicht von Moor Park, um 1690, Kupferstich, Johanes Kip zugeschrieben)

Durch die Waldung, die zu Sir Williams Besitzungen gehörte, folgte ein junger Mann von hohem, schlanken Wuchs, mit blühenden Wangen und Zügen, die eben begannen, aus jugendlich weicher Unbestimmtheit des Ausdrucks in markirte Kraft und Männlichkeit überzugehen, einem von den Wagen der Holzfäller tief ausgefahrenen Geleise. Hätte Herr Thomas Platter von Zürich, der berühmte fahrende Schüler, den Wanderer in seinem dunkelfarbigen Mantel, der an der linken Seite sich über einem Reisesacke aufbauschte, in dem schwarzen Tuchbarrett und den schweren Schuhen so einherschreiten sehen, er würde sich gewiß zu ihm gesellt haben, als einem Mitgliede seiner Menschen und Städte sehenden Zunft. Der Reisende erreichte die offene Fläche, in der Moor-Park mit seinen Gärten und Wiesengründen liegt; es gelangte an den Rand eines großen, seeartigen Weihers, der auf seinen eben daliegenden Wellen einen leise hin und her gleitenden, dann wieder den langen Hals auf den Grund senkenden Schwan trug; ein anderes dieser Thiere stand unter einer großen Hängebirke am Ufer und barg das Haupt wie träumend unter einer Flügeldecke.. Eine helle, lockende Stimme tönte von der anderen Seite der Wasserfläche her; die Schwäne rauschten mit raschen Schwingenschlägen dem Rufe zu, und eine weibliche Gestalt wurde plötzlich, wie aus dem Wasser sich erhebend, jenseits sichtbar. Ist sie aus der Tiefe aufgetaucht wie eine Najade? fragte sich der Wanderer. Es schien so: auf den weißen Stufen einer in's Wasser hinabgebauten Steintreppe, wo sie unten Futter für die Thiere ausstreute, war sie seinen Augen entgangen; jetzt erstieg sie den Perron und schaute den Schwänen zu, sich licht auf dem dunkeln Hintergrunde eines großen Gebäudes abzeichnend, so hell und schlank, daß der Reisende sie für eines jener schönen Geschöpfe der mittelalterlichen Phantasie, die man Schwanenjungfrauen nannte, hätte halten mögen. Sie verschwand in dem Gebäude.

Der junge Wanderer schritt um den Weiher herum und stand bald vor der Thüre, welche sich hinter der Erscheinung geschlossen hatte. Er hielt zögernd seine Schritte an und blickte zu der hohen Giebelfaçade des Landsitzes auf. Es war ein Gebäude im Style der Zeiten, welche zunächst auf die Herrschaft der jungfräulichen Königin folgten, reich mit jenen Zierrathen versehen, die damls geschmacklos, in einem Gemisch von Schnörkeln mit Pyramiden darüber, von halb gothisch, halb maurisch verzierten Säulen Karyatiden und kolossalen Edelsteinen, die reinen, einfachen Verhältnisse der Mauerabtheilungen entstellten und um Thür- und Fenstergesimse ihre schwülstigen Linien ziehen mußten. Um deutlicher zu werden, erinnern wir an einzelne Theile des Heidelberger Schlosses, des schönsten Werkes dieses verdorbensten aller Baustyle. An den vier Ecken schauten vier Thürme mit Zinnen und Pfefferbüchsen düster und drohend aus den vergitterten Fenstern, wie widerwillig an das moderne Corps de logis gefesselt, und im Begriffe, davon weg in den Wald hinauszuschreiten, als ob die rauschenden Wipfel dort besser ihre Erzählungen von der Behauptung feudaler Hoheit verstehen würden, als das schwache Geschlecht, welche sie jezt beschüzten. Nebengebäude, an denen Spaliere in die Höhe gezogen waren, hier mit einer großen Thurmuhr, dort mit einem mächtigen Sonnenzeiger geschmückt, umgaben rechts und links den Vorhof des Herrrenhauses, das aus Gartenanlagen sich erhebend, eine stille, waldumzogene Fläche beherrschte.

Der Reisende schritt in das Innere, zu dem eine hohe Flügeltreppe führte. In der gewölbten halle zeugte kein Ton, kein Geräth von Bewohnern in diesen stummen Räumen; endlich wurde aus Auf- und Zuschließen von Thüren hörbar, dann träge, schlurfende Schritte; aus einem Gange trat ein Mann mit einem dicklippigen Mönchsgesichte und schloß die offenstehende Glasthür, die im Hintergrunde der Halle in den Garten hinausfürhte; dann wandte er sich zu dem Fremden, pflanzte seine corpulente Gestalt fragend vor ihn, stemmte die Arme in die Seiten, und bellte endlich in rauhen Tone die Worte heraus: "What will you, sirrah?" - "Zum Master of rolls, Sir William Temple" - "Ich bin der Master of rolls or Ireland, und für euch nicht zu Hause," sagte der Mann, indem ein pfiffiger Ausdruck aus den kleinen, in's Grüne schillernden Augen lachte.

Der Reisende sah ihn vom Kopf bis zu den Füßen an.Anfangs, wie es schien, bestürzt; dann aber mochte er in dem spanischen Kostüme, in den plebejer Physiognomie des vor ihm Stehenden eine zu starke Widerlegung seiner Worte, in den goldnen Kette mit einer Schaumünze, die auf seiner Brust prangte, ein zu gewisses Zeichen des Haushofmeisteramtes erkennen, um sich einschüchtern zu lassen. "Ihr Sir William?" versetzte er deshalb stolz. "Ich habe wohl gehört, daß Sir William sich Bullenbeißer halte, aber nie, daß er selbst einer geworden sey. Der Herr des Hauses müßt Ihr aber in der That seyn, sonst würde man einem so bissigen Thiere nicht allein eine Kette, sondern auch ein Halsband daran geben. - Nun ohne Scherz, führt mich zum Ritter Temple!"

Der Mann stand wie an den Boden gedonnert von der stolzen Keckheit des Ankömmlings; er mochte zuerst einem Anfall von Wuth nachgeben wollen, dann aber in der gebieterischen Hoheit des Fremdlings eine Bedeutung sehen, welche es ihm zweckmäßiger erschienen ließ, höflich zu werden und zu gehorchen. "Wer seyd Ihr denn?" fragte er deßhalb, indem die innere Bewegung seine Wangen in tiefe Falten zerrte. - "Jemand, der von Euresgleichen keine Fragen gewohnt ist. Geht voran!"

Der Haushofmeister ging, indem er etwas in die Zähne murmelte, und stieg eine breite Flügeltreppe hinan, die an beiden Seiten der Halle hinausführte. sie traten in ein großes Vorgemach; der Haushofmeister ging weiter durch eine Thüre zur Seite; der Reisende entledigte sich des Mantels und seiner Reisetasche und schaute sich im Saale um. Es war ein luxuriöses Gemach mit feinen in Seite gestickten Sophas, den schweren Ledervorhängen mit gepreßten goldenen Blumen; durch eine Balkonthüre mit großen, in vergoldetes Blei gefaßten Scheiben sah man über den Weiher in eine endlos lange Allee hinab, die als Point de Vue den Kirchthurm von Farnham zeigte. Rings an den mit Basrelief mit Stuck ausgeschmückten Wänden standen die hohen Gestalten nach Antiken gegossener Gypsbilder; über dem Kronleuchter war die Decke mit dem Siegesaufgange des jugendlichen Helios und seines schäumenden Viergespans ausgemalt. Alles das wehte den Eintretenden mit einer vornehmen, grandiosen Feierlichkeit an, und erhöhte die Unruhe, die ihn bewegte, zur peinigenden Beklommenheit. Er sollte vor den Besitzer dieser Herrlichkeiten treten mit seiner aus ganz anderen Sphären sich herschreibenden Angelegenheit, die ihm jetzt so ignobel, so gemein vorkam, daß er sie gern bei Sir William gar nicht berührt hätten, um von andern Dingen zu reden mit jener Gleichgültigkeit und Sicherheit, wie sie in diese glänzen Räume gehörten; und doch hing davon zunächst das Geschick seines Lebens ab. Die zufällige Laune, ein tüchtiges Belieben, ein Einfall Sir Williams sollte über seine ganze Laufbahn entscheiden. Doch ist es nicht die Wichtigkeit unseres Schrittes, was uns in solchen Augenblicken eigentlich beängstigt; solch eine glänzende Umgebung läßt nicht etwa die Noth, die uns dorthin führte, in noch schärferem Contraste hervortreten, sie verdeckt sie vielmehr; die Räume sind zu reich, zu geweiht von dem magischen Zauber des Glanzes, als daß die drückenden Gefühle der Armuth auch nur hineinzudrängen wagten. Die Fürsten thun klug, sich mit imponirender Pracht zu verschanzen; es ist die beste Abwehr gegen wegwerfendes Bitten.

Bei unserem jungen Reisenden floß die Unruhe zumeist aus dem furchteinflößenden Nimbus, welchen hoher Rang und die Glorie eines Namens, den man in der Ferne als den eines Wesens höherer Ordnung nennen hörte, in ein jugendliches Auge strahlen, das noch nicht gewohnt ist, in so glänzendem Rahmen ein so miserabel gepfuschtes Bild von einem Menschen, wie oft davon umprangt wird,  zu suchen. - "Nicht zu viel Demuth!" sagte er endlich, nachdem er eine Weile mit starken Herzpochen auf das des Dieners gewartet hatte. "Mag er ja oder nein sangen, was verschlägts? Ich geh' lieber nach Flandern, ehe ich ihm viel gute Worte gebe! - Man soll nicht sagen, daß ich je Bettlerdemuth gehabt hätte!" Er war entschlossen, die Sache mit wenigen Worten abzumachen; der Stolz reicht in solchen Situationen seinem größten Antagoniste, dem Leichtsinn, brüderlich die Hand, um sich an ihm aufrecht halten zu können.



(Sir William Temple, 1628-1699; Kupferstich nach dem Portrait von Peter Lely)

Die Flügelthüre öffnete sich wieder; Sie Williams Haushofmeister winkte und der Reisende trat in das Studierzimmer des Rollenbewahrers von Irland, des friedenwirkenden Repräsentanten der drei Reiche in allen Wirren des jüngst verflossenen halben Jahrhunderts. Der alte Ritter las ausgestreckt in einer Chaise-longue, die Füße mit einer Profusion von Pelzen umwickelt, und erwiderte die Verbeugung des jungen Mannes mit einem leisen Nicken des Kopfes.

Dieser zog einen Brief hervor und wollte, näher tretend, ihn überreichen; aber ein Wink Sir Williams mit der schlaff an der Lehne des Stuhls herabhängenden Hand, beschwor rasch den an der thür harrenden Haushofmeister zwischen ihn und den Fremden, um den Brief zu empfangen und ihn seinem Herrn zu überreichen.

"So, so!" sagte Sir William, während er den geöffneten Brief hoch emporhielt, um ihn lesen zu können, ohne das Haupt aus seiner bequemen Lage an der Rücklehne des Sessels zu bewegen; "Ihr seyd der Neffe von Godwin Swift? So, so! Baccalaureus von Dublin! Eure Mutter schickt Euch mir zu, um etwas aus Euch zu machen. Es ist aus mir selber nichts geworden, als ein alter, gichtbrüchiger Mann: was sollt' ich aus Euch machen können?" - "Nun, vielleicht manches, Sir," versetzte der Neffe Godwin Swifts, "wozu ein nicht allzu geschmeidiger Stoff nöthig ist. Ich wollte Kriegsdienste nehmen und nach Flandern gehen; aber meine Mutter hatte das Geld nicht, mich auszurüsten; und da nach dem frühen Tode meines Vaters meine Verwandten schon so viel für sie thun, wollte ich nicht, daß sie ihnen auch noch meinethalben lästig fiele. Da Euer Vater nun der beste Freund von meinem Oheim Godwin gewesen ist und meine Mutter mit Eurer Gemahlin verwandt, so -" - "So, so, Ihr seyd ein Vetter von uns. Habt Ihr Eure Zeugnisse bei Euch, Vetter?" sagte der Ritter etwas spöttisch, wie es Swift schien.

Die Zeugnisse nahm Sir William mit eigener Hand und entfaltete sie. "Euer Baccaleureusdiplom. So, so nur speciali gratia ertheilt!" Seine Brauen zogen sich leicht zusammen; sie wurden finster gerunzelt, als er das zweite Dokument, das Abgangszeugnis aus Trinity-College in Dublin las. Er sagte nichts, als er die bösen Censuren über alle möglichen Arten von Widersetzlichkeiten und Disciplinfehlern überblickte; aber ein forschender Blick, der etwas Stechendes hatte, schoß aus den grauen Augen des Ritters und glitt über das Antlitz des jungen Mannes hin, der ihn offen und ruhig erwiderte, als enthielten die Schriften durchaus nichts, was ihn beträfe.

Sir William sah nachdenklich durch das Fenster ihm gegenüber in die neblichte Luft hinaus, und schien zerstreut einem fremden Gedankengange sich hinzugeben. Nach einer langen Pause fand der Haushofmeister für gut, zu husten. - "So, Billy," fur Sir William auf, "bist du da?" Er ließ die hand über die hohe, doch glatte Stirne gleiten, die mit ihrer Marmorweiße mehr einer classischen Statue, als einem Lebenden anzugehören schien. "Vetter Jonathan, ihr habt gute Zeugnisse, sehr gute Zeugnsse, in der That," sagt er dann ironisch. "Ich will Eich für's Erste bei mir behalten, wenn Ihr wollt. Ihr sollt zwanzig Pfund Taschengeld haben, wenn ich  Euch brauchen kann, mir beim Ordnen meiner Schriften zu helfen. Folgt Billy nur; er soll Euch ein Zimmer geben und für Euch Sorge tragen. Hörst du Billy? Da nehmt Eure Schriften wieder. Ruht Euch jezt aus. Morgen werde ich Euch zu mir rufen lassen."

Swift verbeugte sich, ohne zu antworten; war es seine Befangenheit oder das Ironische in Sir Williams Aufnahme, was ihm den Mund für eine Danksagung schloß? er konnte sie nicht über die Lippen bringen und folgte der schweigsamen Gestalt, die laß und träge vor ihm herwandelte und ihn durch eine düstern Corridor führte, wo rechts und links an den Wänden Reihen von schlechtgemalten Bildnissen drohend drein schauender Ritter und lächelnder Edelfrauen hingen. Nur eine von diesen Schildereien fesselte seine Blicke; s war ein großes Schlachtstück, von Alter gebräunt, von einem Schranke aus gebohntem Eichenholz noch mehr in den Schatten gedrängt, und dich durch die hellen Partien seines Vordergrundes in die Augen stechend. Man sah einen kolossalen Hengst sich brausend aufbäumen: eine schwere Geschützkugel mußte ihn so eben getroffen haben, denn die ganze rechte Vorderseite war geschunden; derselbe Schuß hatte dem Reiter das Bein bis an's Knie weggeschlagen; es war ein gräßliches Bild. Der zurücksinkende Reiter des zum Tode verwundeten Thieres hatte den Helm verloren und eine Fülle blonder Locken fluthete auf den Eisenharnisch nieder; das bleiche Haupt wurde kramphaft vom Tode verzerrt und zeigte dennoch Züge von wunderbarer Schönheit; es war ein Frauenhaupt. Swift stand und schaute auf das schreckliche und doch magisch festhaltende Bild, bis die glühenden Augen des Hengstes ihm lebendig zu werden schienen, die Nüstern sich wiehern aufzublähen, die unglückliche Reiterin tiefer hinabzusinken. Er wandte sich schaudernd ab. Der Haushofmeister hatte unterdes an Ende des langen Ganges eine Thüre geöffnet. Sie führte in ein rundes Gemach in einem der vier Ecktürme von Moor-Park, alterthümlich, hoch, mit schwerfälligen, bestaubten Möbeln versehen, und dennoch durch die freie Aussicht seiner Fenster nach drei Seiten hin freundlich.

"Richtet Euch hier ein," sagte Billy; "es soll Euch Feuer auf den Herd und ein Imbiß gebracht werden, wenn ihr sonst etwas bedürft, Wasser, Licht oder dergleichen, so habt Ihr es nur selbst zu suchen und herauszuholen, um es zu bekommen." - "Seyd Ihr mir böse, Billy. alter Bullenbeißer?" fragte ihn Swift so freundlich. als er die ihm etwas widerwärtige Figur anzureden vermochte. - "Bin nicht böse," sagte Billy, "hab' ich Euch nicht ein gutes, freundliches Kämmerchen hier ausgesucht. Ein hübsches Gemach, Sir, gelt?" - "In der That, ich bin Euch dankbar dafür." - "Könnte aber doch kommen, daß Euch ein guter Bullenbeißer Nachts davor willkommen würde," sagte der Haushofmeister, indem ein gewisses malitiöses Lächeln seine braunen Züge zusammenzog. Er ging, ohne sich näher zu erklären.

Die ersten Stunden nach einer Reise sind für den Einsamen unendlich öde und langweilig; die ausgepackten Habseligkeiten wollen sich noch nicht in jenes angenehme Durcheinander begeben, das uns mit seiner ordentlichen Unordnung zum Bedürfnis geworden ist, um uns heimikisch fühlen zu können.Wir wissen nicht, was wir beginnen sollen; wie sind angekommen und haben die Riese noch lange nicht beendet; mit allen ihren lebendigen Eindrücken nehmen wir sie mit in das stille fremde Zimmer hinein, um dort nach und nach erst, nachdem wir noch manche tüchtige Strecke zurückgelegt haben, in die Rihe des völligen Behagens einzulaufen. Swift fühlte in seiner beschäftigungslosen, unruhigen Aufgeregtheit die Schwermuth wiederkehren, die von jeher eine so drückende Macht über ihn geltend gemacht hatte. Der kalte, ironische Empfang von Seiten Sir Williams quälte, erbitterte ihn, wie jede Demüthigung, auf's höchste.

"Nicht genug, daß ich ein Schreiber mit 20 Pfund seyn muß -  ich soll es auch fühlen!" sagte Swift zu sich. Das Leben hatte ihm von seiner frühesten Kindheit an nur seine dunkle, wehevolle Seite gezeigt; er hatte sich daran gewöhnt, nur diese in's Auge zu fassen; der Leichtsinn oder die leicht versöhnte Genügsamkeit, welche sich an die Lichtseiten des Lebens halten, sie hervorzusuchen wissen, wo sie sich verbergen und das Unglück nur als einen bitteren Zusatz in dem würzigen Becher des Lebens betrachten, der dazu gehört, um die Schale desto schäumender und schmackhafter zu machen, waren seinem tiefen Ernste fremd. Er konnte nicht vergessen - eine der unglücklichsten Anlangen des Menschen. Dem aber, der einmal nur die dunkeln Seiten des Lebens zu sehen sich angewöhnt hat, für den kehrt, wie sich rächend, das Leben auch nur diese Seiten heraus; es hält die lichteren Offenbarungen seines Wesens im Glücke hartnäckig vor dem trauernden, immer bitterer werdenden Gemüthe bei dem Schmerz geweihten Armen verborgen. Unsere Weltanschauung macht nicht bloß subjektiv und innerlich, sondern auch äußerlich und in den weltlichen Erfolgen uns glücklich oder unglücklich. Wir möchten Nachdruck auf diese Worte legen, da uns die Idee darin angedeutet scheint, die sich aus dem Leben unseres Helden entwickelt.

Swift dachte darüber nach, wie verlassen, wie arm, wie ohne alle frohe Verheißungen er sey; wie ihm die Welt fremd und er ihr, wie kein Mittel, kein Pfad sich ihm zeige, in sie einzubrechen, in die geschlossene, nach allen Seiten hin den Unglücklichen von sich abwehrende Welt, um darin eine feste Stellung zu erringen. Er hatte jezt eine Zufluchtstätte gefunden; er war der eigentlich drückende Sorge um die allernächste Zukunft enthoben; Sir William hatte ihm gewährt, was er von Niemandem sonst hätte erwarten können. Aber die Art des Gewährten machte ihn unendlich unglücklich. Hätte der alte Ritter ihn herzlich und warm wie einen Verwandten empfangen und ihm eine, wenn auch nur scheinbare Theilnahme gezeigt, dann aber seine Bitte abgewiesen und ihm seinem Geschick überlassen, Swift wäre vielleicht froher und dankbarer von ihm geschieden, als jezt, wo er sich auf ein bequemes Ruhebett unter seinem Dache niederwerfen durfte.

Es war tiefe Dämmerung geworden. Swift stand am Fenster seines Gemachs und blickte über die abenteuerlich verschnittenen Taxushecken der Gärten von Moor-Park und über den Weiher hinaus nach den in immer dunklern Schatten begrabenen Waldpartien, welche den engen Horizont begrenzten. Eine Schaar Krähen kreiste mit lautem Gekrächze um die Thürme und hohen Essen des Gebäudes, dann ferner über den Wipfeln der Waldung, bis weit umher aus der Umgebung alle Schwestern zu dem lärmenden Chore gestoßen zu seyn schienen un der Schwarm sich endlich auf eine Gruppe der höchsten Buchen niedrließ, daß die Aeste auf und ab schwankten und ein Theil der häßlichen Vögel immer von Neuem aufstieben mußte, bis auch sie zuletzt zur Ruhe kamen und alles in lautlose Stille sich versenkte. Die Dämmerung wurde Swift unerträglich; sie machte ihn immer schwermüthig; er scheute sie, wie so mancher Geist sie nicht erträgt, weil er in ihr der Gestalt zu begegnen fürchtet, welche das helle, geschäftsvolle Tageslicht ihm selten zeigt, dem Ich. Er wandte sich, um Licht zu suchen; da sah er durch das Fenster, dem er bis jezt den Rücken zugewandt hatte, einen Lichtschimmer in sein Gemach fallen: es kam aus dem Thurme, der dem von ihm bewohnten gegenüber sich erhob. Von seiner Dunkelheit aus übersah er den in gleicher Höhe mit ihm liegenden Raum drüben. Es war ein freundlich ausgeschmücktes Zimmer; er hätte ein von Frauen bewohntes Gemach darin erkennen müssen, an der Ordnung, die darin herrschte, an der Art seiner Möbeln und der daraus vertheilten arbeitsstücke, auch wenn seine ersten Blick nicht auf eine jugendliche, weibliche Gestalt gefallen wären. Sie wandte ihm den Rücken zu; helle Locken fielen auf einen schön gewölbten Nacken, den einen Bau wie den einer griechischen Göttin verrieth. Das Haupt auf den Arm gestüzt, der vor ihr auf einem Spiegeltische ruhte, schien sie knieend auf ein Porträt in goldnem Rahmen zu blicken, das vor ihr aufgestellt war. Ein Kranz von Immortellen und Rosmarinzweigen war umhergeschlungen; zwei silberne Lampen standen davor und warfen ein helles Licht auf das Bild, das die Züge eines jungen Kriegers von bleicher Gesichtsfarbe, in der Uniform der leibwache des lezten Stuarts, wiedergab. Zur Seite des Bildes standen Vasen aus chinesischen Porzellan, die trotz der Jahreszeit Sträuße frischer Blumen zu enthalten schienen. Das Ganze hatte das Ansehen eines kleinen Altars, wie ihn die Erinnerung des liebenden Herzens für ihre stille Hausandacht aufrichtet, um in den Stunden davor zu knieen, in denen sie sich ungesehen und allein weiß mit den Gestalten ihres Himmels, mit den süßen, seligen Offenbarungen ihres scheu verflossenen Fühlens.

Die Gestalt legte die Stirn auf den Tisch, als bete sie; dann stüzte sie das Haupt wieder auf die Flache der Hand und blickte auf das Bild vor ihr, dessen Züge von unendlicher Sanftmut und Milde sprachen und die dunkeln Augen wie mit einem Ausdruck von tiefer Seelentreue auf ihr haften ließen. Endlich öffnete sich die Thüre des Gemachs; eine andere Gestalt unterbrach die Kniende, welche aufsprang und und jene sprachlos, den Mund wie vor Schrecken geöffnet, anzustarren schien. Es war in der That eine räthselhafte Erscheinung, diese eben störend auftretende: ein völlig gerüsteter Krieger, doch von zarten, schmächtigen Formen; von seinem Helme nickten rothe Federn, eine gelbe Feldbinde war um den Brustharnisch geschlungen; das geöffnete Visir zeigte blasse Züge; es schienen die des Bildes im Goldrahmen, das auf dem Spiegeltische stand. War der Ritter aus dem Grabe entstanden, um seine zu ihm betende Geliebte zu besuchen? wer ging jezt noch so vom Haupt bis zur Zehe geharnischt in dem friedlichen Moor-Park umher? wer wagte dort die Farben der vertriebenen Stuarts zu tragen? 

Swift spähte angestrengten Auges; die Erscheinung deutete auf das Fenster ihm gegenüber, als weise sie auf ihn. Er sah sie so deutlicher: es war nicht der Ritter auf dem Bilde, die Züge waren feiner, weiblicher; sie waren denen der sterbenden Jungfrau auf dem Schlachtstücke draußen auf dem Corridor ähnlich. Swift fielen des Haushofmeisters lezte räthselhafte Worte ein: gingen Geister auf Moor-Park um und hatte der Schelm, um sich zu rächen, ihn in ein Zimmer einquartiert, in welchem er erschrockener Zeuge von übernatürlichen Dingen werden sollte? Vor dem Fenster drüben wurde ein dichter Vorhang niedergelassen; in demselben Augenblicke hörte er ein lautes, krampfhaftes Pferdegewieher dicht in seiner Nähe erschallen, das ihn bis in's innerste Mark durchdrang; es weckte auf dem Corridor ein hallendes Echo. "Der blutende Hengst auf dem Bilde ruft seinen Reiter zurück!" sagte Swift; er wollte hinausgehen, das Grauen hielt ihn von dem dunklen, schwarz durch die geöffnete Thüre ihn angähnenden Raume zurück. Er war nichts weniger als zum Aberglauben geneigt, oder zu dem, was wir jezt so nennen; aber im Jahre des Heils 1688 erfuhren und sahen auch starke Geister wunderbarere Dinge, als jezt nur überhaupt für statthaft gehalten werden.

„Weiß der Himmel," sagte er, als er am andern Morgen an dem gemalten Pferde vorüberschritt, "was alles in solch einer klugen Thierseele steckt, und ob sie nicht so gut wie die eines Menschen spuken kann! Sollten sie nicht, diese intelligenten Thiere, wenn man ihnen die Freiheit ließe, aus ihrem Gewieher eine Sprache bilden und sich in eine Gesellschaft konstituieren können, die sich in ihrer gesunden Natürlichkeit unsere politischen Systeme beschämte? Der Mensch mag ursprünglich ein viel hülfloseres, erbärmliches Geschöpf gewesen seyn."

Als Swift diesen exzentrischen Gedanken faßte, den er später im vierten Theile von Gullivers Reisen zu einer höchst abenteuerlichen Erzählung ausführte, befand er sich auf dem Wege zum Studierzimmer Sir William Temples. Er fand ihn wie den Tag zuvor durch seine Krankheit an den Armstuhl gefesselt und beschäftigt, ein Bündel verworrener Schriften in eine gewisse Ordnung zu bringen.

"Hier, Vetter," sagte er zu dem Eintretenden, dessen Gruß er zu erwidern vergaß, "habe ich eine Probearbeit für Euch; eine Abhandlung über die Gärten des Epikur und eine andere über die Poesie: ich wollte, daß Ihr sie mir in's Reine schriebet; aber werft die Blätter nicht durcheinander und seht nach den Nummern auf den Seiten. Ich gebe Euch Arbeit, die Euch nützlich ist. Aus meiner Schrift über das Wesen der Poesie könnt Ihr lernen; sie enthält eine Geschichte und einer kritische Beurtheilung alles dessen, was von jeher hervorstechendes darin geleistet worden. Merkt Euch, was ich gesagt habe über den Ursprung der modernen europäischen Poesie, die man zuerst Reime nannte, ein Wort, das nicht, wie man glaubt, von dem griechischen Worte Rhythmus kommt, sondern vom gothischen Rune. Rune heißt bei den Gothen oder Geten die Schrift, welche Odin erfunden oder eingeführt hat in die Gegenden des Nordens. Weil nun anfangs alles Geschriebene mehrere Jahrhunderte in Verse gekleidet war, bekam alle Poesie den Namen Runen, und die Dichter hießen Runer, oder, was dasselbe, Reimer. Dann werdet Ihr finden, wie die Runer, die sich auch Weise nannten, zur Zauberei kamen und wie Weise, viise, mit witch (Hexe) zusammenhängt.

Swift hatte eine derartige Gelehrsamkeit kaum im Trinity College in Dublin angetroffen; sie unterließ deßhalb nicht, ihm zu imponiren; als er aber das dünne Heft Sir Williams über die Poesie in den Händen hielt, konnte er die Bemerkung nicht unterdrücken: "Ihr müßt Euch sehr kurz gefaßt haben, Sir, um so viel auf achtzig Seiten zusammenzudrängen." - "Das habe ich, und diese klare, concise Kürze ist es, was meinen Schriften Beifall verschafft hat. Der Geschmack hat in unserer Zeit eine wunderbare Umwandlung erfahren; ich darf mir vielleicht schmeicheln, nicht ohne Einfluß darauf gewesen zu seyn. Man fängt an, den canzleiartigen Styl der der Geschichtsschreiber, die scholastische Diction der Philosophen unerträglich zu finden, und wendet sich dem leichtverständlichen Inhalt und der gefälligen Form zu. Das ist der Schlüssel zu dem Reize, den Schriften wie die Shaftesbury's auf die Generation üben. Die Bildung gewinnt an Breite, und wie sie an Expansion zunimmt, verliert sie an den innern Mark der Concentration. Früher war es unerhört, in den Büchern etwas anderes als Belehrung zu suchen; jezt beginnt man Unterhaltung davon zu fordern. Man muß solchen Forderungen der Zeit entsprechen, Vetter Jonathan; es liegt immer eine gewisse Berechtigung darin. - seyd Ihr nicht auch Poet, Vetter Jonathan?" fuhr er nach einer Pause fort, während welcher seine hand über die Stirne glit und seine Augen sich schlossen. "Eure Zeugnisse wenigstens widerlegen die Annahme nicht," fügte er ironisch lächelnd hinzu.

Swift hatte sich damit beschäftigt, dem hohen Dichterschwunge Pindars in Versen, die er Oden überschrieb, auf schwerfälligen Fittichen nachzuziehen, und dabei wenigstens die Befriedigung gehabt, von keiner Gefahr, wie Ikarus ihr unterlag, sich bedroht zu sehen. Er hatte sie zu sich gesteckt, um sie bei schicklicher Gelegenheit Sir William zu zeigen und ihn so vielleicht auf geistige Fähigkeiten aufmerksam zu machen, welche so wenig aus den Zeugnissen von Trinity-College sprachen.

Als er dem alten Ritter seine Oden leicht erröthend überreicht hatte, wollte er sich entfernen; aber jener hielt ihn. "Wartet, Jonathan, ich will Eure Verse gleich lesen; nachher möchte ich es vergessen: Ihr könnt dsie wieder mitnehmen." - er las, aufmerksam anfangs, dann rascher und rascher; über die lezten Seiten des kleinen Hefts glitt sein Auge in wenigen Sekunden. - "So, so," sagte er, "Ihr schreibt Pindarische Oden; es ist gut, daß Ihr euch den Alten in die Arme werft." Der Vorzug der classischen Literatur von dem Neuern war Sir Williams Steckenpferd. "Aber Eure Oden, fuhr er fort, - "nun, haltet Euch nur an die Classiker; studirt auch den Lucrez; was von den Neuern taugt, findet Ihr in meiner Abhandlung über die Poesie hervorgehoben. Der größte Genius und begabteste Dichter in unserer Sprache, wie in allen andern modern, ist Sir Philipp Sidney; lest ihn; es ist ein Mann, der geboren ward, die großartigsten und schönsten Ideen zu enthüllen und zu gestalten, ja uns allen zum Muster zu dienen. Wäre nur sein Leben so lang gewesen, wie seine Tugenden und sein geist selten waren." Temples Großvater war Sir Philipp Sidneys Sekretair gewesen. "Aber meine Oden?" fragte Swift zögernd, als er sie aus den Händen Sir Williams zurücknahm.

"Nun, Eure Oden, Jonathan, haben wohl etwas Kraft und Ungewöhnliches, aber die Ausdrücke der Empfindungen sind oft gezwungen und überladen, oft triviale Prosa; das Metrum ist unregelmäßig und hart. Ihr habt die Kraft schlecht angewandt. Am besten wär's, wenn Ihr erst einem ernsthaften systematischen Studium Euch hingäbet und das Schreiben seyn ließet."

Nach dieser demühigenden Kritik beurlaubte Sir William freundlich seinen Amanuensis. Aber das milde Lächeln, das die Züge des strengen Richters begütigend angenommen hatten, war an den jungen Dichter umsonst verschwendet; er hörte nur das Vernichtende der Antwort, und wenn er auch an der Richtigkeit des Urtheils und Sie Willliams Befähigkgung dazu nicht zweifeln konnte, würde es ihm doch schwer gefallen seyn, sich die innere Befriedigung zu versagen, auf seinem stillen Zimmer die Aufsätze über Poesie und Gartenkunst, welche er abschreiben mußte, matt, geistlos und unendlich oberflächlich zu finden. "Form, nichts als Form!" rief er aus; "meine Oden mögen unbeholfen seyn, wie alles Bewegen meines schwerfälligen Gehirns, aber so viel Witz, wie in diesem glatten Seifenwasser eines räsonnirenden Diplomaten steckt, wiegen sie dennoch auf."

Swift hatte Talent für die niedrige, burleske Art der Poesie, die er später anbaute, aber keinen ursprünglichen Dichtergenius, der mächtig genug gewesen wäre, sich in lyrischem Schwunge zu erheben. Das Talent wird durch den Tadel erbittert und zürnt dem tadelnden; das Genie nicht; es kann den Glauben an sich selbst verlieren, getäuscht dem eigenen engen Schädel zürnen, der seine geistige Kraft borniert, aber nicht dem, der ihn so täuscht. Talent und Genie haben das gemein, daß sie trotz dem fortfahren, Verse zu machen; dieses aus innerem Drange; jenem liegt auf dem Wge zum Parnaß die Eitelkeit wie eine Fußangel und fesselt, wer einmal als unberufener Eindringling den Fuß darauf gesezt hat, -  Swift fand in der Art Temples, mit ihm umzugehen, eine gewisse Geringschätzung; diese kränkte ihn noch mehr als sein absprechendes Urtheil über seine Oden. Er glaubte ihr mit höherem Stolze begegnen zu müssen, so wenig Sir William der Mann war, sich imponiren zu lassen. Demüthigungen sind für ein stolzes Gemüth eine gefährliche Medicin; sie lassen das in ihm schlummernde Selbstgefühl zu desto lebendigerem Bewußtsein aufwachen. Sie stacheln nur, wie Peitschenhiebe einen wüthenden Löwen.


(Dorothy Osborne, Lady Temple,  1627-1695, zur Zeit von Temples Botschaftertätigkeit in den Niederlanden.)

Vor der Mittagstafel ward Swift der Lady Temple vorgestellt, einer hohen, freiaristokratischen Gestalt mit harten, etwas unweiblichen Zügen, in denen nichts von Eigenschaften sprach. die sie über das Niveau der alltäglichen Erscheinungen ihres Geschlechts emporgehoben hätten. doch war sie Freundin der Königin Maria, die im beständigen Briefwechsel mit ihr stand, und den feinen Styl, die witzigen Bemerkungen der bejahrten Dame viel bewunderte. Auch hatte sie ein merkwürdiges Beispiel von Herzhaftigkeit einst auf der See abgelegt, als die holländische Flotte die Segel vor der königlichen Jagd von England, auf der sie fuhr, nicht streichen wollte. Sir William sagte deshalb scherzend: "er habe zu oft mit den Vereinigten Provinzen Frieden geschlossen, als daß es ein Wunder sey, wenn seine Frau mit ihnen Krieg habe anfangen wollen."

Swift beschloß, durch ein lebendiges, geistreiches Gespräch zu glänzen und mit dem Reichtum seiner zusammengelesene Kenntnisse den Beweis zu führen, wie weit er geistig über dem Bilde stehe, daß Sir William sich von ihm zu machen schien. Nachdem er sich neben den Hauskaplan gesezt hatte, der die einzige Tischgesellschaft der Herrschaft bildete, begann er über politische Fragen der Gegenwart zu reden und fragte endlich den alten Ritter nach Mylord Ashley, Graf Shaftesburys, des Haupts der Cabal, Antheil an den verkehrten Maßregeln, welche endlich die jüngste Revolution von 1688 herbeigeführt hatte. Sir William liebte Ruhe bei seinen Mahlzeiten, die nur von irgend einer abfälligen Bemerkung der Lady Temple über die Zubereitung und Anordnung der Gerichte unterbrochen zu werden pflegte; eine solche, geradeswegs auf ihr Ziel gehende Frage fand der alte diplomatische Herr nun vollends lästig und keineswegs gerathen, sie offen zu beantworten. Swift ließ sich durch sein ernstes Schweigen nicht irre machen. Er fragte Lady Temple nach dem wunderlichen Bilde auf dem Corridor vor seinem Zimmer; er wünsche zu wissen, welches Ereigniß es vorstelle.

Das Bild war die Darstellung eines Kampfs, in dem eine Jungfrau aus der Lady Geschlecht, eine Osborn von Chickland, gefallen war, erschossen, wie man behauptete, von der Hand ihres Geliebten, und nun ohne Ruhe im Grabe und zuweilen sich in den Räumen zeige, welche die jüngste Enkelin ihres Stammes bewohnte. Andere sagten, wo jetzt Moor-Park stehe, habe früher eine alte, aus den Zeiten des Königs Ethelbald herrührende Burg eines Urahns von Sir William Temple gestanden; der habe Leiric geheißen und sey erster Graf von Leicester gewesen und habe zum Weib gehabt Godina, jene berühmte Frau, die am hellen Tage nackt durch die Straßen von Coventry geritten, um den Bürgern ihre Privilegien wieder zu verschaffen. Das sey nämlich die Bedingung gewesen, welche der den Bürgern zürnende Graf ihr gestellt, im festen Glauben, daß sie ihn nicht beim Worte nehmen werde. Später sey sie in der Schlacht gefallen und gehe nun um, in dunkler Eisenrüstung und rothem Helmzier. So behaupteten die Untersassen von Moor-Park. Aber gewiß war es nur und Jedem bekannt, daß es nicht räthlich sey, in der Anwesenheit der gestrengen Lady auf das auffallende Schlachtstück, das in die düsterste Ecke von Moor-Park relegirt war, anzuspielen. Swift sollte das inne werden. Bei seiner Frage furchte sich ihre Stirn auf eine Weise, daß ein darauf angebrachtes Schönpflästerchen völlig in einer tiefe Runzel sich begrub; die Nase der Dame schien an Länge und Dünne zuzunehmen, daß man sie hätte einfädeln mögen, die Öffnungen blähten sich auf, die bleicher gewordenen Lippen fuhren auseinander, als wollten sie einem leisen Schrei des Schreckens Luft machen; dann sprach sie. "Esset nicht von den Gurken, Sir William; der Ingwer könnte Euer Blut erhitzen."

Trotz des gleichgültigen Tones, womit diese Worte gesprochen wurden, hielt Swift es nicht für räthlich, auf die Frage zurückzukommen, oder zu der anderen überzugehen, welche ihm auf den Lippen schwebte, nämlich nach der geharnischten Jungfrau, welche er am Abend zuvor gesehen. Es ging deßhalb zum früheren Gegenstande der Unterhaltung zurück, sprach von dem treffenden Einfall, das Ministerium der Herren Clifford, Ashley, Buckingham, Arlington und Lauderdale nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen die Cabal zu nennen, und so sie in einem Worte zu verewigen, welches eine Bezeichnung für alles Schlchte, Ränkevolle geworden, und meinte endlich, John Bull müßte in den siebziger Jahren noch ganz um seine alte Energie gekommen seyn, sonst würde er alle fünf intriguirenden Verräther sammt ihrem König von London Bridge und die Themse geschleudert und ersäuft haben.

Bei diesen Worten stand Lady Temple von ihrem Sitz auf und begab sich in ihr Kabinet; Sir William durchfuhr eine innere Bewegung, die ihn mit dem Kopfe heftig zucken und klirrend eine große silberne Gabel auf den Boden fallen ließ. Er faßte sich schnell. "König Karls des zweiten in Gott ruhende Majestät," sagte er mit tonloser Stinmme, "war ein gnädiger und wenn auch mißgeleiteter, doch gutmüthiger und fröhlicher Herr." - Die Tafel war gestört. Sir William erhob sich nach wenigen Minuten und folgte, auf die Schulter Billy's gestützt, der am Buffet, auf seinen Hausmeisterstab gestützt, Wache hielt, seiner Gemahlin in ihr Zimmer nach.

Der Hauskaplan öffnete jezt zum ersten Male den Mund. "Dans la maison du pendu on ne parle pas de la potence. Ihr wißt wohl nicht, daß Sir Williams einziger Sohn sich unter London Bridge in die Themse gestürzt hat, Sir?" - "Freilich habe ich das gehört!" erwiderte Swift, sich vor die Stirne schlagend. - "Auch liebt Lady Temple keine Anspielungen auf das Gemälde, desen Ihr erwähntet; man will etwas Besonderes an dem Bilde finden, und obwohl ich die Sache für sehr natürlich sehr erklärbar erachte, da sich unter dem Corridor Sir Williams Pferdestall befindet, behaupten doch einige Leute, in stürmischen Nächten den verwundeten Rappen laut wiehern gehört zu haben; sie bleiben dabei, daß man nur, um die Sache zu verdecken, den Pferden im Herrnhause selbst einen Raum angewiesen habe, da sie doch in die Nebengebäude gehörten." - Unterdeß war Billy aus dem Kabinet zurückgekehrt, wohin er seinen Herrn geleitet hatte; er pflanzte sich, einen Schrecken und eine Wichtigkeit heuchelnd, wovon er wahrscheinlich nicht durchdrungen war, vor Swift auf und sagte sarkastisch: "Ihr habt nun freilich beweisen, daß weder Sir William noch ich Bullenbeißer sind; sonst würde man Euch anders die Zähne weisen." - "Laßt Sir William aus dem Spiele, Mensch, wenn von Hunden die Rede ist; was Euch betrifft, so kuscht, bis man Euch pfeift."

Swift sprach die derbe Antwort mit einer Ruhe und einem Stolze aus, daß Billy wie angedonnert es zu keiner Antwort brachte, wie wuthentbrannt sein Gesicht auch aufflammte. "Dir stell' ich ein Bein unter," sagte er nur leise für sich, als er zum Silbergeräthe auf dem Buffet zurückging und Swift den Speisesaal verlassen hatte, um mit dem Kaplan einen Spazirgang durch die Gärten zu machen.

Unterdeß hörte Sir Wiliam Temple im Kabinette seiner Gemahlin eine ausführliche Rede an, die sich des Weitern über den stupenden Mangel an Erziehung verbreitete, welcher sich in dem Betragen unseres Helden an den Tag lege. - "Ein schrecklicher Mensch! not a bit of high life about him!" schloß Lady Temple, "he is chocking! - "Aber was wollt Ihr, daß ich thun soll?" versetze Sir William resignirt; "ich kann ihn doch nicht aus meinem Hause weisen und hilflos lassen; er ist Euer Vetter, Lady Temple!" - "Vetter! mein Vetter? ich glaube nicht, daß ein Osborn von Chickland je fähig gewesen ist, einen solchen Vetter zu haben," erwiderte die Lady entrüstet. - "Diese Aufwallungen schaden Euch, meine Theure, beruhigt Euch; ich will versuchen, was sich aus ihm machen läßt; er hat bei alledem seine Anlangen. Für's erste mag er auf seinem Zimmer allein speisen."

Als Billy am andern Tage diese Anordnung des Hausherrn mit großer Wichtigkeit notifizirte, war dieser, wenn auch betroffen und geärgert, doch nicht so tief davon gekränkt, als der rachefrohe Haushofmeister erwarten mochte. Er war ohnehin entschlossen, nach einem so unglücklichen Debut Moor-Park zu verlassen; der unkluge Schritt möge ihn kosten, was er wolle. Es fehlte ihm nur ein recht eclatantes Argument, um ihn vor sich selbst, vor seiner Mutter rechtfertigen zu können. - Billy hatte ihm das Argument mit seinen Speisen auf sein einsames Zimmer gebracht.

          II.
Swift hing an seiner Mutter mit einer innigen Liebe; er wußte, wie sein Entschluß sie betrüben würde, und dies veranlaßte ihn, von Tag zu Tag das Schreiben des Briefes aufzuschieben, in welchem er ihr seine baldige Rückkehr melden wollte. Es vergingen endlich Wochen, Monate; es haßte alles Unangenehme; es flößte ihm eine unüberwindliche Scheu ein. So kam der Frühling des Jahres 1689 heran, ohne daß er seinen Vorsatz ausgeführt hätte. Sir William war unterdeß gegen ihn freundlicher und achtungsvoller, er war augenscheinlich auf die geistigen Gaben des jungen Mannes aufmerksam geworden, der zwar nicht leicht begriff, aber desto tiefer und nachhaltiger das einmal Empfangene verarbeitete.

Sir William war die einzige Person, mit welcher er ein oder zweimal täglich zusammenkam und sich unterhalten durfte; der alte Riter war gesprächig und wurde gern so offen, wie er es jezt nach seiner langen, diplomatisch schweigsamen Laufbahn, um sich zu entschädigen, seyn durfte. Der Hauskaplan schien ihn dagegen zu meiden; von den weiblichen Bewohnern des Hauses wurde ihm nur zuweilen eine über den Hof sich bewegende jugendliche Gestalt sichtbar, sonst schienen sie sich in strenger Abgeschiedenheit zu halten; das Fenster im Thurme gegenüber blieb den ganzen Tag verhängt. Swift war an Einsamkeit gewöhnt; sie war ihm nach und nach theuer geworden, in demselben Maße, als sie ihm gefährlich wurde. da sie ein hartes, verschlossenes Gemüth starrer und in einseitigen Richtungen fester, ein weiches tiefer und sinniger macht. So trug er das eintönige, farblose Leben in Moor-Park, wie er es im Trinity-College getragen hatte, ohne Freude und ohne entschiedene Trauer, ohne jene Wehmuth, die mindestens einige Strahlen von Poesie in ein solches vegetirendes Dämmerleben schimmern läßt.

Es war ein sonnenheller Frühlingstag auf mehrere dunkle gefolgt, die mit ihren Nebeln verhüllende Vorhänge vor ein glänzenderes Daseyn gezogen zu haben schienen, Wenn Swifts Auge wie das eines Gefangenen trübe aus seinem Fenster in den verschleierten Wald vor ihm hinausspähte. Er hatte den halben Tag oben auf der Leiter in Sir Williams Bibliothek gestanden und sich, wie es ihm gewöhnlich geschah, in den ersten besten Band vertieft. Jetzt trieb es ihn hinaus in das Freie. Eine ungewöhnliche Regsamkeit herrschte heute in Moor-Park; auf den sonst so stillen Corridors erschollen die Schritte und Rufe eilender Domestiken; die Essen wirbelten ungewöhnlich dichte Rauchmassen in die heitere Bläue des Himmels hinauf, die Fenster wurden gelüftet und Teppiche und Feiertagslivreen ausgestäubt. Swift vernahm auf seine Frage, König Wilhelm werde heute in Moor-Park erwartet.

Die Vorbereitungen zu einem Feste haben eine wunderbar aufregende Gewalt; sie machen froh und sehnsüchtig, sie wecken das Festbedürfnis des Geistes, der nach all den Werkeltagen sich nach den Feiertagen des Seelenlebens sehnt. Der Abendhimmel mit den eigenthümlichen, winterlich rothen Purpurtinten, die wie eine Nordlichtröthe dem Himmel einen Anhauch von gespenstischem Dräuen geben und es auch in ein Frühlingsabendroth hauchen können, glänzte in Swifts Gemach und vergoldete die aufknospenden, wie von einem grünen Duft des ersten Laubes überzogenen Buchenwipfel im Walde. Es zog ihn hinaus mit einer Sehnsucht, wie sie ihm jedesmal diese schwindenden Strahlengluten weckten. Er betrat die Gärten von Moor-Park. Als er um die Ecke einer Taxushecke bog, die einen Schwan mit flatternden Fittichen vorstellte, sah er auf den andern Seite der immergrünen Wand einen Fremden stehen, der aufmerksam den kunstreichen Zuschnitt der Figur betrachtete. Er trat auf Swift zu.

Es war ein hochgewachsener Mann, der den Vierzigern nahe zu stehen schien, eine stattliche Gestalt mit classisch edlen Zügen und einem freundlichen, blauen, etwas ungewöhnlich vorstehenden Augenpaar; die auffallend stark gekrümmte Adlernase war der merkwürdigste Theil seines Gesichts. Er war ziemlich einfach gekleidet, in jener Tracht, welche am Ende des siebzehnten Jahrhunderts den Übergang von dem Costüm des Mittelalters mit seinem pittoresken Reichthum zu den modernen Moden bezeichnete, und in Frankreich damals, im Schnitte der Hoftrachten Ludwigs XIV., vielleicht noch nicht den Gipfel der Geschmacklosigkeit erreicht hatte. Der Fremde trug einen goldgestickten Rock von blauem Sammt, dessen Ärmel fast nur aus den colossalen Auffschlägen bestanden, um den längeren Ärmeln des Juste-au-Corps und den gewaltigen Spitzenmanschetten die Bedeckung des Unterarmes zu überlassen. Kostbare niederländische Spitzen umkränzten ebenfalls die Beine über den faltenreichen Stiefeln von gelbem Leder, an deren hohen Absätzen goldene Sporen klirrten. Ein betreßter Hut mit orangegelben Straußfedern bedeckte sein in dunkelbraunen Locken auf die Schultern herabfallendes Haar. Er war mit einem leichten Galanteriedegen bewaffnet.

Der Fremde grüßte Swift, indem er den Hut berührte, und fragte: "Habt Ihr keine Spargeln hier?" Gewiß des Königs Küchenmeister, dachte Swift und führte den Fragenden zu einem Mistbeete, wo die Gartenfrucht, wie er glaubte, zu finden war. - "Wer seyd Ihr?" fragte der Fremde wieder, als sie durch die gewundenen Gänge zwischen den in allerlei zackigen Gestalten, Halbmondformen u.s.w. angelegten Blumenbeeten schritten. "Der Sand ist gut," sprach er dann weiter, "dunkelgelb und feucht; nur England hat solchen Sand und so guten Rasen. Sir William versteht die Gartenkunst. Sagtet Ihr mir Euren Namen?" - Swift blickte zu ihm auf, um nach der Berechtigung zu dieser Frage zu forschen; als er aber in dem Gesichte des Fremden nur Wohlwollen und Freundschaft las, antwortete er: "Ich bin ein Vetter Sir William Temples und ein Sohn der Smaragdinsel, Jonathan Swift, Dublin." - "Was denkt man in Irland?" - Was denkt man? Nun, nicht viel, das bin ist gewiß; es ist Patricks starke Seite nicht. Die Engländer nehmen ihm sein Getreide, seine Früchte, den Erwerb seines Schweißes, seine Menschenrechte; und nur die schöne Natur des grünen Erin lassen sie ihm, und dafür überläßt er ihnen das Denken, wo das endlich hinaus soll. Er hält sich an die Natur und was ihm die Steuern von seinen Kartoffeln übrig lassen. Armes Erin!"

"Man hat eine unmenschliche Politik gegenüber Irland verfolgt," sprach der Fremde, "und was noch schlimmer ist, eine thörichte. Es ist empörend! Aber so lange diese hochkirchlichen, unchristlichen Herrn - Ah, da sind ja die Spargeln! - so lange die bill of rights einem menschlicher denkenden Fürsten die Hände bindet - que peut-on faire?  Könnt Ihr die Spargeln auf holländische Art stechen?" - "Nein, ich verstehe wenig von Eurer Kunst," versetzte Swift; "Ihr seyd wohl Gartenmeister des Königs?"  -"Ich bin der Meister der Gärten des Königs, da habt Ihr sehr recht geschlossen," sagte lächelnd der Fremde und stach mit seinem Degen nach einer der Früchte, die ihre erste Sprossen unter einem Glasdache der Sonne entgegentrieben. "Seht, wenn Ihr dem Stiche diese Wendung gebt, könnt Ihr nie die Wurzel verletzen, und darauf kommt es an." Er nahm die abgeschnittene Pflanze aus der Erde und schlug die aufgehobene Glasbedachung wieder zu. "Ich will sie Sir William zeigen. Sind diese Spaliere von dem alten Ritter selbst gezogen?"

"Ich weiß nicht, Sir," erwiderte Swift, "vielleicht, vielleicht auch von der Gräfin von Bedford, der früheren Besitzerin dieses Gartens. Aber was habt Ihr gegen die bill of rights? Ist sie nicht ein glorreiches Unterpfand brittischer Freiheit und ein glänzender Beweis von dem Selbstbewußtseyn der Nation, von dem Selbstbewußtseyn, das allein die Völker groß macht? Kann Eure Staatsphilosophe etwas andres dagegen anführen, als den chinesischen Gehorsam, welchen man dem gekrönten Erben von Adams väterlicher Gewalt schuldet? Man beginnt daran zu zweifeln und den Streit darüber den Schulen und dem Wortgezänke der Kathedermänner zu überlassen. Welches Recht hat Wilhelm von Oranien an England? kein Stück davon gehörte ihm früher, wo die vier Hufe seines Pferdes hätten stehen können. Aber das Volk hat in ihm den tüchtigsten und edelsten von allen Männern erkannt, die jezt das Geschick Europas in ihren Händen halten. Da hat es mit ihm einen Vertrag geschlossen; es gibt ihm darin viel, sehr viel, sich selbst; es läßt sich wie ein schwaches Weib einen Herrn und Gemahl durch den krönenden Bischof in der Westminsterabtei antrauen. Darf es nicht auch seine Forderungen dagegen machen, wie jedes Weib es darf im Ehevertrage? sich nicht seinen Vorbehalt garantiren lassen und vorsehen für den Fall der Scheidung? Das Band zwischen Fürsten und Volk kann nicht heiliger seyn, als das heiligste, das zwischen Menschen besteht, die Ehe; und doch ist da die Scheidung erlaubt, ja räthlich und sittlich oft. - Nein, Sir, Ihr könnt nichts gegen die bill of rights sagen. Das Volk bedingt sich weniger Rechte darin, als es sich ausbedingen könnte; es bedingt sich die Garantie dieser Rechte durch den Artikel, der ihm die Befugnis gibt, mit den Waffen in der Hand diese Rechte im Nothfall geltend machen zu dürfen. Das ist neu; aber muß nicht, wer Rechte hat, auch eine Zwangsgewalt für sich haben, um dieser Rechte sicher zu seyn? Was helfen sie ihm sonst? Jedes Rechtsbuch in der Welt wird Euch das bestätigen."

Das Fremde sah lächelnd den begeistert Sprechenden an, dann wurde er ernst. "Junger Mann," sagte er nach einer Pause, "ich kann Euch nicht zürnen, daß Eure Gedanken eines Weges laufen mit den Pfaden, auf denen die politischen Räsonnements der Generation sich sich ergehen, jetzt noch einige Berechtigung habend, aber allmählig immer weiter abirrend und endlich zu Abgründen führend, an deren Rand spätere Geschlechter erschrocken aus ihren wachen Träumen von politischen Idealen aufwachen werden. Man wird so lange über die Worte Pascals: la monarchie est fondée sur la raison et sur la folie du peuple nachgrübeln, bis jeder Einzelne darüber zum Thoren geworden ist. Was Ihr da sagt von der Analogie der Ehe und des Verhältnisses zwischen Fürsten und Volk, frappirt mich. Ihr könnt ein bedeutender Politiker werden. Für's Erste freut es mich, daß Ihr nicht im Unterhause sitzt, sondern hier die Gelegenheit habt, bei dem alten Ritter gründlichere Studien zu machen. Denkt zuförderst über das Eine nach: wenn ein Volk bei dem Vertrage mit senem Fürsten sich jedes mögliche Recht reserviren kann, weil es ja vor dem Entschlusse desselben noch frei ist, warum es denn diesen Vertrag überhaupt ein? Warum übernimmt es die drückendste aller Pflichten, den Gehorsam? Warum gibt es die eine Hälfte der Gesetzgebung an einen Menschen dahin, während es nur die andere Hälfte sich, seinen Parlamente vorbehält? Erklärt es nicht dadurch, da die Legislation die höchste Weisheit der Gesammtheit ist, daß auf dem einen Manne, der die Krone trägt, die in Westminster ruht, wie auf den vielen Hunderten, die in Westminster debattiren, zusammengenommen? Das wäre doch absurd!"

Die Redenden hatten die Terrasse erreicht, welche sich längs der hinteren Façade des Herrenhauses von Moor-Park erstreckte und den Garten beherrschte. Der Rand der Terrasse war mit mythologischen Gestalten aus Sandstein geschmückt. Der Fremde lehnte sich an einen mit Rebenlaub umkränzten Genius des Herbstes, der einen getödteten Reiher mit ausgestreckten Flügeln auf dem Rücken trug; er sah in die lezten Strahlen der versinkenden Sonnenscheibe, die die Fenster von Moor-Park vergoldeten. Seine Gestalt bekam etwas sehr Imponirendes in dieser malerischen Attitüde; der Blick, mit dem er wie ungestraft in die schwindenden Gluth des westlichen Horizontes svchaute, war der eines Adlers von einem einsamen, unerstiegenen Felsen; von den Purpurtinten golden überhaucht, war sein Antlitz das eines auf Goldgrund gemalten alten Maccabäers. - Auf dem Thurme von Moor-Park, worin sich im Erdgeschoß die Hauskapelle befand, schlugen plötzlich helle Glocken zu feierlichem Geläute an; man hörte das Krachen des Dachstuhls unter den heftigen Schwingungen; dann folgten heftige Kanonenschläge, die ein nachhallendes, rollendes Echo aus den Bäumen des Waldes lockten.

Der Fremde richtete sich auf. "Ist der alte Ritter kindisch geworden mit seinem Lärmen, wie ihn nur ein holländischer Mynheer auf seiner Buitenplaats für den Bürgermeister von Windschooten machen kann?" sagte er spöttisch. Dann flog sein lebhaftes Auge über die Gartenfläche und die geschmackvollen Verhältnisse ihrer Abtheilungen. „Sir William ist ein großer Gartenkünstler," sagte er; "wie elegant und geschmackvoll diese Anlagen sind! nirgends ein häßliches Quadrat, ein spitzer, stechender Winkel; er ist für die Künste des Friedens wie geschaffen, der schlaue Mediateur. - Wie hat er je ein solches Besitztum je verlassen mögen?" fuhr er fort, indem er auf- und abschritt und Swift die Worte seines leisen Selbstgesprächs entgingen; "aber diese Menschen drängen sich zu Verantwortlichkeiten, ohne eine Ahnung von der Schwere der Last zu haben, nach der sie begierig sind. Sollte denn in Keinem Gemüth genug seyn, um die religiöse Angst zu scheuen, das Geschick eines Volkes lenken zu müssen, ohne anderen Rath, ohne andere Autorität, an die man sich halten könnte, als das eigene schwache Einsehen? - Das alte, schauerliche Fatum ist keine Fabel: es lebt in dem Herzen eines Königs; es herrscht aus ihm heraus und waltet dort mit seiner vernichtenden Gewalt, die sich gegen den über Milllionen schaltenden Hochmuth zurückwendet."

Swift näherte sich ihm wieder und sagte: "Darf ich fragen, wer Ihr seyd?" Der Fremde wandte sich zu ihm um und und blickte ihn eine Zeitlang wie zerstreut an, ohne zu antworten; dann erwiderte er: "Das dürfte Ihr nicht. Jeder gute Engländer sollte mich kennen." Er ging durch die offen stehende Gartenthüre in die halle von Moor-Park, dann weiter durch die gastlich geöffneten Flügel des Haupteinganges jenseits, der auf die Allee nach Farnham schaute. Swift folge ihm; er konnte sich jetzt selbst sagen, mit wem er geredet.

Als Swift auf den Perron der Haustreppe trat, hatte das stille Landschaftsbbild, welches Moor-Park sonst darstellte, wenn es mit seiner stummen Größe am Ufer des Weihers unter den Obstbaumgärten dalag und seine Essen und Thurmzinnen am blauen Horizont dunkel abzeichnete, jetzt eine interessante Staffage bekommen. Drei Reisekarossen, jede mit sechs gewaltigen, langschweifigen flandrischen Rappen bespannt, lenkten aus der Allee um den Weiher auf das Herrenhaus zu. Unten an der Treppe stand Sir William Temple im großen Costüm seiner Würde als Präsident des Court of rolls oder des obersten Gerichtshofs von Irland, in einer ungeheuern Allongeperücke, deren längste Locken den Nacken des in Sammt gekleideten Pagen berührten, auf dessen Schulter er sich stüzte. Zu seiner Linken, doch um zwei Treppenstufen höher, prangte Lady Temple; man konnte es wahrhaft prangen nennen; es war, als habe in ihr der juwelen- und puderreiche Genius des Erhabenen, wie er der epischen Poesie des siebzehnten Jahrhunderts als deus ex machina diente, sich verkörpert. - Jeder Zoll war Feierlichkeit an dieser hohen, stattlichen Gestalt, von der Schleppe des mit Perlen gestickten grünsammtnen Obergewandes, vorn ein formoisinrothes seidenes, über dem Vertugadin aufbauschendes Unterkleid frei ließ, bis zur Spitze des thurmartig hohen Kopfputzes. In zwei Reihen geordnet stand die gesammte Dienerschaft, in der Festliveree in spanischem Schnitt, lange Überwürfe, die aus gelben, rothen und schwarzen Streifen, von oben nach unten laufend, zusammengesezt waren, darüber aufgekrempte Hüte mit Federn gleicher Farbe auf den gepuderten Köpfen. An ihrer Spitze paradirte Billy, der Haushofmeister, eine dreimal größere Kette als gewöhnlich prangte auf dem neuen Wamse; er drohte mit seinem Ebenholzstabe den drei Burschen, die in einiger Entfernung seitwärts eine Batterie von vier kleinen Feldschlangen bedienten. Auf seinem Antlitze thronte das stolze Bewußtseyn, die Ehre des Hauses auf eine glänzende Weise an diesem denkwürdigen Tage aufrecht erhalten zu haben; denn die Entdeckung der Geschützstücke in einem abgelegenen Kellergewölbe und die Idee, vermittlest dieses lange vergessenen Geräths dem Empfang des Königs Wilhelm III. einen besonders kräftigen und lauten Ausdruck von Feierlichkeit zu verleihen, war sein Werk.

Die Wagen nahten sich; man unterschied schon die buntgemalte und vergoldete Schnitzarbeit, die Arabesken und Embleme an den großen, hausartigen Kasten, die sich in langen Lederriemen zwischen den weitausgeschweiften, kolossalen Federn schaukelten. Der Hufschlag der Rosse, das Geklapper des Riemenwerks und das Ächzen der Räder auf dem weichen Sandwege wurde hörbar; Sir William zog eine große goldene Tabatière hervor und nahm ruhig eine Prise; Billy nahm die feierliche Stellung eines Automaten an, glättete allen Ausdruck, außer dem unendlicher Wichtigkeit, aus seinen Zügen, und schoß nur einen wüthenden Blick noch unter den buschigen Braunen her auf seine Konstabler, als in diesem größten aller Augenblicke, wo die Glocken von Thurme heller ihre gellenden Töne in die Abendlüfte schleuderten, gerade der Teufel wie aus alter Liebhaberei in zwei der Schlangen fuhr, daß sie von der Pfanne brannten.

Da ertönte plötzlich eine laute, etwas raue Stimme im Rücken der harrenden Versammlung: „Nun, Sir William, alter Baronellus, soll ich Euch hier an der Schwelle von Moor-Park willkommen heißen?"  - "Um Gotteswillen - Ew. Majestät!" rief sich umwendend der Ritter und eilte trotz seiner Fußgicht rasch die Stufen hinan. "Ihr liebt es, Sire, Eure Unterthanen glücklich zu machen von einer Seite her, wo sie selbst es nicht ahnen noch erwarten dürfen." - Der König schüttelte dem alten Ritter herzlich die Hand. "Erschreckt nur nicht, mein alter Freund; aber laßt dies Läuten und Schießen einstellen, man hört sein eigenes Wort nicht. Glaubt Ihr, Condé habe uns bei Senef nicht Lärm genug hören lassen, um satt davon zu seyn? Ist das eine diplomatische Huldigung für einen alten Degenknopf?" - Billy winkte den Konstablern, doch nicht eher, als bis sie Zeit gefunden, ihre Ungeschicklichkeit durch eine volle Lage wieder gut zu machen.

Der König wandte sich zu Lady Temple. Die Dame war augenscheinlich aus der Fassung gebracht; die von ihrem Rücken her über sie kommende Überraschung hatte den regelmäßigen Verlauf der Dinge aus allem Gleise gebracht; das Ceremoniel war auf den Kopf gestellt, aus dem feierlichen, erhabenen Prolog zu des Königs Aufenthalt in Moor-Park war ein kurzes Impromptu geworden; die gestrenge Dame war damit nichts weniger als zufrieden. Sie liebte das Ungewöhnliche nicht, sie war, wie alle ceremoniösen Menschen, eine wüthende Optimistin; der Grundsatz und Inhalt ihrer ganzen Lebensphilosophie war: Alles, was lange, sehr lange gewesen ist, ist vernünftig. So kam es, daß Lady Temple, zum erstenmal in ihrem Leben vielleicht, den Kopf verloren hatte und ihr die denkwürdigen Worte entfielen: "Ew. Majestät kommen ja wie ein Dieb in der Nacht!"

Als Lady Temple in diese gewiß höchst unziemlichen Worte ausgebrochen war, die für einen Gesalbten des Herrn einen so ehrfurchtverletzenden Vergleich enthielten, beugte sie rasch ihr Haupt, um die Hand des Königs zu küssen, und wurde dabei über und über roth, vielleicht auch von dem plötzlich zurückkehrenden Bewußtseyn in die äußerste Verlegenheit gestürzt. Gewiß ist nur, daß sie in der nächsten Viertelstunde die Röthe beibehielt und sich durch ungewöhnliche Redseligkeit in diesem sonst nie bei ihr bemerkten Zustande von Aufgeregtheit erhielt. - Der König litt nicht, daß Lady Temple seine Hand küßte, er umarmte sie und küßte sie auf die Wange, indem er sagte: "Erlaubt, Lady; Ihr habt hier mit Eurem Gaste William von Oranien zu thun, einem einsam durch Eure Wälder und Gärten irrenden Ritter; wir wollen den König dort in seiner majestätischen Carosse sitzen lasen, so lange sie in dne Remisen von Moor-Park Obdach findet. Seine Majestät ist an etwas Langeweile gewöhnt; denn Wilhelm von Oranien macht ihr oft den bösen Streich, sie sitzen zu lassen, wenn er sie unausstehlich findet. Laßt nur ja die Schläge zu, damit nichts von der Majestät hinausschlüpft und ich sie morgen sauf et sain dahinter wieder finde. Lady Temple, die Königin grüßt Euch. Sir William, wie befindet Ihr Euch?"

"Eurer Majestät meinen unterthänigsten Dank," sagte der alte Diplomat, der klug genug war, die Worte seines Fürsten nicht gleich au pied de la terre zu nehmen. "In diesem Augenblicke mögt ihr keinen mit seinem Schicksale besser zufriedenen Mann in den drei Reichen finden, so glücklich sie auch seit den Tagen sind, wo die Flotte der vereinigten Provinzen den weisesten ihrer Herrscher an ihr Gestade trug." - "Lady Temple," sagte der König lächelnd zu der Dame, welche jezt den Verbeugungen des mittlerweile aus dem Wagen gestiegenen Gefolges der Majestät ihre Aufmerksamkeit zu schenken begann, "Lady Temple; Ihr habt einen gescheuten Herrn zum Gemahl; wenn er seinen Neigungen immer so treu geblieben ist wie seinen Worten, so habt Ihr alle Ursache gehabt, Euer Geschick zu preisen. Seht, in den Styl sprach der kluge Baronellus, bei unserem könglichen Wort, schon anno 68, als er im Haag war, wenn ihn der Großpensionarius um sein Befinden fragte. Es war eine höchst angenehme Sache, an Sir William Temple eine Frage zu stellen, und alle Welt lief und fragte Sir William. Wißt Ihr, was neulich Mylord Shelden von ihm sagte? Ich fragte: Wie geht es Sir William Temple? Wie dem Evangelio, versezte der Erzbischof, alle Leute sprechen gut von ihm. - Damals im Haag," fuhr der König fort, Lady Temple am Arm durch die Hale nach einem Saale im ersten Geschoß führend, dessen Flügelthüren wie durstig nach dem glänzenden Zuge der hohen Gäste geöffnet standen, "damals im Haag war ich noch ein ganz junges Blut, das kaum sein Schwert, und noch weniger seine Zunge in Übung gebracht hatte; ich dachte immer, wenn du so sprechen könntt, wie der Ambassadeur von England! der Mann spricht wie ein Buch, und immer die Wahrheit, wie ein gedrucktes Buch. Jezt geb' ich mehr darauf, wenn ein Buch einmal wie ein ordentlicher Mensch spricht; und mit der Wahrheit dieser gedruckten aber sprechenden Bücher macht man auch so seine Erfahrungen. Alter Herr," wandte er sich zur Sir William um, "Ihr habt die Fußgicht wie sieben Teufel und hättet aufschreien mögen, während Ihr eben von Euren unendlichen Glücke spracht."

Billy schloß in diesem Augenblick die Flügelthüren des Saales, der die Gäste aufgenommen hatte, unerbittlich vor dem Haufen der Gaffer, die, von dem Läuten der Glocken und den Geschützschlägen auf Moor-Park zusammengelockt, in die Halle nachgedrungen waren. Swift stand unter ihnen. "Das der König?" fragte er sich erstaunt, "der ernste Wilhelm III., der große Feldherr Oranien? Den hätte auch ein Anderer für einen Gartenmeister gehalten, mit seinen Spargeln! Es muß ein großer König seyn, oder gar keiner, der so unköniglich plaudern darf."

Er ging in den Garten hinab, wo es tiefe Dämmerung zu werden begann. Der Abend hatte ihn um eine Illusion ärmer gemacht; er wußte wohl, daß  Herrscher nicht wie in den Kinderfibeln mit der Krone auf dem Haupte sich schlafen legen, aber das rein, von aller gesalbten Hoheit entblöste Persönliche war ihm nie aus dem Worte: der König, wo er es ausspreche hören oder gelesen, so wie jezt entgegengetreten. "Wilhelm III. ist ein weiser Fürst," sagte er sich, "aber er könnte weniger seyn, als er heute schien, und wäre doch König; die weisesten und edelsten Männer Englands würden ihm gehorchen, wie sie Jacob II. gehorchten. Seltsame, wahrhaft wunderbare Verkehrtheit!" - Die unendliche Macht des Vorurtheils über die Welt, die unsägliche Thorheit, welche, stark durch die Sanktion der Jahrhunderte, sie in so vielen Dingen beherrscht, ging ihm, nicht wie ein Licht, sondern wie ein riesiger Schatten auf, der ihn erschreckte, ihm wahrhaft bange machte vor dieser Welt, auf der er breit und verdumpfend sich gelagert. Er hatte die geistige Höhe noch nicht erreicht, von wo herab er das Licht hätte erblicken können, das diesen Schatten warf. Für's erste machte ihn die Erscheinung des so leutselig schwatzenden Königs zum Republikaner; das Nachdenken über die Frage, welche Wilhelm III. im Garten seiner Betrachtung empfohlen hatte, die Geschichte der ersten Revolution und des "commonwealth" brachten ihn bald von der Idee zurück, in diesem traurigsten und unerfreulichsten aller Auskunfts- und Schutzmittel gegen Despotie, zu denen ein großes Reich getrieben werden kann, die höchste politische Glückseligkeit zu suchen.

- Levin Schücking

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(Lvein Schücking in jungen Jahren)

(Anmerkungen) Levin Schücking, 1814 in Meppen geboren und 1883 in Pyrmont gestorben, ist heute in Deutschland so unbekannt wie der eigentliche Protagonist seiner Erzählung, Sir William Temple - obwohl ihn zumindest in Münster noch jedermann dem Namen nach kennt, der unweigerlich fällt, wenn von Annette von Droste-Hülshoff und ihrem kleinen Kreis zwischen 1820 und 1845 die Rede ist. Sein umfangreiches Werk ist keinerlei Begriff mehr; der "Furie des Verschwindens" (Hans Magnus Enzensberger) hat sämtliche seiner insgesamt 18 meist historischen Romane, die ihn zu einem der Modeschriftsteller zwischen 1845 und 1870 machten, ebenso verschlungen wie seine zahllosen Kritiken, die ihn zu einem der meistgelesenen Rezensenten der Zeit machten und seine Reisefeuilletons (von Das malerische und romantische Westphalen in 18 illustri(e)rten Heftlieferungen von 1839 bis 1841 - Ferdinand Freiligrath, der zumeist als Mitverfasser genannt wird, schrieb nur die erste Lieferung; der Rest wurde von Schücking verfaßt). Als stilistisches Vorbild dienten ihm die zu seiner Zeit überwältigend populären Romane von Sir Walter Scott; und die Abhängigkeit von dessen erzromantisierender Sicht auf historisches Geschehen und dessen melodramatische Aufladung bis hin zu Elementen des gotischen Schauerromans (bin ich der einzige, den Billys erster Auftritt an den Riff-Raffs in der Rocky Horror Picture Show erinnert?) ist unserem Text ja so deutlich anzumerken wie das Bedürfnis, geschichtliche Ereignisse und Zeitumstände breit zu referieren, in einer Weise, die jedem Lektor die Haare zu Berge stehen ließen. All das findet sich dann in seinen späteren Romanen wieder, vom ersten, Ein Schloß am Meere (1843) bis zum letzten, Etwas auf dem Gewissen (1882). Seine Bezeichnung als "westfälischer Walter Scott" verdankt er der Tatsache, daß seine Romane zumeist in Westfalen und im Rheinland spielen.

"Swift in Moor-Park" ist die insgesamt vierte Erzählung, die Schücking verfaßt (oder zumindest veröffentlicht) hat, nachdem er es 1839 mit der Schriftstellerei versucht hatte. Nach einem Jurastudium in München, Heidelberg und Göttingen war er 1837 nach Münster zurückgekehrt und hielt sich dort zunächst mit Gelegenheitstätigkeiten als Nachhilfelehrer in Französisch und Englisch* nur unter größten Mühen am Leben; als gebürtiger Meppener war er Untert(h)an des Königreichs Hannover; der nördliche T(h)eil des Münsterlandes war nach dem Wiener Congreß unter hannoveraner Verwaltung gerathen, nicht aber die Stadt Münster selbst, so daß er nicht in einer Anwaltscanzlei oder bei Gericht ein Unterkommen finden konnte. Die drückenden Umstände und die Verbitterung Swifts in seinem Text stellen eher ein Selbstporträt dar als eine genaue Schilderung Swifts; überhaupt ist das Bild, das er hier von seinem Helden zeichnet, erstaunlich wenig mit dem, was sich aus den Briefen, den Schilderungen der Zeitgenossen und denen der späteren, genaueren Biographen ergibt, die mit den Vorurteilen über den "verbitterten Menschen- und Frauenfeind" Swift aufgeräumt haben.** Ich vermute, daß Schückings hauptsächliche Quelle für seine Details der lange biographische Abriß ist, den Walter Scott seiner 19-bändigen Gesamtausgabe von Swifts Werk, 1814 bei Constable in Edinburgh erschienen, vorangestellt hat. Auf S. 17 der eigenständigen Buchfassung von 1829, The Life of Jonathan Swift, heißt es "Between the periods of 18th November 1685 and 8th October 1687, he incurred no less than seventy penalties for non-attendance at chapel, for neglecting lectures, for being absent from the evening roll, and for town haunting, which is the academical phrase for absence from college without lincense" und  auf S. 22  -allerdings erst nach einem kurzen Irlandaufenthalt Swifts: "It was now that he experienced marks of confidence from Temple, who permitted him to be present at his confidential interviews with King William, when that monarch honoured Moorpark with his visits, a distinction Temple owed to heir former intimacy in Holland. [...] When Sir William's gout confined him to his chamber, the duty of attending the King devolved upon Swift; and it is recorded by all the poet's biographers, that William offered him a troop of horse, and showed him to cut asparagus the Dutch way." Aus den anscheinend umfangreichen Notizen, die sich Schücking 1839 zum Thema gemacht zu haben scheint, entstand zuerst eine kurze Erzählung, "Samuel Boyse. Genrebild aus dem Leben eines Dichters" (Boyse, 1708-1742, war ein poéte maudit, der unter ärmlichsten Umständen in London dahinvegetierte), im Dezember 1839 in den Nummer 201 und 202 der von Karl Gutzkow in Berlin verlegten Zeitschrift Telegraph für Deutschland erschienen; vom Swift-Roman erschienen nur zwei erste Kapitel, "Aus Swift's Jugend", im Mai 1840 ebenfalls im Gutzkowschen Telegraph publiziert (in den Nummern 75 bis 77), sowie eben "Swift in Moor-Park" im Monat darauf. Entstanden ist der Text jedenfalls in Münster; erst 1841 konnte Annette von Droste-Hülshoff Schücking eine Stelle bei ihrem Schwager, dem Freiherr von Laßberg, als Bibliothekar in Mersburg am Bodensee besorgen. Das Schücking an einem Roman über das Leben Swifts arbeitete, geht auch aus einer Notiz hervor, die Gutzkow dem Abdruck des "Boyse"-Textes in der Rubrik "Kleine Chronik" einfügte: "Von unserem geistreichen Mitarbeiter Levin Schücking in Münster wird ein Roman Swift erscheinen. Bekanntlich lebte der große Satyriker in einem zarten Verhältnis zu zwei Frauen, zwischen denen er wählen mußte, worauf die eine an gebrochenem Herzen starb. Schücking lebt in einem Kreise sehr bedeutender Frauen, wo er den Ton und die Färbung eines solchen zarten Verhältnisses leicht der Natur wird ablauschen können." ("Telegraph für Deutschland," Dezember 1839, Nr. 202, S. 1616)

(* Ich vermuthe, daß sich die Aeußerung Lady Temples, Swift sei chocking statt shocking dem choquanten Verlesen des Cotta'schen Säzzers verdankt.)
(** Schücking läßt sich durch die Sperrigkeiten der verbürgten Tatsachen nicht den Sinn für's Melodramatische verstellen. Swift ist erst im Sommer 1689 als Sekretär in Temples Dienste getreten: Bei der geheimnisvollen Frauengestalt, die außer ihren beiden spukhaften Auftritten am Teich und im nächtlichen Turmzimmer keine Spuren im Text hinterlassen hat, darf man vermuthen, daß Schücking hier Esther Johnson (1681-1728) gemeint haben wird, später als Stella die große bzw. eine der beiden großen Lieben Swifts; Tochter einer Haushälterin aus Moor Park; als Swift sie 1689 kennenlernte, war sie acht Jahre alt; erst nachdem er 1696 wieder in die Dienste Temples getreten war, entwickelte sich daraus eine (fast) lebenslängliche Seelenfreundschaft: fast, weil ab 1723 Esther Vamhomrigh, in Swifts Briefen und Werken "Vanessa" genannt, neben sie trat. Swifts Biographen neigen fast sämtlich zu der Auffassung, Stella sei Sir Williams uneheliche Tochter gewesen.)

Das Morgenblatt für gebildete Leser war zu dieser Zeit die verbreiteste und meistgelesene Publikation für literarische Texte in Deutschland. Allerdings sollte man diese Aussage nicht zu hoch hängen. Schücking selbst schreibt in seinen postum erschienenen Lebenserinnerungen (1886): "Bücher hat man ja nie gekauft in Deutschland - es gehörten damals gar Jahre dazu, bis von Immermanns Münchhausen 400 Exemplare abgesetzt waren - aber damals kaufte man auch keine Journale und Zeitungen. Heine rühmt in seinen Briefen aus Berlin (1822) dem Gubitzschen "Gesellschafter" nach, er habe es als das beste und gehaltreichste Blatt Deutschlands zu einem Absatz von 1500 Exemplaren gebracht; 1840 war das Cotta'sche Morgenblatt das vornehmste und bestredigierte; aber selbst unter der Leitung Hermann Hauffs, des geistreichen und gelehrten Bruders von Wilhelm Hauff, hat es dies Journal, ich glaube, nie zu 2000 Abonnenten gebracht! Die Honorare waren demgemäß äußerst schwach." (S. 151-52). Das Morgenblatt für gebildete Stände erschien seit 1807 im Hausverlag Goethes; 1837 war der Titel in ...Leser geändert worden. Das Format, etwas kleiner als unser heutiges DIN-A4, umfaßte jeweils vier zweispaltig gedruckte Seiten; zumeist erschienen zwei Reiseberichte, Rezensionskolumnen und eben auch Erzählungen als Fortsetzungen über mehrere Ausgaben hinweg, zusammen mit zwei bis drei Spalten allgemeiner Nachrichten sowie Gedichten (Anfang der 1840 Jahre sehr von von Nikolaus Lenau). Die Zeitschrift erschien an sechs Tagen in der Woche und hatte bis 1851 stets einige getrennt geführte Beilagen: Das Kunst-Blatt, das Intelligenz-Blatt, die Extra-Beilage. 1841 erschien dort die zusammen mit Annette verfaßte Novelle "Der Familienschild"; wieder ein Jahr später, 1842, wurde dort die nun wahrlich nicht in Vergessenheit geratene Erzählung "Die Judenbuche" publiziert. Überhaupt ist es interessant, was man beim Stöbern in solchen verschollenen Winkeln der Literatur auftun, sorry, aufthun kann. Im selben Jahrgang, 1841, erschien in den ersten Ausgaben des Januars, in den Nummern 2 bis 4 (2.-4.1.) eine kleine Erzählung des ebenfalls heute verschollenen Freiherrn von Sternberg (einer der Hauptbeyträger des Blattes), dessen vollständiger Name Alexander von Ungern Sternberg (1806-1866) heute nur noch mit dem Titel seiner Sammlung von Kunstmärchen von 1850, Braune Märchen, in schemenhafter Erinnerung ist, die zu ihrer Zeit im Gewand des Volkstümlich-Burlesken das seinerzeit Äußerste an Erotisch-Anzüglichem austesteten. (Der Titel war zur jener Zeit selbstredend unverfänglich. Heute wäre es genau andersherum.) In dieser Fingerübung im Genre dessen, was Fachleute heute als "Proto-Science Fiction", als Vorläufer des Genres vor den ersten "richtigen" Verfassern dieser Spielart wie H.G. Wells und Kurd Laßwitz, bezeichnen, geht es um einen "Tag auf dem Planeten Pluto." Wenn man im Hinterkopf behält, daß die Entdeckung des neunten Planeten (seit 2006 leider seiner planetaren Würde entkleidet) mitsamt seiner Benennung erst 90 Jahre später, 1930, erfolgte, dann könnte man mutmaßen, hier sei einem Autor in absolut unheimlicher Weise ein Blick hinter die Nebel des Zukünftigen gewährt worden. Enfin, es verhält sich anders. Dazu demnächst mehr.



[Nachtrag, 9. April.] Mitunter stolpert man erst nach Abschluß eines Textes über ein paar netter Details, die einer Sache noch eine nette Facette hinzuaddieren. So auch in diesem Fall.

Moor Park. Nachdem die letzten Erben aus der Linie Temples (sein Sohn John hatte zwei Kinder mit der in Schückings Erzählung genannten hugenottischen Erbin) Moor Park 1858 verkauft hatte, richtete der nächste Besitzer, John Frederick Bateman (1810-1889), einer des berühmtesten Wasserbauingenieure seiner Zeit, dort ein Sanatorium für Hydrotherapie ein. Charles Darwin verbrachte im Sommer 1859 zwei Wochen dort zur Kur. Ein paar Relikte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs finden sich heute noch auf dem Gelände von Moor Park. Nach 1940 verlief durch das Areal die Linie B des GHQ, der General Headquarters Line - eines Netzwerks von Verteidigungsinstallationen in Südengland, für die den Fall errichtet wurden, daß die befürchtete Invasion deutscher Truppen Erfolg haben sollte. Hauptsächlich handelte es sich hier um sogenannte "Pillboxes", kleine, rundum mit Schießscharten versehene Betonbunker, aus den im Ernstfall Maschinengewehrschützen die deutschen Truppen hätten nehmen sollen. Zwei solcher Bunker, vom "Typ 24" und "Typ 28," befinden sich bis heute auf dem Gelände vom Moor Park und weist auf das Flüßchen Wey hinaus, das zu Temples Zeit den Abschluß seiner streng geometrisch nach holländischem Muster angelegten Gärten bildete.




(Bildquelle Wikipedia)

Telegraph für Deutschland. Karl Gutzkow, der heute ebenso unbekannt scheint wie Schücking und Temple, war im Januar 1838 Herausgeber der von Campe in Hamburg verlegten Zeitschrift geworden. Geläufig dürfte sein Name Arno-Schmidt-Lesern (und hier schließt sich der Bogen zum Titel dieses Netztagebuchs) von dessen Funkdialog sein, der sich aber hauptsächlich dem Geheimbundroman Die Ritter des Geistes aus dem 1850er Jahren widmet (und seinen Titel daher nimmt); gemäß Schmidts Interessenlage bleibt das Junge Deutschland und die Zeit des Vormärz darin fast völlig außen vor. Gutzkow nannte von seinen Mitarbeitern Schücking, der im ersten Jahr seine ersten Rezensionen dort unterbrachte, immer an erster Stelle. 1839, als seine ersten Erzählungen dort erscheinen, finden sich unter den Beiträgen im Blatt auch im März und April mehrere "Briefe aus dem Wuppertal" - Schilderungen der einsetzenden Industrialisierung und der Prägung durch jenen nördlichsten Ausleger des aus Schwaben stammenden Pietismus.

Die Gründe dieses Treibens liegen auf der Hand. Zuvörderst trägt das Fabrikarbeiten sehr viel dazu bei. Das Arbeiten in den niedrigen Räumen, wo die Leute mehr Kohlendampf und Staub einatmen als Sauerstoff, und das meistens schon von ihrem sechsten Jahre an, ist grade dazu gemacht, ihnen alle Kraft und Lebenslust zu rauben. Die Weber, die einzelne Stühle in ihren Häusern haben, sitzen vom Morgen bis in die Nacht gebückt dabei und lassen sich vom heißen Ofen das Rückenmark ausdörren. Was von diesen Leuten dem Mystizismus nicht in die Hände gerät, verfällt ins Branntweintrinken. Dieser Mystizismus muß in der frechen und widerwärtigen Gestalt, wie er dort herrscht, notwendig das entgegengesetzte Extrem hervorrufen, und daher kommt es hauptsächlich, daß das Volk dort nur aus »Feinen« (so heißen die Mystiker) und liederlichem Gesindel besteht. Schon diese Spaltung in zwei feindselige Parteien wäre, abgesehn von der Beschaffenheit derselben, allein imstande, die Entwicklung alles Volksgeistes zu zerstören, und was ist da zu hoffen, wo auch das Verschwinden der einen Partei nichts helfen würde, weil beide gleich schwindsüchtig sind?
In den niedern Ständen herrscht der Mystizismus am meisten unter den Handwerkern (zu denen ich die Fabrikanten nicht rechne). Es ist ein trauriger Anblick, wenn man solch einen Menschen, gebückten Ganges, in einem langen, langen Rock, das Haar auf Pietistenart gescheitelt, über die Straßen gehen sieht. Aber wer dies Geschlecht wahrhaft kennen will, der muß in eine pietistische Schmiede- oder Schusterwerkstatt eintreten. Da sitzt der Meister, rechts neben ihm die Bibel, links, wenigstens sehr häufig - der Branntwein. Von Arbeiten ist da nicht viel zu sehen; der Meister liest fast immer in der Bibel, trinkt mitunter eins und stimmt zuweilen mit dem Chore der Gesellen ein geistlich Lied an; aber die Hauptsache ist immer das Verdammen des lieben Nächsten. Man sieht, diese Richtung ist hier dieselbe wie überall.
Als Verfasser zeichnet ein "Friedrich Oswald". Der Vorname des erzürnten Autors stimmt; der Nachname ist geborgt. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um die ersten veröffentlichten Texte von Friedrich Engels (vollständig hier nachzulesen).


U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.