25. Februar 2018

Vom Einzelfall und Regelfall

­Die "Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres", ein mehr oder minder offen linkes bis linksradikales Bündnis von Sprachwissenschaftlern, beglückt uns jedes Jahr aufs neue, unter erstaunlichem Medienecho, mit einem neuen "Unwort des Jahres", welches, wie die Jury meint, zum Sprachschatz des Unmenschen gehört und damit aus der Öffentlichkeit geächtet werden sollte. Es ist kein Geheimnis dass es dabei weniger um die Wörter geht (die ohnehin zu diesem Zeitpunkt meist ihren Zenit weit hinter sich haben), als um die Verfemung bestimmter Gedanken- und Argumentationsmuster, die dem linken Mainstream nicht so recht gefallen.
Heute möchte ich mal ein Unwort diskutieren, dass ich nicht mehr so recht hören kann, und natürlich geht es dabei weniger um das an und für sich harmlose Wort sondern eher um die damit assoziierten Gedankenketten, bzw. die Argumentationslinie, die sich permanent aus diesem Wort ergibt. Das Wort lautet Einzelfall.

Ein Einzelfall ist etwas, dass man gefühlt jeden Tag ein halbes Dutzend mal zur Kenntnis nehmen kann, wenn man die eine oder andere Zeitung liest: Deutschland ist inzwischen ein richtiges Land der Einzelfälle gworden und es vergeht eigentlich kein Tag, wo sich nicht wieder ein solcher ereignet hat. Daher ist es recht spannend sich mal die Definiton im Lexikon anzuschauen. Der Duden liefert zwei Definitionen, einmal als "konkreten, einzelnen Fall" und zum anderen als etwas, was eine Ausnahme darstellt, und somit nicht die Regel ist. Die erste Definition ist vergleichsweise langweilig, denn natürlich ist jeder wie auch immer geartete Fall, sei er ein Jahrhundertereignis oder auch etwas was täglich in jeder Stadt ein Dutzend mal passiert, für sich betrachtet ein Einzelfall. Zweite Definition ist bei weitem interessanter, ein Einzelfall ist somit etwas, was nicht der Regel entspricht. Bei Wikipedia ist eine Alternativdefinition (eher ein Korrolar) angegeben, die in das selbe Horn stößt und ein Vorkommnis beschreibt, dessen Wahrscheinlichkeit zur Wiederholung gering ist.
Daraus ergibt sich entsprechend auch das naheliegende Gegenstück, wenn etwas eben doch die Regel ist, bzw. mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit wieder eintritt: Der Regelfall. Entsprechend stehen sich Einzelfall und Regelfall diametral gegenüber.

Warum ist das nun wichtig? Wenn man sich über negative Dinge und deren Bedeutung streitet, ist inzwischen die Behauptung des Einzefalls geradezu der absolute Regelfall (nein, kein Wortspiel). Wenn also in Deutschland mal wieder ein Ehrenmord passiert (was so roundabout etwa einmal die Woche vorkommt), so wird das in der Berichterstattung, nolens volens, jeweils ein Einzelfall. Wenn Rettungssanitäter bei ihrer Arbeit attackiert werden (kommt deutlich öfter vor): Einzelfälle. Die inzwischen mehr und mehr um sich greifende Gewaltwelle gegen Frauen: Einzelfälle. Und wenn demnächst mal wieder der Rechtsstaat ein bischen mehr erodiert wird und wieder das eine oder andere skandalöse Gerichtsverfahren wegen einer Meinungsäusserung losgetreten wird. Alles Einzelfälle. Auch das sich linke Chaoten mehr und mehr zu Richtern darüber aufschwingen können, was öffentlich diskutiert werden darf und was nicht, sind gar nicht so selten eben dann auch nur Einzelfälle.
Die Zielrichtung dahinter ist klar: Bitte keine Forderungen aus diesen "Einzelfällen" ableiten oder gar darauf schließen, dass "wir" ein Problem haben könnten. Einzelfälle kommen eben vor und warum sollte man aus einem Einzelfall eine politische Forderung erheben wollen? Nun, selbst unter Vernachlässigung dessen, dass auch der tatsächliche Einzelfall sich vielfach nicht hätte ereignen sollen oder dürfen, liegt hier ein schwerer Denkfehler vor. Und da ist die Definition interessant: Wenn die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung gering ist. Die ist nur oftmals nicht allzu gering: Wenn die Polizei den offiziellen(!) Ratschlag herausgibt, dass Frauen nicht alleine joggen gehen sollten, dann ist das ja nichts weiter als die Aussage, dass sie in einem solchen Fall die Wahrscheinlichkeit einer Vergewaltigung als deutlich höher ansieht. Also ist die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung eben nicht gering. Also ist es auch kein Einzefall. Sondern ein Regelfall. Und natürlich werden wir auch im kommenden März wieder unsere statistischen zwei bis drei Ehrenmorde haben. Weil die Wahrscheinlichkeit eben nicht gering ist. Auch die Rettungssanitäter, die inzwischen auf manche Einsätze grundsätzlich nur noch mit Polizei- oder Personenschutz ausrücken, sind offensichtlich davon überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit verletzt zu werden, deutlich erhöht ist. Und das linke Chaoten, beispielsweise aber auch im besonderen immer wieder in Berlin, darüber bestimmen werden, wer demonstrieren darf und wer nicht: Mal ehrlich, wer glaubt denn daran, dass das demnächst anders sein wird? Das sind eben keine Einzelfälle. Es sind Regelfälle (geworden).

In der öffentlichen Wahrnehmung darf das allerdings nicht sein. Denn sonst müsste man sich tatsächlich fragen warum Frauen heute gefährdeter sind als vor 10 Jahren. Oder warum Rettungssanitäter heute mit der Polizei zusammen fahren und früher nicht. Aber diese Fragen sind unangenehm, die Antworten eventuell gefährlich, und entsprechend: Einzelfälle. Wenn Sie also, lieber Leser, demnächst in der Zeitung (mal wieder) die Formulierung des Einzelfalles wahrnehmen, fragen Sie sich selber: Wie wahrscheinlich ist es, dass dieser Einzelfall sich in ähnlicher Form in der nächsten Zeit, wiederholt? Wenn die Antwort lautet "sehr wahrscheinlich", dann wissen Sie, dass sie gerade relativierenden Unsinn lesen, der einzig dazu dient, damit Sie sich die entscheidende Frage nicht stellen. Und vielleicht ärgern Sie sich dann auch irgendwann über dieses Wort, so wie ich das tue.

Am Rande sei übrigens bemerkt, dass Einzelfälle durchaus in der BRD dazu genügen, dass der Gesetzgeber aktiv wird. Der Amoklauf von Erfurt war sicher in seiner Art eines der scheußlichsten Verbrechen der letzten 50 Jahre auf deutschem Boden. Dennoch war er, im Unterschied zu dem oben genannten, tatsächlich wohl eher ein Einzelfall. Amokläufe an Schulen sind in Deutschland, auch wenn die öffentliche Wahrnehmung davon abweicht, extrem selten. Die Wikipedia zitiert 10, wobei der älteste fast 150 Jahre her ist. Was den Gesetzgeber nicht daran gehindert hat aus diesem Einzefall eine ganze Reihe von Gesetzen zu ändern und zu verschärfen. Noch extremer ist der Fall des NSU. Denn der NSU ist bis dato die einzige "Terrororganisation" der Nachkriegsgeschichte (und die erfolgloseste Terrororganisation in Europa überhaupt) mit einem rechtsextremen Hintergrund, oder anders gesagt, die Serienkiller Mundlos und Böhnhart sind in der Nachkriegsgeschichte alleine auf weiter Flur. Auch hier hat der Staat bereits ordentlich an seinen Gesetzen geschraubt.Was nicht unbedingt falsch sein muss, aber schon zeigt das das Zeigen auf den Einzelfall selbst in einem solchen nicht unbedingt eine Nichthandeln der Staates impliziert. Beim Fall Amri übrigens, der in seiner Mordfahrt einen Menschen mehr umgebracht hat als die oben genannten, ist mir bis dato nichts entsprechendes bekannt. Aber vielleicht kommt das ja auch noch. Ansonsten ist es halt, ungeachtet dessen, dass er beileibe nicht der erste war (und auch nicht der letzte sein wird), ein, Sie werden es erraten, Einzelfall. (Deswegen stand auch auf jedem zweiten Weihnachtsmarkt das Merkel Lego herum.)


Llarian

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