28. Januar 2018

胡德夫 - Hu Defu (Ara-kimbo)

Der Sonntag den Künsten!



坐斷幾個春天?
又坐熟多少夏日?
當你來時,雪是雪,你是你
一宿之後,雪既非雪,你亦非你
直到零下十年的今夜
當第一顆流星騞然重明 

你乃驚見:
雪還是雪,你還是你
雖然結趺者底跫音已遠逝
唯草色凝碧。

- Hu Defu, 菩提樹下 (pútí shù xià), "Unter dem Bodhibaum" (2017)

Wieviele Frühlinge wird es dauern?
Und wieviele Sommer werden vorbeiziehen?
Jetzt, wo du beginnst, ist der Schnee noch Schnee, und du bist noch du.
Und schon eine Nacht später ist der Schnee nicht mehr derselbe Schnee; du bist nicht mehr derselbe.
Und heute abend in zehn Jahren
wirst du die erste Erleuchtung wie eine Sternschnuppe aufleuchten sehen.

Du wirst zu sehen beginnen.
Der Schnee ist noch Schnee; du bist noch du
obwohl deine Sorgen zurückbleiben wie Schritte, die in der Ferne verhallen.
Nur das Grün des Grases bannt deinen Blick.

Die Textvorlage dieses traumverlorenen Liedes ist ein Ausschnitt aus einem Gedicht des tawanesischen Dichters 周夢蝶 (Zhou Mengdie nach der üblichen Hanyu Pinyin-Transliterierung, nach der in Taiwan bis in die neunziger Jahre gebräuchlichen Wade-Giles-Umschreibung Tchou Meng-tie; 1921-2014) aus dem Jahr 1965. Auch nur flüchtig mit dem Buddhismus vertrauten Leser dürfte sofort klar sein, worauf sich die Verse beziehen: auf die zehn Jahre, die der indische Prinz Siddharta Gautama meditierend unter einem Bodhi-Baum, einer Pappelfeige, ficus religiosa, verbrachte, bevor er zum "Erwachten", eben zum Buddha, wurde. Zhou Mengdie, der eigentlich 周起述, Zhou Qushi, hieß, wurde in Xichuan in der zentralchinesischen Provinz Henan geboren (wem diese Namen nichts sagen: das liegt ungefähr 300 km genau südlich von Beijing), diente während des Bürgerkrieges nach 1945 in der nationalchinesischen Armee der Guomindang Tschiang Kai-cheks und wurde mit seiner Einheit 1948 nach Taiwan verlegt, nachdem sich der Sieg der Kommunisten abzeichnete, ohne daß er je die Chance hatte, zu seiner Frau und seinen beiden Kindern zurückkehren zu können. (Die dramatischen und traumatischen Ereignisse jener Zeit, das Zerreißen der Familien, das Exil auf der Insel waren in Taiwan selbst lange ein Tabuthema - so wie auch die blutige Niederschlagung der Aufstände der einheimischen Inselbevölkerung. Breite Aufklärung, außerhalb von den doch eher geschlossenen Zirkeln der Zeithistoriker hat hier erst 2009 das Werk von 龍應台, Lung Ying-tai, dàjiāng dàhǎi yījiǔsìjiǔ, "Großer Fluß, großes Meer: 1949" geschaffen, das auf fast 500 Seiten zahllose Erinnerungsberichte in der Tradition der oral history präsentiert, die die Verfasserin im Lauf von zehn Jahren in Interviews zusammengetragen hat. Lung Ying-tai, die zwei Jahre. von 2012 bis 2014 Kulturministerin Taiwans war - und nebenbei, als einzige nationalchinesische Autorin, seit Ende der neunziger Jahre regelmäßig Kolumnen für Zeitungen der Volksrepublik verfaßt - hat übrigens zwölf Jahre lang, von 1987 bis 1999, in Frankfurt am Main gelebt, dort geheiratet und unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschrieben. Eines ihrer fünfzehn Bücher, 親愛的安德烈 qīn'ài de Andéliè, "Lieber Andreas...", 2007 publiziert, ist eine Sammlung von Briefen und Emails, die sie an ihren ältesten Sohn geschrieben hat.) Um zu Zhou Mengdie zurückzukehren: nach seinem Ausscheiden aus der Armee 1955 begann er, neben seiner beruflichen Tätigkeit Gedichte in Zeitschriften und als Sammlungen zu veröffentlichen; sein Pseudonym 夢蝶, "der Traum des Schmetterlings", bezieht sich auf die bekannte Passage im 庄子, Zhuangzi (uns im Kielwasser der Übersetzung Richard Wilhelms unter dem im Chinesischen eher ungeläufigen Titel "Das wahre Buch vom südlichen Blütenland" bekannt). Zhous Gedichte kreisen zumeist um die Themen der verstreichenden Zeit und den Tod, oft aus einer buddhistischen Perspektive. (Eine kleine Einführung in Leben und Werk aus dem Jahr 1983, auf Englisch, findet sich in "The vast and lonely spaces of Chou Meng-tieh", zuerst erschienen in der Zeitschrift Taiwan Today.)

Hu Defu, am 10. November 1950 im Osten Taiwans geboren, ist Mitglied der 卑南族, der Puyuma (oder Beina, wie der Aussprache der chinesischen Zeichen lautet), einem der sechzehn "Ureinwohnervölker" der grünen Insel Taiwan, die nicht ethnisch chinesisch sind und deren ursprüngliche Kultur - vor alem in Legenden und Mythen - viele Elemente polynesischer Kulturen aufweist (Archäologen vermuten, daß die Besiedlung der pazifischen Inselwelt ab etwa 1000 oder 500 v.Chr. von Taiwan aus begonnen hat). Die Puyuma umfassen heute gut 16.000 Seelen und leben hauptsächlich im Landkreis Taitung, ganz an der Südostspitze Taiwans gelegen und vom Erscheinungsbild samt Palmen den naiven Betrachter wesentlich mehr als alle Klischees unter dem Rubrum "Südsee" als "China" erinnernd. Hu, als Künstler auch unter seinem Puyuma-Namen Ara-kimbo bekannt, hat sich seit Jahrzehnten für die Rechte dieser Leute eingesetzt, gegen die Marginalisierung, die sie in der Nachkriegszeit (und auch schon vorher während der japanischen Besetzung der Insel, nachdem die Insel 1895 nach dem verlorenen chinesisch-japanischen Krieg vom chinesichen Kaiserreich abgetreten werden mußte). Sein Lied 美麗島, Měilì dǎo ("Die schöne Insel") wurde zur Zeit der Einparteienherrschaft unter dem Kriegsrechts verboten. Hu, der sich selbst als Grenzgänger zwischen verschiedenen Kulturen sieht (angefangen mit seiner Herkunft: seine Mutter gehörte den Peinan - auch dies eine der Namensvarianten - an, sein Vater den Pinuyumaya), der im Zivilstand lange Jahre als Restaurantbetreiber arbeitete, begann sich Anfang der 1980er Jahre musikalisch zu engagieren; zusammen mit seinem Freund Li Shungze startete er eine Kampagne unter den Namen "Singt euer eigenes Lied." Sein erstes Album, mit dem ironischen Titel 匆匆, cōngcōng, "in Eile", erschien im April 2005 (ironisch auch, weil die Musik den Titel völlig konterkariert: die getragenen, stimmungsvollen Balladen, nur mit den ruhigen Pianoakkorden unterlegt, könnten keinen größeren Kontrast zur Überhitztheit des modernen Lebnstempos bilden.) Seitdem folgten im Oktober 2011 sein zweites Album, 大武山藍調, dà wǔshān lándiào, "Bergblues" (大武山, der himmelhohe Berg, ist die chinesische Bezeichnung des Bergs Taimu in Osten Taiwans, und 藍調, "blaue Melodie", ist ein Lehnwort für. tja, den Blues), das er zusammen mit professionellen westlichen Musikern in Nashville aufnahm (wobei in dieser Hinsicht zwischen "dem Westen" und China, ob nun Insel oder Festland, kein Unterschied besteht), Am 26. Dezember 2014 erschien sein drittes Album, 芬芳的山谷, fēnfāng de shāngǔ, "Duftendes Tal". "Unter dem Bodhibaum" findet sich auf seinem vierten Album, 時光, shíguāng, "Zeit", am 16. Dezember 2017 veröffentlicht. (Fast alle Lieder sind übrigens auf Mandarin gesungen; die nennenswerte Ausnahme ist das Titelstück des zweiten Albums.)

2006 gewann er den Preis der "Goldenen Melodie" für das Lied 太平洋的風, tàipíngyáng de fēng, "Wind des Pazifiks" von seinem ersten Album, für das beste chinesische Lied des Jahres.






最早的一件衣裳 最早的一片呼喚
最早的一個故鄉 最早的一件往事
是太平洋的風徐徐吹來 吹過所有的全部
裸裎赤子 呱呱落地的披風
絲絲若息 油油然的生機
吹過了多少人的臉頰
才吹上了我的
太平洋的風一直在吹

最早世界的感覺 最早感覺的世界
舞影婆娑 在遼闊無際的海洋 攀落滑動
在千古的峰臺和平野
吹上山吹落山 吹進了美麗的山谷
太平洋的風一直在吹

最早母親的感覺 最早的一份覺醒
吹動無數的孤兒船帆 領進了寧靜的港灣
穿梭著美麗的海峽上 湧上延綿無窮的海岸
吹著你 吹著我 吹生命草原的歌呀
太平洋的風一直在吹

當太平洋的風徐徐吹來 吹進那生命的深處

最早和平的感覺 最早感覺的和平
吹散迷漫的帝國霸氣 吹生出壯麗的椰子國度
漂夾著南島的氣息 那是自然 尊貴 而豐盛
吹落斑斑的帝國旗幟  吹生出我們的檳榔樹葉
飄夾著芬芳的玉蘭花香 吹進了我們的村莊
吹開我最愛的窗

當太平洋的風徐徐吹來
吹過真正的太平
最早的一片感覺 最早的一片世界

Eine der ersten Erinnerungen:
Wäschestücke an einer langen Leine
Und der Wind des Stillen Ozeans, der durch sie weht
Ein nacktes Kind, das unter ihnen spielt
Und der Wind des Pazifik bläst ewig

Das älteste Gefühl der Welt
Die tanzenden Schatten drehen in den steigenden Wogen des unendlichen Meers
Der Wind weht über seinen ewigen Wellenkämmen
Weht hinauf in das schönen Bergtal
Der Wind vom Pazifik bläst ewig.

Wie das erste Gefühl der ersten Mutter der Welt...
Bringt zahlose verlorene Kinder zurück in den sicheren Hafen.
Bläst über die Meereseng, die endlose Küster entlang
Der Wind vom Pazifik bläst ewig.

Der erste ewige Gefühl des Friedens

- 美麗島, měilì dǎo, "Die Schöne Insel":



臍帶, Qídài, "Die Nabelschnur":





"流星", Liúxīng ("Meteor"), aus dem Jahr 2014:



人生短促如朝露,聚沫幻灭
但人生总要留下一些美丽
就像带着光芒的流星
刹那划过黑暗的天空

Das Leben ist flüchtig wie der Tau, wie Seifenblasen
Aber immer läßt das Leben etwas Schönes zurück
Wie das Licht einer Sternschnuppe
Die unerwartet ihre Bahn über den Nachthimmel zieht.

Da das Jahr 2017 an dieser Stelle mit einer auf Mandarin gesungenen Version von Leonard Cohens "Hallelujah" ausklang, hier Hu Defus auf Englisch gesungene Coverversion:



Und zum Abschluß die erwähnte Ausnahme, der "Blues von himmelhohen Berg". Hier versagt die Kunst dieses Übersetzers: dieses Stück ist vollständig auf Puyuma gesungen. Und die Phrasierung dieses Stückes mag man nun wirklich nicht chinesisch bezeichnen. Oder heute vielleicht doch?









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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.