Manchmal, so scheint es fast, entwickeln auch Zeitgenossen, denen man es zuletzt zutrauen würde, beim Blick in die verhangene Zukunft wahrhaft seherische Gaben. So in diesem Fall, von dem in der Welt am Sonntag vor mehr als 10 Jahren der Journalist Heimo Schwilk berichtete:
Bei einem Rundgang durch das türkisch dominierte Berlin-Kreuzberg überraschte die Politikerin Claudia Roth ihre Gesprächspartner mit einem Geistesblitz der besonderen Art. Man könne doch, meinte die Bundesvorsitzende der Grünen, am 3. Oktober nicht nur die deutsche Einheit, sondern auch den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei feiern. Ihre Vision: Am Nationalfeiertag der Deutschen ertrinken die Straßen in einem Meer aus roten Türkenflaggen und ein paar schwarzrotgoldenen Fahnen.
Am letzten Julitag, 11 Jahre danach, war es dann in Köln soweit: 40.000 (oder mehr) begeisterte Parteigänger und Fans des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan feierten hingegeben das, was sie als Rettung der Demokratie bezeichneten und was in den allermeisten Beobachtern statt dessen Erinnerungen an den Reichstagsbrand oder den Röhmputsch hervorgerufen haben dürfte, auch an die "Säuberungen", mit denen sich kommunistische Regime vor Jahrzehnten vermeintlicher oder tatsächlicher Gegner zu entledigen pflegten: die wohl von langer Hand geplanten Verhaftungen von zehntausenden von Richtern, Professoren, Journalisten, die Vogelfreigabe eines Drittels der Abgeordneten eines demokratisch gewählten Parlaments, Ausreiseverbote für alle Akademiker des Landes, die Schließung von Dutzenden regimekritischer Fernsehsender und Zeitungen, der wohl von niemandem geglaubten "Machtkonkurrenz im Exil", die hinter dem dilettantisch durchgeführten Staatstreichsversuch vor zwei Wochen stehen soll. In diesem Fall hat die Hizmet-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen jene Rolle eingenommen, die in den stalinistischen und post-stalinistischen Regimen den vermeintlichen Anhängern Leo Trotzkis zugeschrieben wurde. Zweifelhaft scheint das nicht zuletzt, weil sich das türkische Militär stets als Wächter der kemalistischen Reformen, der streng säkularen Ausrichtung, die Kemal Atatürk seinem Staat gegeben hatte, verstanden hat und die Militärputsche von 1960 und 1980 mit der Abwehr religiös-fundamentalistischer Tendenzen begründet worden sind.
Ein Zyniker könnte sich auf den Standpunkt stellen, daß man darin auch eine Art Traditionspflege sehen könnte, wenn die Beseitigung des Rechtsstaates von einer Menge auf deutschem Boden als "Bewahrung der Menschenrechte" gefeiert wird (Carl Schmitt erklärte bekanntlich nach der "Nacht der langen Messer" im Juni 1934: "Der Führer schützt das Recht": "Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Rochter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. ... in Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz.")
Da paßt es dann auch ins Bild, daß der neue Sultan das Oberkommando über Militär und Geheimdienst unter sein persönliches Kommando zu stellen beabsichtigt (ob man darin einen klugen Schachzug sehen kann, sei dahingestellt: die oben genannten Regime, von den nordkoreanischen Kims bis zu den gottesfürchtigen Mullahs, übrigens auch die Caudillos der 3. Welt, haben stets auf dergleichen verzichtet; nicht zuletzt, um beim Auftreten von Friktionen "Intriganten" und "Verschwörer" in großem Stil opfern zu können, ohne Kratzer am eigenen Nimbus der Schicksalserwähltheit davon zu tragen.)
Gespenstisch, wie so vieles in diesen Tagen, und seltsam irreal bleibt das Kölner Schauspiel doch: die Menge, die wahlweise "Wir sind Deutschland" skandiert und "En Bülük Türkiye" (Türkei über alles), die die Einführung der Todesstrafe fordert, die wieder und wieder in "Takbir! Allahu Akbar!" (oder dessen türkisierte Form; "Allahu ebkber") ausbricht (u.a. um 16:04, 16:09, 16:32, 16:59) , und immer wieder das Lied singt, mit dem Erdogans AKP im Wahlkampf vor einem Jahr die absolute Mehrheit einfuhr:
Oldu her zaman sözünün eri
Çiktigi yoldan dönmedi geri
Kararlidir davasinda
Analarin duasinda
Recep Tayyip Erdogan
Sözü dosdogru yoktur riyasi
Çiktigi yoldan dönmedi geri
Kararlidir davasinda
Analarin duasinda
Recep Tayyip Erdogan
Sözü dosdogru yoktur riyasi
Zalimlerin korkulu rüyasi
Inandigi yolda gider
Yillardir beklenen lider
Recep Tayyip Erdogan
Er hat immer zu seinem Wort gestanden
Er hat das vollbracht
Was die Straße verlangt hat
und das Haus des Gebets.
Er verspricht das Ende aller Heuchelei
Er schafft, wovon ihr nur ängstlich träumt
Er wird seinen Weg unbeirrt gehen
Der seit Jahren ersehnte Führer
Recep Tayyip Erdogan
(Der kleine Zyniker meint freilich, daß ihn dieses Lied an den deutschen Eurovisions-Beitrag von 1979 erinnert.)
Die Forderung, die in Köln demonstrativ auftretenden Türken müssten jetzt "ihre Loyalität zu Deutschland klären," die gelegentlich in den letzten Tagen laut wurde, ist natürlich Kokolores. Ein solches Auftreten stellt eine so glasklare Entscheidung dar, vor aller Augen, daß daran eigentlich nur Zeitgenossen zweifeln könnten, die bei islamisch motivierten Mordserien unter arabischen "Gott-ist-größer"-Rufen und emphatischen Videobekenntnissen auch nach 15 Jahren prinzipiell erst einmal fragen müssen, ob denn die Täter von ihrem Glauben und dessen Fanatismus motiviert handelten oder ob sie sich das nur eingebildet haben.
Die andere Frage, wie es angehen kann, daß in Deutschland mit Billigung des Staates für ein despotisches Regime demonstriert werden kann, ist müßig. Deutschland hat sich durch Frau Merkels Asylpolitik auf Gedeih und Verderb von dessen Wohlwollen abhängig gemacht; zudem hat man, im Zug jahrzehntelangen "Aufeinanderzugehens" und "Kooperation" mit Behörden wie der staatlichen Religionsbehörde DITIB sich blauäugig in Abhängigkeiten begeben, deren Früchte nun reifen. Der Kaiser steht nackt da, und es ist nicht einmal im Ansatz ein Wille erkennbar, den bisherigen und den zu erwartenden Forderungen der Hohen Pforte etwas entgegenzusetzen, außer schwachen Beteuerungen, daß man solchen Forderungen ganz sicher nicht nachgeben werde: Natürlich wird man der Forderung nach Auslieferung von Anhängern der Gülen-Bewegung nicht nachkommen. Natürlich wird man die Aufhebung der Visapflicht für türkische Staatsbürger bis Oktober nicht zulassen. (Wobei beim letzten Punkt zu beachten ist, daß die Pläne der türkischen Regierung, dreieinhalb Millionen syrischen - und "syrischen" - Flüchtlingen die türkische Staatsbürgerschaft zu verleihen, um sie nach Wegfall der Visumspflicht aus dem eigenen Land auf den Weg nach Europa schicken zu können, wohl den Anlaß für den erbärmlich dilettantisch ins Werk gesetzten Coup d'Etat vom 15. Juli geliefert haben. Um den Korrespondenten der WELT, Denis Yücel, zu zitieren: "Was ist das für ein Staatsstreich mit zwei Flugzeugen und fünf Panzern?") Man wird sich nicht beugen - genauso wenig, wie man sich der Weigerung der türkischen Regierung gebeugt hat, Bundestagsabgeordnete und Staatssekretäre der Hardthöhe zu den auf dem Stützpunkt Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten vorzulassen. Sogar das persönliche Antechambrieren von Frau Merkel hat in diesem Belang nichts bewirkt. (Nb: solche Truppenbesuche beziehungsweise Inspektionen sind Teil der unablässigen parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte; sie können jederzeit und unangemeldet erfolgen; das Areal, auf dem deutsche Truppen stationiert sind, ist ein extraterritoriales Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, so wie Botschaftsgelände oder Schiffe - kenntlich an der deutschen Flagge, die am Eingangsbereich aufgezogen ist. In den Verträgen zur Truppenstationierung wird auf diesen Punkt express abgehoben. De facto hat sich die Türkei mit dieser Weigerung den Oberbefehl über deutsche Truppen angemaßt. Da weder das Bundesministerium der Verteidigung noch die Bundesregierung das zum Anlass für einen sofortigen Truppenabzug genommen haben, kann man der Türkei freilich einräumen, daß sie sich nur herausnimmt, was man ihr zugesteht.) Genausowenig, wie man sich dem Ansehen des Paschas vom Bosporus verweigert hat, einen fünftklassigen deutschen Comedian wegen eines (in der Tat degoutanten: aber Kunstgeschmack fällt in Staaten mit Meinungsfreiheit nicht unter justiziables Verdikt) infantilen Schmähgedichts vor den Kadi zu ziehen.
Die andere Frage, wie es angehen kann, daß in Deutschland mit Billigung des Staates für ein despotisches Regime demonstriert werden kann, ist müßig. Deutschland hat sich durch Frau Merkels Asylpolitik auf Gedeih und Verderb von dessen Wohlwollen abhängig gemacht; zudem hat man, im Zug jahrzehntelangen "Aufeinanderzugehens" und "Kooperation" mit Behörden wie der staatlichen Religionsbehörde DITIB sich blauäugig in Abhängigkeiten begeben, deren Früchte nun reifen. Der Kaiser steht nackt da, und es ist nicht einmal im Ansatz ein Wille erkennbar, den bisherigen und den zu erwartenden Forderungen der Hohen Pforte etwas entgegenzusetzen, außer schwachen Beteuerungen, daß man solchen Forderungen ganz sicher nicht nachgeben werde: Natürlich wird man der Forderung nach Auslieferung von Anhängern der Gülen-Bewegung nicht nachkommen. Natürlich wird man die Aufhebung der Visapflicht für türkische Staatsbürger bis Oktober nicht zulassen. (Wobei beim letzten Punkt zu beachten ist, daß die Pläne der türkischen Regierung, dreieinhalb Millionen syrischen - und "syrischen" - Flüchtlingen die türkische Staatsbürgerschaft zu verleihen, um sie nach Wegfall der Visumspflicht aus dem eigenen Land auf den Weg nach Europa schicken zu können, wohl den Anlaß für den erbärmlich dilettantisch ins Werk gesetzten Coup d'Etat vom 15. Juli geliefert haben. Um den Korrespondenten der WELT, Denis Yücel, zu zitieren: "Was ist das für ein Staatsstreich mit zwei Flugzeugen und fünf Panzern?") Man wird sich nicht beugen - genauso wenig, wie man sich der Weigerung der türkischen Regierung gebeugt hat, Bundestagsabgeordnete und Staatssekretäre der Hardthöhe zu den auf dem Stützpunkt Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten vorzulassen. Sogar das persönliche Antechambrieren von Frau Merkel hat in diesem Belang nichts bewirkt. (Nb: solche Truppenbesuche beziehungsweise Inspektionen sind Teil der unablässigen parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte; sie können jederzeit und unangemeldet erfolgen; das Areal, auf dem deutsche Truppen stationiert sind, ist ein extraterritoriales Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, so wie Botschaftsgelände oder Schiffe - kenntlich an der deutschen Flagge, die am Eingangsbereich aufgezogen ist. In den Verträgen zur Truppenstationierung wird auf diesen Punkt express abgehoben. De facto hat sich die Türkei mit dieser Weigerung den Oberbefehl über deutsche Truppen angemaßt. Da weder das Bundesministerium der Verteidigung noch die Bundesregierung das zum Anlass für einen sofortigen Truppenabzug genommen haben, kann man der Türkei freilich einräumen, daß sie sich nur herausnimmt, was man ihr zugesteht.) Genausowenig, wie man sich dem Ansehen des Paschas vom Bosporus verweigert hat, einen fünftklassigen deutschen Comedian wegen eines (in der Tat degoutanten: aber Kunstgeschmack fällt in Staaten mit Meinungsfreiheit nicht unter justiziables Verdikt) infantilen Schmähgedichts vor den Kadi zu ziehen.
Das einzige, worauf man gespannt sein darf, sind die rhetorischen Volten, mit denen unsere Obrigkeit und ihre Verkündungsmedien das absehbare Einknicken und die Willfährigkeit gegenüber den in Zukunft auflaufenden Forderungen und Zumutungen als "vertrauensbildende Maßnahmen" und "Dialog auf Augenhöhe" zu drapieren versuchen.
Nachtrag;
Die Türkei ist seit dem 18. Februar 1952 Mitglied der NATO. In der Präambel des Nordatlantik-Vertrages, des Gründungsdokuments des Verteidigungsbündnisses vom 4. April 1949, in Kraft getreten am 24. August des gleichen Jahres, heißt es wörtlich:
Die vertragschließenden Staaten bestätigen ihren Glauben an die Ziele und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und mit allen Regierungen in Frieden zu leben.
Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Kulturerbe ihrer Völker, gegründet auf die Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des einzelnen und die Grundsätze des Rechts, sicherzustellen.
http://www.staatsvertraege.de/natov49.htm
Nachtrag;
Die Türkei ist seit dem 18. Februar 1952 Mitglied der NATO. In der Präambel des Nordatlantik-Vertrages, des Gründungsdokuments des Verteidigungsbündnisses vom 4. April 1949, in Kraft getreten am 24. August des gleichen Jahres, heißt es wörtlich:
Die vertragschließenden Staaten bestätigen ihren Glauben an die Ziele und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und mit allen Regierungen in Frieden zu leben.
Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Kulturerbe ihrer Völker, gegründet auf die Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des einzelnen und die Grundsätze des Rechts, sicherzustellen.
http://www.staatsvertraege.de/natov49.htm
Ulrich Elkmann
© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.