Jüngst, am Karfreitag, war die Christenheit wieder mit dem Prozess Jesu konfrontiert. „Was ist Wahrheit“, sagt Pilatus und antwortet, indem er geht und keine Lösung erwartet (Joh 18, 38).
Die skeptische Pilatus-Frage ist heute vollends verabschiedet. Als abstrakter Begriff taugt das Wort höchstens noch als Urteilsmaß für ein konkretes Einzelnes: Lüge oder Wahrheit? Und man kennt sogar noch eine halbe Wahrheit. Die Wahrheit selbst, die für das Ganze, scheint metaphysisch weit hinter dem Mond zu wohnen. Tauglichere Begriffe wie Legitimität und Realitätssinn haben den Wahrheitsbegriff abgelöst. Er gehört nicht mehr in einen modernen Werkzeugkasten der Philosophen. Wahrheit wird als unmögliche Fragestellung mit den Erwägungen abgelehnt:
Die ganze Wahrheit könne es für den Menschen nicht geben. Selbst wenn uns ein Stück von ihr erreichbar wäre, dann auch dies nur in der Form von vielen subjektiven und sich womöglich widersprechenden Wahrheiten. Wir müssten uns begnügen mit der pragmatischen, empirischen Wahrheit: Richtig ist, was sich im Leben jeweils bewährt habe.
Aber das Argument des gesunden Menschenverstandes, unsere Annahmen wahrscheinlicher Wahrheiten müsse mit der Realität einigermaßen übereinstimmen, weil unsere Art sonst gar nicht überlebt hätte, ist fragwürdig. Es trifft auf Naturgesetze und technische Auswertung zu, aber kaum auf Geistiges, Weltbilder und Religionen. Ethiken und Religionen könnten wir womöglich so herumtragen wie bestimmte Vögel ihre überlangen bunten Schwanzfedern, solange sie das Überleben nicht stören. Die Götter der Alten stehen inzwischen im Museum. Der Mensch als Wahrheitssucher scheint ein Frühmensch gewesen zu sein.
Der bescheidene heutige Skeptiker kann einem Pilatus nicht einmal antworten im erkenntniskritisch-bewussten Stil von: „Mir scheint, da drüben am Hang weidet eine Ziege, die zumindest auf einer Seite schwarz ist.“ Denn die Frage war, was das meine: Ein Königtum nicht von der Art der Welt, sondern eines für die Wahrheit. Johannes konnte Jesus nur erklären lassen: „König, aber ohne dass meine Leute kämpfen“. Aber wie könnte so ein Reich überleben? Wer definiert seine Verfassung, die Rechte? Wo ist das Land Wahrheit, wem gehört es, Rom oder den Juden oder nur Träumern?
Wir lassen Unvorstellbares wahr sein (z. B. einen nach Einstein gekrümmten Raum), aber das berührt uns dann nicht weiter. Laut Heinrich Heine haben speziell die Deutschen eine Auswegs-Wahrheit gefunden: „Gott ist identisch mit der Welt. (…) Deutschland ist der gedeihlichste Boden des Pantheismus“ (Zur Geschichte der Religion und Philosophie II). Heute ist das häufig abgewandelt zu einer Bio-Religion bei Postchristen und einer Wellnes-Theologie bei Modetheologen: Mach‘s wie Gott, werde Mensch. Wenn beides identisch ist, besteht kein Problem für eine denkerische Spannung.
Die Wahrheit gibt es nur im Einzelfall als Konkretes. Franz Rosenzweig kritisierte die Starrheit jener Philosophen, die das Leben durch ihr starres Staunen anhalten und sich einbohren in das Wesen der Dinge. Sie bannen das Ding in der Zeit zu einem ‚Gegenstand‘ fest, zwingen den Fluss zum Stillhalten. Sie fragen, was ‚der Käse überhaupt‘ sei. Die Idee des Käses? Diese Idee habe noch nie ein Mensch erblickt. Der gesunde Menschenverstand wisse, dass die Realität ein Fluss des Lebens ist und kein Stillstand. Die Lösung wird das weiterfließende Leben zeigen. Nicht einmal der Philosoph frage im Laden, im Ernstfall, was das Viertelpfund Käse ‚eigentlich‘ koste. Er fragt auch seine Erkorene nicht, ob sie ‚eigentlich‘ seine Frau werden möchte. „Nicht ‚eigentlich‘, sondern ‚wirklich‘ ist das Wort des Lebens“ (Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Jüdischer Verlag Athenäum 1984, 32). Wir können daraus lernen: Wir sollten nach der Wirklichkeit der Wahrheit fragen, so wie Genießer nach dem besten Käseladen in der Stadt fragen.
Wann und wie erkennen wir etwas? Wann wird die Abbildung in unserem Wissen auch wirklich eine Annäherung an das Seiende? Es gibt einen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Interesse. Nur wer intensiv suchen will, findet Verstecktes.
Kein Philosoph ging so vom unmittelbaren, intuitiven Erkennen aus wie Arthur Schopenhauer. Mit dem Titel „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ist seine Sicht gut zusammengefasst. „Die Welt ist meine Vorstellung: - dies ist die Wahrheit“, so beginnt das Buch 1, § 1. ‚Welt‘ sei ein Objekt als Anschauung des Anschauenden. Die zweite Seite dieser vorgestellten Welt ist für Schopenhauer der Wille. Mein Wille mache sie erkennbar. Von außen her sei den Dingen nicht beizukommen. „Wie immer man auch forschen mag, so gewinnt man nichts, als Bilder und Namen. Man gleicht Einem, der um ein Schloß herumgeht, vergeblich einen Eingang suchend“ (§ 17). Den Schlüssel hat der Wille des Subjekts, und alle meine Willensbeschlüsse und Erkenntnisse hätten meinen Leib zur Bedingung (§ 18). „Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen“ (§ 22).
Wenn Schopenhauer Recht hat, wäre dann mein Wille nicht nur der Schlüssel zu meinem Verstehen der Welt, sondern wäre letztlich ein Wille auch die Ursache, der Grund, warum sie da ist? Aber welcher? Wer wollte sie?
Die existierende Wahrheit wurde im Mittelalter zugleich auch als das Gute und ungespalten Geeinte gesehen. Man nannte das die vier Transzendentalien (von lateinisch transcendere „übersteigen“). Zum Seienden selbst (ens) gehören Einheit (unum), Wahrheit (verum) und Gutheit (bonum). Es sind die Grundbegriffe, die allem Seienden, also dem Wirklichen, zukommen. Das Böse galt als Beraubung des Seienden. Später nahmen manche auch den Begriff Schönheit (pulchrum) als Name für den Glanz des Wahren hinzu.
Können wir heute damit etwas anfangen? Jedenfalls lernen wir, dass Erkennen, Gestalten und Handeln an die Wahrheit gebunden sind.
Erkenntnis kann nicht auf den relativierenden Standpunkt gebracht werden: Jeder nach seiner Façon. Handeln und Unterlassen müssen sich, wenn es um Sinn und wahres Glück geht, an einem ethischen Maßstab orientieren, sollen gerecht, rechtschaffen und seelisch gesund sein. Der ‚Held‘ in Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ missachtet den Zusammenhang der Transzendentalien, wenn er das kleine Kapitel 31 mit dem Dichterzitat schließt:
„Der Sterblichen Moral als anerkannte Währung
für Schönheit eingetauscht in sterblicher Verehrung.“
Allerdings urteilt er auch selber darüber skeptisch: „kein Mittel gegen meinen Jammer als die schwermütige und sehr fragliche Linderung, ihm künstlerisch Ausdruck zu geben.“
Muss man immer die Wahrheit sagen? Soll der Arzt sie dem Todkranken vorenthalten oder nicht? In unserer heutigen Beratergesellschaft erfährt man aus der Magazinseite Eheprobleme, ein bisschen Lüge könne die Ehe sogar retten. Gemeint ist nicht die Lüge als solche, sondern ein Verschweigen. Kann in diesem Sinn ein Gutes daraus hervorgehen, dass die Wahrheit durch ihr faktisch behauptetes Nichtexistieren hilfreich wird? Na schön, sagt man heute zu dem doch Unschönen. Denkt man an die obigen Transzendentalien und die Schönheit als Glanz der Wahrheit, kommt man eher zum Urteil: Vielleicht existiert diese Ehe gar nicht mehr. Könnte hingegen der eine gestehen und der andere vergeben, würde sie, geprüft, bestehen.
Ein Bibelleser wie ich steht vor einer sehr krassen Wahrheit. Er glaubt eine Wahrheit, von der er weiß, dass sie nicht zu beweisen ist. Das darf er von Anfang an bis zum Ende nicht verdrängen. Nur dass die Zweifel existieren, macht es möglich, dass dieser Glaube erstens ein Glaube und zweitens frei ist. Er mag die Wahrheit verdrängen, dass er früher oder später sterben muss, eines Tages holt ihn in jedem Fall der Tod ein. Das kann man beweisen. Aber dass es eine alte und noch lebendige Geschichte Gottes mit einem Volk gibt, eine dramatische Liebesgeschichte mit tausend Ehebrüchen auf der menschlichen Seite, das muss er glauben ohne strikte Beweise. Er darf mit Gott streiten, aber der Treue Gottes muss er trauen, - sonst tritt er aus dem Glauben aus.
Wenn zwei Zeugen einen Unfall beschreiben, können große Unterschiede herauskommen. Die Wahrnehmungsfähigkeit auch neutraler Beobachter ist beschränkt. Der wirklich Schuldige, der das größte Interesse besitzt, bleibt der Wahrheit zu seinen Gunsten vielleicht am fernsten. Nur das Interesse des Richters ist hier objektiv. Die von der Polizei festgehaltenen Indizien haben den größten Geltungsanspruch für den Richter und die Versicherungen. Die Wahrheit kann wehtun.
Im Fall des Lesers des Neuen Testaments steht der moderne Wahrheitssucher ebenfalls vor sehr verschiedenen, sich widersprechenden Aussagen, ob hymnischen oder umgangssprachlichen. Die literarische Gattung Evangelium gilt als ‚Passion mit längerer Einleitung‘. Der Kriminalfall Jesus wird viermal verschieden erzählt. Für Jesu Aussagen im Prozess gibt es natürlich keinen Zeugen und kein Protokoll, auch die Pilatusfrage und die Antwort sind Erfindungen des Schreibers Johannes.
Für die Anhänger war Jesu Tod ein Sieg der Wahrheit. „Es ist vollbracht“, sagen dieses Leben und dieser Tod, nicht der Fast-Tote als letztes Wort. Für die Allermeisten war er als Prophet oder Messias aber gescheitert. Und einen Richter auf Erden, der entscheiden könnte, wer hier Recht hat, kann es in diesem Fall gar nicht geben. Gäbe es ihn, wäre der Glaube nicht mehr Glaube und frei.
So gibt es neben Wissenschaft und Hausverstand und Liebeswahn, die für viele als Wahrheiten fungieren, noch ein Anderes: die herausgeforderte Vernunft, die mit Welterfahrung und Menschenkenntnis urteilten muss und selber der Richter ist. Diese aufgeklärte Vernunft ist – in diesem Fall - ein anderes Wort für den unterscheidend christlichen Glauben.
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.