Ist das, was ihr [der FDP, Anm. Petz] da zum Vorwurf gemacht wird, nicht gerade ihre spezifische politische Tugend – oder doch jedenfalls ein unverzichtbares Ingredienz der Leistung, die sie, und nur sie, für den demokratischen Prozeß erbringt? Was ihr als Unzuverlässigkeit, Wechselhaftigkeit und Neigung zur Taktik angekreidet wird, ist, so kann man argumentieren, notwendig, um politische Verkrustungen aufzubrechen und den in der Demokratie erforderlichen Wechsel gegen die Beharrungskraft der beiden großen Parteien herbeizuführen. Aber wo hört da die Ermöglichung des Wandels auf? Wo fängt das Umfallen an? Wo verhilft diese Unberechenbarkeit wirklich neuen Konstellationen zum Durchbruch? Und wo maskiert sie nur politische Taktik? Das eben ist die Frage. Die politische Existenz der FDP ist immer von ihr umwittert gewesen, aber selten hat sie sich so spektakulär gestellt wie in dieser Situation.
Dabei ist die FDP, aufs ganze gesehen, besser als ihr Ruf. Die Geschichte ihrer Wechsel und Wendungen offenbart zwar nicht gerade eine Partei, die immer dann, wenn der politische Prozeß ins Stocken kam, mit liberaler Überzeugung und kühnen Manövern die Tore für neue Entwicklungen aufgestoßen hätte. Aber die reine Lust am Wechsel ist ihr auch nicht abzulesen. Wenn die FDP einmal das Zünglein an der Waage bildete, dann geschah das selten genug aus Vorsatz oder gar aus Mutwillen. Gewiß spielte da immer das Engagement für Themen und Inhalte eine Rolle, für die Deutschlandpolitik oder den wirtschaftlichen Liberalismus, auch die Fixierung auf bestimmte Personen wie im Falle ihrer Parteinahme für Erhard gegen Adenauer im Jahre 1961. Aber wenn sie den Aufstand probte, dann wurde sie zumeist auch, wenn nicht in erster Linie angetrieben durch den Druck der Umstände und die Furcht, ihre politische Existenzberechtigung zu verlieren, überflüssig zu werden.
Hermann Rudolph: "Umfallerpartei FDP? - Eine Partei eigener Art". DIE ZEIT, 24.09.1982
Niemand verkörperte das große Dilemma der FDP mehr als ihre langjährige Führungspersönlichkeit und späterer Grandseigneur Hans-Dietrich Genscher. Und auch in den Kommentaren und Nachrufen, die heute erschienen sind, schwingt das Urteil des "Umfallers" mit. Man würdigt seine Leistung als treibende Kraft der deutschen Einheit, aber die Tatsache, dass er der FDP angehörte, wird - im Gegensatz zum kurz vor ihm verstorbenen Westerwelle - wohlwollend bis zähneknirschend übergangen.
Dabei war Genscher nicht nur in der Außenpolitik wie auch im Parteienspektrum, sondern gerade für seine Partei eine ungeheure Integrationsfigur - er war der einzige FDP-Mann auf Möllemanns Beerdigung wie auch Leutheusser-Schnarrenbergers Tröster am Abend ihres Rücktritts.
Was ist das für ein Mensch, der mit Brandt und Kohl, mit Reagan und Gorbatschow, und eben mit Schnarre und Mölli kann? Muss der nicht völlig prinzipienlos sein? Viele sahen das so - vor allem diejenigen, denen es in der Politik mehr auf Haltung als auf das Erreichen von Zielen ankommt, und vor allem auf die Grundregel, dass der Freund meines Feindes nicht mein Freund sein kann. Für Rechte wie Linke war Genschers Ping-Pong-Taktik anstößig. Gerade letztere haben ihm bis heute nicht verziehen, was sie als Verrat ansahen. Man muss dabei bedenken, dass für viele deutsche Linke das Dritte Reich nicht 1945, sondern frühestens 1969 mit der Regierung Brandt-Scheel-Genscher beendet war, und die Ostpolitik weckte die Hoffnung einer Annäherung an das, was sie - offen oder insgeheim - sowieso als das bessere System ansahen. Dass es maßgeblich Schmidt war, der Anfang der 80er keineswegs Deutschland an Moskau annähern wollte, sondern im Gegensatz dazu den NATO-Doppelbeschluss gegen massiven Widerstand vor allem aus der eigenen Partei durchsetzen wollte, spielt in der nachträglichen Betrachtung keine Rolle. Denn es war Genscher, der den idealen Sündenbock abgab, womit sich auch das FDP-Bild einer ganzen Generation zementierte. Darunter leidet sie noch heute.
Lässt man mal das politische Freund-Feind-Denken weg, war Genschers Politik vor allem eines: unglaublich erfolgreich. Die Zuckerbrot-Peitschen-Kombination aus Ostverträgen und NATO-Doppelbeschluss war im Endeffekt ein guter Weg, und Genscher konnte ersteres nur mit der SPD, letzteres nur mit der CDU erreichen (ohne übrigens sich später von den Ostverträgen verabschieden zu müssen). Und Genscher war das Musterbeispiel eines Liberalen, der im Umgang mit den politischen Gegnern jederzeit die Sache vor die Weltanschauung gestellt hat.
Und wenn es das ist, was gute Politik ausmacht, dann war er kein Umfaller. Er war ein Stehenbleiber.
R.I.P.
Meister Petz
© Meister Petz. Titelvignette: Bundesminister Genscher in Ungarn, 23.-24. November 1989. Bundesarchiv, B 145 Bild-F083119-0002 / CC-BY-SA 3.0. Für Kommentare bitte hier klicken.