Für Angela Merkel mag letzteres in gewisser Hinsicht sogar zutreffen. Und ich habe den Verdacht, dass das der Grund dafür ist, warum sie der Großteil des medial-politischen Berlins nicht leiden kann. Weil sie nicht über jedes Stöckchen springt, das ihr hingehalten wird. Und wenn sie es in der Vergangenheit getan hat, hat sie in der Regel daraus gelernt. Jedenfalls hat man seit dem Atomausstieg keine energiepolitische Äußerung mehr von ihr gehört - da lässt sie lieber den Kollegen Gabriel mit schöner Regelmäßigkeit ins offene Messer rennen, genauer gesagt in den offenen Hirschfänger aus München.
Ähnliches gilt noch für Schäuble, der einfach sein Ding durchzieht, ob es irgendwem passt oder nicht.
Ansonsten gleicht das politische Berlin, das in einer nie da gewesen Symbiose mit dem journalistischen Berlin lebt, einem aufgescheuchten Hühnerhaufen, das vor nichts mehr Angst zu haben scheint als vor dem Shitstorm, den irgendein Redaktionspraktikant lostritt und von seinen genauso unbedeutenden Followern geteilt wird.
Das Unerträgliche an dieser Situation ist, dass sich die mediale Aufmerksamkeit nicht mehr auf politische Handlungen konzentriert, sondern auf die antizipierten Reaktionen einer nebulösen Zielgruppe. Nun ist die Frage, ob das neu ist, und ich behaupte, es ist komplett neu - die bisherigen Begriffe versagen. Kollege Llarian hat sich ja ausführlich mit dem Konzept der "Lügenpresse" beschäftigt, und nichts könnte weiter entfernt sein von dem, was wir erleben. Denn das Geschäft der neuen Medien liegt ja nicht darin, dem Volk Lügen zu erzählen - dazu interessieren sie sich viel zu wenig für das Volk, im Grunde genommen verachten sie es. Meiner Ansicht nach werden die politischen Medien - wie auch Teile des politischen Personals - immer selbstreferentieller. Nicht die Medien kontrollieren die Politiker, sondern Medien und Politiker kontrollieren sich untereinander, ob ihre Äußerungen den selbst gesetzten Standards entsprechen.
Sie haben sicher gemerkt, dass ich mir Mühe gegeben habe, den Begriff der political correctness im letzten Satz vermieden habe, auch wenn er sich geradezu aufdrängt. Aber er trifft es nicht: Die alte Gleichung PC versus Populismus - das eine für eine angenommene intellektuelle Schicht, das andere für den angenommenen Stammtisch - geht nicht mehr auf. Denn sie setzen den klassischen politischen Prozess der Mehrheitsfindung voraus. Doch in der aktuellen Art und Weise, wie Diskurse und Debatten geführt werden, hat die Mehrheit keine Aufmerksamkeit mehr, sondern die konzentriert sich auf die sozialen Medien, Kommentarspalten usw.. Als politisch interessiert wird derjenige wahrgenommen, der sich dort äußert, der liket, sharet und retweetet. Das merkt man auch daran, dass das Social Media Monitoring die alte Umfrage als Beleg abgelöst hat, wenn Volkes Stimme befragt wird (Plasberg war wohl einer der ersten, die damit angefangen haben).
Interessanterweise laufen die gleichen Mechanismen auf beiden Ebenen der aktuellen politischen Sphäre ab: Sowohl bei der selbsternannten politischen Elite als auch bei den Pegidisten und Aluhüten - die sind nämlich genauso selbstreferentiell und haben ihre eigenen Codes für Correctness. Und sie haben genauso wenig Manieren in den sozialen Netzwerken. Konnte Fischer noch in überlegenem Duktus so selbstüberzeugt wie erfolglos an den Opel-Bändern agitieren, so haben Facebook, Twitter und Co. Waffengleichheit hergestellt.
Und so stehen die politmedialen "Netzakteure" vor einer doppelten Herausforderung: Den Shitstorm sowohl aus der eigenen Community wie auch vom ungeliebten Gegner zu vermeiden. Wo ist da noch Platz für Argumente?
Mehrere Fälle in den letzten Wochen eignen sich als Anschauungsmaterial, wo wir gerade hingesteuert sind: In die PR-Republik.
Zum einen die Geschichte mit der Kanzlerin und dem Flüchtlingsmädchen, die ja nur von der Bildfläche verschwunden ist, weil sie Sachen gesagt hat, die ein palästinensisches Okkupationsopfer nicht sagen darf (das dürfen nur wir, gerade als Deutsche!).
Dann kam Schäuble mit seinem Grexitplan, der offensichtlich nur eine Drohkulisse war, aber den darf er als deutscher Wirtschaftsimperalist nicht sagen (das darf man nur als Mitglied des Hell's Angels Chapter Akropolis-Ost).
Und jetzt das Thema "netzpolitik.org", das gleichsam als Spiegelaffäre des Web 2.0-Zeitalters hochgekocht wird.
Allen dreien ist gemeinsam, dass sie die öffentliche Reaktion als wichtiger einschätzen als politisch-rechtsstaatliche Entscheidungen und Verfahren. Da soll die Kanzlerin per absolutistischem Dekret ein Bleiberecht verordnen, der Finanzminister sich die Liebe der Griechen mit gesamteuropäischen Steuergeldern erkaufen und der Generalbundesanwalt und der Verfassungsschutzpräsident, deren Positionen aus Sicht der Gewaltenteilung sowieso schon höchst problematisch sind, ausgehebelt werden. Einzig und allein mit dem Ziel, eine Symbolik zu schaffen, die eine hysterische Pseudoöffentlichkeit im Netz ruhigstellt.
Und das nennt sich dann "direkte Demokratie". Eine Schande.
Meister Petz
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