Wenn man sich fragt, was Kulturpessimismus ist, und ob er angebracht sei, sollte man ihn auf keinen Fall mit einem allgemeinen „Zukunftspessimismus“ verwechseln. Diese Forderung nach einer Unterscheidung mag zunächst verwunderlich erscheinen, weil doch beide Formen der negativen Erwartungshaltung auf das Gleiche hinauslaufen: Eine düstere Zukunft.
Der Unterschied liegt allerdings in der jeweiligen Begründung, warum man eine düstere Zukunft zu erwarten hat, und in welchem Rahmen sich diese auswirkt.
Der Zukunftspessimist erwartet allgemein nur das Schlechteste vom Menschen: Der Mensch ist ein hoffnungsloser Egoist, zerstört seine Umwelt, beutet seine Mitmenschen aus, ist nur auf seinen Vorteil bedacht und nimmt das Leid anderer bei vollem Bewusstsein für einen eigenen Vorteil billigend in Kauf. Der Untergang des Menschen ist daher nur eine Frage der Zeit. Es ist das zeitgeistige, grüne Bild des „Virus Mensch“, welches unseren Planeten befallen hat, bis es schlussendlich seinen Wirt und damit auch sich selbst zerstört. Der Zukunftspessimist denkt global.
Der Kulturpessimist erwartet im Gegensatz dazu, dass sich lediglich die Bedingungen seines direkten gesellschaftlichen Umfelds nachteilig verändern, da die Generationen, die dieses prägen, sich nachteilig entwickeln.
Ein Argument derer, welche Zukunftspessimismus als nicht angebracht ansehen, ist der Hinweis darauf, dass die Entwicklung der Menschheit durchaus stetig eine Entwicklung zum Besseren hin erfährt. Innovation, Zukunftsglaube, Tatkraft, der Wille zu Wohlstand sind Triebfedern, welche die Welt, in der wir leben, beständig voran bringen. Sie beständig eine bisschen lebenswerter machen im Hinblick auf Bildung, Wohlstand, Gesundheit und individuelle Freiheit. - Ich neige dazu, dieser Auffassung zuzustimmen und Zukunftspessimismus im Sinne eines globalen Mißtrauens den Menschen gegenüber als unangebracht zu empfinden.
Ein Argument derer, welche Kulturpessimismus als nicht angebracht ansehen, ist der Hinweis darauf, dass der Wertekonflikt zwischen „Alten“ und „Jungen“ schon seit jeher besteht (schon Sokrates beklagte den Verfall der Sitten), dass die Empirie dieser Sicht auf nachkommende Generationen aber in den seltensten Fällen Recht gibt. In diesem Sinne scheint der Wertekonflikt zwischen aufeinanderfolgenden Generationen zu einem Großteil durch den klassischen Konflikt zwischen Kindern und Eltern geprägt zu sein, den ich salopp so formulieren möchte: Die einen wissen es besser, die anderen wissen, wie man es besser macht.
Der springende Punkt dabei ist nur, dass es auf der anderen Seite auch immer wieder Fälle untergehender Kulturen bzw. Gesellschaften gibt. Kultureller und gesellschaftlicher Niedergang existiert also, auch wenn er sich sicherlich nicht mit dem ganz normalen, immer wieder kehrenden „generationsbedingten Wertekonflikt“ erklären lässt. Es scheint daher nicht die Frage zu sein, ob Kulturpessimismus grundsätzlich angebracht oder unangebracht ist. Vielmehr sollte die Frage lauten, ob es Kriterien gibt, an welchen sich berechtigtes Mißtrauen gegenüber nachfolgenden Generationen und damit Kulturpessimismus objektiv fest machen lässt.
Zu dieser Frage bin ich, eher zufällig, auf eine mögliche Antwort gestoßen.
In den letzten Wochen habe ich mich in sehr unterschiedlichen Kontexten, völlig unabhängig voneinander mit der Frage konfrontiert gesehen, wie persönliche Erfahrung die Verhaltensmuster des Menschen prägt.
Das Wesentliche, was ich hierbei erkennen konnte, ist schnell formuliert: Die Verhaltensmuster des Menschen bleiben oftmals auch dann erhalten, wenn die die Bedingungen, unter denen sie erlernt wurden, längst überwunden sind.
Ohne auf meine Gedanken hierzu in aller Detailtiefe eingehen zu wollen möchte ich ein persönliches Beispiel bringen, welches dieses Phänomen eindrucksvoll zeigt:
Bei einem Restaurantbesuch mit meiner Großmutter vor vielen Jahren erlebte ich es, dass sie im Anschluß an die Mahlzeit die kümmerlichen Reste einer kleinen 10gr Butter, fein säuberlich verpackt, in ihrer Handtasche verstaute.
Das Verhalten meiner Großmutter, einer Kriegswitwe mit drei Kindern, war so sehr durch die erlittene materielle Not, durch das Bewußtsein wie sehr Glück und materielle Sicherheit zusammen hängen bestimmt, dass selbst in einer Welt des materiellen Überflusses dies ihr Handeln konditionierte.
Als ich mir dieses Phänomen durch den Kopf gehen ließ kam mir in den Sinn, dass viele „Alt 68er“ oder auch „Ökolinke“ im Bewusstsein des einzelkämpferischen Revolutionärs leben, obwohl ihre Position längst die des Mainstreams geworden ist, gesellschaftlich mehrheitsfähig.
Die Verhaltenskonditionierung durch Erfahrung lässt dies mit einem Mal für mich völlig logisch erscheinen. So wie sich meine durch Not geprägte Großmutter im materiellen Überfluss zu äußerster Sparsamkeit gezwungen sah, sieht sich der durch Opposition geprägte „Widerständler“ auch nach „dem Sieg seiner Idee“ weiter zum Widerstand gezwungen.
Allgemein könnte man vielleicht formulieren: Das Handeln des Menschen scheint viel mehr durch konditionierte denn durch objektivierte Wahrnehmung bestimmt zu sein.
Und nun kommt mein Brückenschlag zum Kulturpessimismus: Wenn also persönliche Erfahrungen so sehr das Verhalten des Menschen prägen, was sind die Erfahrungen, die die aktuellen Generationen unserer westliche Gesellschaft derzeit in der Breite prägen könnten?
Ich meine dabei drei ganz wesentliche Erfahrungen oder vielmehr „Nicht-Erfahrungen“ auszumachen. Die mangelnde Erfahrung materieller Not, die mangelnde Erfahrung des Verlusts der individuellen Freiheit und die mangelnde Erfahrung eines nicht vorhandenen Rechtstaates. Positiv formuliert könnte man sagen, die prägende Erfahrung aktueller Generationen ist die Selbstverständlichkeit von Wohlstand, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Man sieht sie als grundsätzlich gegeben an. Eine Welt ohne diese Bedingungen liegt außerhalb eigener Erfahrung und damit außerhalb der eigenen Vorstellung. Dies führt, nach meiner Ansicht, zu mangelnder Wertschätzung dieser Grundpfeiler unserer westlichen Gesellschaft.
Dies erklärt sowohl die Toleranz gegenüber intoleranten Gesellschaftsformen, wie auch die grundsätzliche Ablehnung von Krieg als Ultima Ratio. Wenn das Leben per definitionem ausreichend materiell abgesichert, die individuelle Freiheit gegeben und der eigenen Lebensentwurf rechtssicher ist: Welche anderen grundsätzlichen Dinge sollte es noch geben, welche nicht verhandelbar sein sollten?
Dieser Gedanke ist es, der mich mittlerweile zum Kulturpessimisten werden läßt: Der Erfahrungshorizont unserer aktuellen westlichen Generationen macht es ihnen schwer, die Grundpfeiler unserer westlichen Zivilisation in ihrer Zerbrechlichkeit zu erkennen. Daher zählt persönliches Glück, Selbstverwirklichung und Toleranz mehr als materielle Sicherheit, individuelle Freiheit und Rechtssicherheit. Vor allem aber fehlt die Einsicht, dass die letztgenannten drei Lebensumstände unabdingbare Voraussetzungen sind, wenn man die ersten drei dauerhaft anstrebt. Und diese konditionierte Wahrnehmung bestimmt ihr Handeln.
Die Realität folgt aber leider keinen persönlichen Ansichten und auch keinem verbindlichen Wertekorsett. Ihr Eintreten ist auch nicht durch Erfahrung konditioniert, sondern einzig durch die Macht des Stärkeren und seinen Wünschen. - Dies wiederum lehrt die Erfahrung weitgehend klar und unmißverständlich.
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