Laut der Überlieferung von Thomas von Celano geht die Darstellung der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem auf den heiligen Franz von Assisi zurück:
In jener Gegend lebte ein Mann mit Namen Johannes, von gutem Ruf, aber noch besserem Lebenswandel. Ihm war der selige Franziskus in besonderer Liebe zugetan, weil er trotz des großen Ruhmes und des Ansehens, das er daheim genoß, den Adel des Fleisches verachtete und nach dem Adel der Seele trachtete. Diesen ließ nun der selige Franziskus, wie er oft zu tun pflegte, zu sich rufen, etwa vierzehn Tage vor der Geburt des Herrn, und sprach zu ihm: „Wenn du wünschest, daß wir bei Greccio das bevorstehende Fest des Herrn feiern, so gehe eilends hin und richte sorgfältig her, was ich dir sage. Ich möchte nämlich das Gedächtnis an jenes Kind begehen, das in Bethlehem geboren wurde, und ich möchte die bittere Not, die es schon als kleines Kind zu leiden hatte, wie es in eine Krippe gelegt, an der Ochs und Esel standen, und wie es auf Heu gebettet wurde, so greifbar als möglich mit leiblichen Augen schauen." Als der gute und treuergebene Mann das hörte, lief er eilends hin und rüstete an dem genannten Ort alles zu, was der Heilige angeordnet hatte.
Es nahte aber der Tag der Freude, die Zeit des Jubels kam heran. Aus mehreren Orten wurden die Brüder gerufen. Männer und Frauen jener Gegend bereiteten, so gut sie konnten, freudigen Herzens Kerzen und Fackeln, um damit jene Nacht zu erleuchten, die mit funkelnden Sternen alle Tage und Jahre erhellt hat. Endlich kam der Heilige Gottes, fand alles vorbereitet, sah es und freute sich. Nun wird eine Krippe zurechtgemacht, Heu herbeigebracht, Ochs und Esel herzugeführt. Zu Ehren kommt da die Einfalt, die Armut wird erhöht, die Demut gepriesen und aus Greccio wird gleichsam ein neues Bethlehem.
Die Darstellung, die heute aus unserer Vorstellung des Weihnachtsfestes nicht mehr wegzudenken ist, und selbst in höchster Abstraktion unverkennbar funktioniert, war damals revolutionär. Denn wenn auch die Krippe im Lukasevangelium erwähnt wird, von bitterer Not ist dort keine Rede. Nicht einmal die - in der Anekdote vorgeblich von Dominikanern so bezeichnete - Gesellschaft Jesu, Ochs und Esel, kommen in der Bibel vor. Vielmehr legen die Evangelisten Wert auf die königliche Abstammung des Jesuskindes aus dem Hause Davids. Bis zum Frühmittelalter folgen die Christusdarstellungen dieser Anschauung - Christus als Kyrios und Weltenherrscher (Pantokrator), gekrönt und triumphierend selbst am Kreuz.
Die Kirche im Hochmittelalter - und hier ist der Einfluss des Franziskanerordens in Wort und Tat nicht zu unterschätzen - bringt eine radikale Umorientierung auf den Menschen - und damit auch auf den menschgewordenen Jesus. Und wann ist ein Mensch am menschlichsten? Natürlich als Kind! Die Krippe oder die Darstellung der Maria lactans zeigen: Der allmächtige Gottessohn ist einer von uns - und daraus folgt: Wir können sein wie er, indem wir seinem Beispiel folgen. Die vita apostolica wurde zum Ideal. Und dazu gehörte nach diesem Verständnis die Aufgabe weltlichen Besitzes.
Franz von Assisi war der Exponent eines Zeitgeistes, der der von der damaligen, noch der spätantiken Tradition verhafteten Amtskirche ein Dorn im Auge war. Die zahlreichen aufkommenden Büßer- und Bettlerorden hatten es nicht nur aus theologischen Gründen schwer. Nicht zuletzt prallten zwei politische Auffassungen aufeinander - suchten doch Bischöfe und Äbte zu jener Zeit ihren Besitz und ihre Territorien eher zu vergrößern und zu sichern. Und so kam es nach seinem Tod zu einem riesigen innerkirchlichen Streit, dessen Hintergründe aber weniger theologischer als politischer Natur waren. Er brachte einige radikalere Vertreter auf den Scheiterhaufen; und die Besitzlosigkeit der Franziskaner relativierte sich. Welch ein Treppenwitz, dass ausgerechnet dieser Orden aufgrund unseriöser Finanzgeschäfte kurz vor der Pleite steht!
Die Brandrede von Papst Franziskus, der sich ja in der Tradition des Heiligen von Assisi versteht, könnte den Beginn einer Art neuen Armutsstreites in der Kirche markieren. Denn ähnlich seinem Vorbild ist die Armut für ihn nicht Selbstzweck, sondern das Streben nach Macht und Gütern lenkt vom Dienst an Gott und den Menschen ab. Dass er diese Botschaft ausgerechnet zu Weihnachten aussendet, wo jeder eine selbstgefällige Larmoyanzpredigt gegen Konsum und Hektik erwartet, ist wahrhaft franziskanisch. Nicht nur die Welt da draußen hat vergessen, was die Krippe bedeutet - ihr selbst habt es vergessen! Ihr in der Kurie, ihr in den Ordinariaten, auch ihr Geistlichen Räte und Stadtpfarrer, die ihr mit eurem unverbindlichen Geseier die Kirchen leer predigt und Euch in den Krankenhäusern und Altenheimen nie sehen lasst!
Natürlich ist diese Rede um so mehr nach meinem Geschmack, weil sie nicht die Erwartungen der Kirchenkritiker erfüllt, die die Kirche "im Mittelalter" verhaftet sehen. Ganz im Gegenteil: Franziskus ruft das Hochmittelalter als Lehrbeispiel auf, wie die Kirche wieder näher zu Gott kommen kann. In so einer mittelalterlichen Kirche bin ich gerne dabei!
Ob dieser Weg allein über die Armut führen kann, weiß ich nicht - da halte ich es eher mit Franziskus' Vorgänger Benedikt XVI., der gesagt hat: "Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt". Aber eines ist sicher: Der Weg führt nicht an der Krippe vorbei.
Allen Lesern von Zettels Raum und Zettels kleinem Zimmer wünsche ich eine erleuchtete Nacht, ein freudiges Herz und ein neues Bethlehem.
Meister Petz
© Meister Petz. Titelvignette: Giotto di Bondone (1267-1337), Basilique Assise, Legend of St Francis, Institution of the Crib at Greccio. Für Kommentare bitte hier klicken.