14. September 2014

Manipulierte Schuldgefühle


"Nicht mehr zur Wahl zu gehen ist nach meiner Überzeugung nicht viel weniger unmoralisch als die Weigerung, seine Steuern zu zahlen."
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, von dem dieses Zitat stammt, hält es für eine moralische Mindestpflicht wählen zu gehen. Dies ist seine Überzeugung. Natürlich hat auch Herr Papier das Recht seine Meinung zu äußern, allerdings wiegt diese Meinung viel schwerer als von irgendeinem anderen Bürger der nicht Mitglied des obersten Gerichts in diesem Land war und über die Einhaltung des Grundgesetzes wachte.

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Eines Gesetzes, welches Handlungen des Staates gegenüber dem Bürger beschränken soll. Insofern äußert sich eine öffentliche Person, die einst den Bürger vor Willkür und ungerechtfertigten Zugriffen des Staates schützen sollte. Diese Aufgabe kennt keine übergeordnete Kontrollinstanz, sie ist oberste Kontrollinstanz.

Es ist die Meinung einer Respektsperson, bei der, aus moralischer Perspektive, ein Höchstmaß an Objektivität und Urteilsvermögen vorausgesetzt wird. Damit geht dieses Zitat weit über eine persönliche Meinung eines ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts hinaus.

In der weiteren Besprechung des Zitats gehe ich davon aus, dass es Herr Papier generell für unmoralisch hält, die Zahlung von Steuern zu verweigern. Diese Handlung bricht Gesetze und das BVerfG hat mehrfach das Recht des Staates bekräftigt, im Streitfall die geforderte Steuerschuld einzutreiben. Auch der Autor dieser Zeilen musste schon zu unrecht einmal einen ihn sehr schmerzenden Steuerbetrag zahlen, den er mehrere Jahre später mit Zinsen vom Finanzamt wieder zurückerstattet bekam. Unnötig zu erwähnen, dass in diesem Fall kaum jemand auf die Idee käme, dem Finanzamt moralische Vorhaltungen hinsichtlich einer unrechtmäßigen Aneignung zu machen.
Dies nur um mal auf die Einseitigkeit des Abgleitens auf die moralische Ebene hinzuweisen. Es ist immer der Bürger an dessen moralische Pflichten appelliert wird, nicht der Staat.

Die Steuerhinterziehung, oder die Weigerung Steuern zu zahlen, wird dagegen in der Öffentlichkeit als Verbrechen gegen die Allgemeinheit aufgefasst.
Ein „Steuersünder“ oder „Steuerbetrüger“ vergeht sich nicht an einer Institution, sondern an der Gesellschaft insgesamt.
Die Amoralität der Tat wird sehr, sehr hoch gehangen in Deutschland, weshalb von dieser Höhe auch auszugehen ist, will man nun die verglichene Amoralität des Nichtwählens in dem Zitat beurteilen.
Die Formulierung „nicht viel weniger“ macht nur einen kleinen Unterschied geltend und der Vergleich wurde von Herrn Papier sicher auch in Kenntnis dieses hohen moralischen Stellenwertes gezogen.

Nun geht es bei dem o.g. Zitat um die moralische Wertung einer gesetzwidrigen Handlung im Vergleich zu einem Recht, welches keine gesetzliche Pflicht kennt. Es wird also vom ehemaligen Präsidenten des BVerfG verglichen, was nicht vergleichbar ist.


Um diese Hürde zu nehmen, geht er den Umweg über die Moral. Moralisch lassen sich beide Handlungen vergleichen, allerdings nicht auch gleichsetzen. Wenn man nämlich die Wahrnehmung des Wahlrechts als eine die Demokratie erhaltene Handlung, ähnlich wie das Zahlen von Steuern oder den Beitrag für die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ansieht, kann daraus eine moralische Verpflichtung abgeleitet werden.
Aber kann daraus auch eine gleichsetzende Beurteilung abgeleitet werden?
Und wenn ja, mit welchem Ziel?

Jeder Nichtwähler hat eine (oder mehrere) Stimme(n) die er bei einer Wahl zu vergeben hat. Er kann aber nicht zur Wahl gehen und das tun, was einen Nichtwähler veranlasst, nicht wählen zu gehen:
Sich zu enthalten.

Jede Wahl kennt diese Möglichkeit und ihre Umsetzung bei politischen Wahlen ist die des Nichtwählens. 
Ungültig wählen, nebenbei bemerkt, ist eine Stimmabgabe. Eine misslungene. Aber es geht Nichtwähler nicht darum, sich dumm zu stellen.

Wird diese Möglichkeit der Enthaltung verwehrt, entsteht aus der Wahl eine Zwangsentscheidung. Man müsste sich für irgendetwas entscheiden, auch wenn einem nichts von dem zusagt, was zur Wahl steht (oder sich dumm stellen).
Die Ursache für den Zwang sehe ich in dem moralischen Vergleich.

Da dieser auf die Ebene eines Verbrechens gegen die Allgemeinheit gehoben wird, werden Schuldgefühle assoziiert, mit deren Hilfe Zwang ausgeübt wird. Das ist wohlwollend formuliert, eine Manipulation.
Meines Erachtens ist es sehr bedenklich für die demokratischen Sitten und Gepflogenheiten, dass ein ehemaliger Präsident des höchsten deutschen Gerichts meint, in dieser Weise öffentlich Position beziehen zu müssen. 
Und sich eines Mittels der politischen Machtausübung bedient, welches durch das Grundgesetz (Artikel 2, Persönlichkeitsrecht) gerade eingeschränkt bzw. unmöglich gemacht werden soll.
Ein Grundgesetz über dessen Wirksamkeit, als Begrenzung der Macht des Staates gegenüber dem Bürger, er einst wachte.


Erling Plaethe


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