6. September 2014

Bremsen mit der NATO-Russland-Akte?

Deutschland hat ein sehr spezielles Verhältnis zu Russland. Als Geburtshelfer der kommunistischen Revolution unter Führung von Lenin versuchte es so den Ausgang des ersten Weltkriegs zu seinen Gunsten zu wenden - durch die Befriedung der Ostfront und der Beendigung des Zweifrontenkrieges. 
Die Folge war die Ausbreitung des Kommunismus auf ganz Europa.
Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft und der Sowjetunion hoffte nicht nur Deutschland auf einen Pakt mit dem langjährigen Feind. Ganz Europa tat dies.

Aber es gab auch Skeptiker. 
Länder wie Polen, die nach dem Überfall der Sowjetunion 1939 ihre Gebiete nicht zurückerhielten, dies aber mit einer neuen Friedensordnung in Europa akzeptierten. Oder wie die baltischen Staaten die durch Russifizierung ihrer Identität beraubt werden sollten und nun endlich ihre Souveränität zurückerhielten.
Diese Länder sind als Mitglieder der NATO wegen ihrer geographischen Lage Frontstaaten. 

Beides, Deutschlands spezielles Verhältnis und die Bedenken der Frontstaaten aufgrund der veränderten Sicherheitslage in Europa durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine, bestimmten den NATO-Gipfel dieser Tage in Wales.
Deutschland verweist in der Auseinandersetzung mit Polen und den baltischen Staaten um eine Verstärkung der NATO an den östlichen Außengrenzen des Bündnisse immer wieder auf die NATO-Russland Akte, und bremst. 
Höchste Zeit sich diese mal genauer anzuschauen.
­
Zunächst einmal ist es eine Absichtserklärung. 
Aber, sie war bis 2007 Grundlage für ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen der NATO und dem Rechtsnachfolger der untergegangenen Sowjetunion. Und somit ein wichtiger Teil der europäischen Friedensordnung.

In dieser NATO-Russland-Akte verpflichten sich beide Seiten zu folgenden Grundsätzen:
*Aufbau einer starken, stabilen, dauerhaften und gleichberechtigten Partnerschaft und der Zusammenarbeit auf der Grundlage der Transparenz mit dem Ziel, die Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum zu stärken;  
*Anerkennung der Schlüsselrolle, die Demokratie, politischer Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten sowie die Entfaltung freier Marktwirtschaften für die Schaffung allgemeinen Wohlstands und umfassender Sicherheit spielen;  
*Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit in einer Weise, die mit der Charta der Vereinten Nationen oder der in der Schlussakte von Helsinki enthaltenen Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, unvereinbar ist;  
*Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es in der Schlussakte von Helsinki und anderen OSZE-Dokumenten verankert ist, selbst zu wählen;  
*gegenseitige Transparenz bei der Ausarbeitung und Umsetzung verteidigungspolitischer und militärischer Doktrinen;  
*Verhütung von Konflikten und Beilegung von Streitigkeiten durch friedliche Mittel im Einklang mit den Prinzipien der VN und der OSZE;  
*Unterstützung friedenserhaltender Operationen von Fall zu Fall, die unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats oder der Verantwortung der OSZE durchgeführt werden.
Diese Grundsätze sind durch Russland im Georgienkrieg gebrochen worden und werden zur Zeit im Krieg gegen die Ukraine erneut massiv gebrochen.
Somit stellt sich die Frage nach der Gültigkeit der NATO-Russland-Akte. 
Wenn sie nur für eine Seite, nämlich für die NATO-Mitgliedsländer, gilt, ist sie keine Vereinbarung mehr, sondern wird zu einer einseitigen Selbstverpflichtung der NATO.
Solch eine Selbstverpflichtung läge sicher im Interesse Russlands und die Vermutung liegt auch nahe, dass Russland diese Akte auch so interpretieren könnte. Nur ist es nicht Aufgabe eines NATO-Mitgliedslandes die Interessen eines (ehemaligen) Partners zu vertreten, der innenpolitisch nie aufgehört hat, den Westen und die NATO als Feind zu betrachten.

Auf der Sicherheitskonferenz 2007 in München, die als Ausgangspunkt der Entwicklung Russlands zu einem europäischen Sicherheitsrisiko gilt, sagte Putin in einer scharfen Rede:
Man muss ablassen von der Suche nach einer ausgeklügelten Balance der Interessen aller international handelnden Subjekte. Umso mehr, als sich gerade jetzt die „internationale Landschaft“ so spürbar und so schnell ändert, und zwar auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung einer ganzen Reihe von Staaten und Regionen. (...)
Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr. Doch ich erlaube mir, vor diesem Auditorium daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat von einem Auftritt des Generalsekretärs der NATO, Herrn Wörner, am 17. Mai 1990 in Brüssel bringen. Damals sagte er: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Wo sind diese Garantien?
Zu diesem Zeitpunkt war der NATO-Russland-Rat schon fünf Jahre alt und der Georgienkrieg lag noch 18 Monate in der Zukunft. Schon in dieser Rede stellte Putin mit seiner Infragestellung der NATO-Osterweiterung die Grundlage des Status Quo welcher die Ausgangsbasis für die Akte und die Zusammenarbeit der NATO mit Russland darstellte, infrage.
Wohlwollend ausgedrückt könnte man sagen, Russland und die NATO reden nicht nur aneinander vorbei, sie "vertragen" und agieren auch aneinander vorbei.
Es fehlt die gemeinsame Basis wenn immer wieder eine alte Rechnung, die beglichen schien, erneut auf den Tisch gelegt wird. Als 2002 der Rat aus dem "Ständigen Gemeinsamen Rat" hervorging, wurden Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zu Verhandlungen über einen NATO-Beitritt eingeladen. Da war Putin bereits zwei Jahre als Präsident im Amt.

In dem Schlusswort von Putins Rede klang dann auch eine gehörige und recht undiplomatische Ironie mit (abgesehen von seinen Attacken gegen die USA) als er sagte:
Wir hören sehr oft, auch ich persönlich, von unseren Partnern, auch den europäischen, den Aufruf an Russland, eine noch aktivere Rolle in den Angelegenheiten der Welt zu spielen.

In diesem Zusammenhang gestatte ich mir eine kleine Anmerkung. Man muss uns kaum dazu ermuntern oder drängen. Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können.

Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern. Dabei sehen wir sehr genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten und unser Potenzial ein. Und natürlich möchten wir gerne mit verantwortungsvollen und ebenfalls selbstständigen Partnern zusammenarbeiten am Aufbau einer gerechten und demokratischen Welt, in der Sicherheit und Aufblühen nicht nur für Auserwählte, sondern für alle gewährleistet ist.
Dieser Wille zur Zusammenarbeit wurde 2002 als der NATO-Russland-Rat geschaffen wurde, noch so formuliert:
Mit dem Ständigen Gemeinsamen Rat wird ein Mechanismus für Konsultation, Koordination und, im grösstmöglichen Umfang, wo dies angebracht ist, für gemeinsame Entscheidungen und gemeinsames Handeln in bezug auf Sicherheitsfragen von beiderseitigem Interesse geschaffen. Die Konsultationen erstrecken sich nicht auf innere Angelegenheiten der NATO, der NATO-Mitgliedstaaten oder Russlands. 
Das gemeinsame Ziel der NATO und Russlands ist es, so viele Gelegenheiten wie möglich für gemeinsames Handeln aufzuzeigen und zu verfolgen. Sie gehen davon aus, dass sich im Zuge des weiteren Ausbaus der Beziehungen weitere Möglichkeiten für gemeinsames Handeln ergeben werden.
Am Ende des Jahres 2007 nach Putins provokanter Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz, spitzte sich der Streit um die Ratifizierung des KSE-Vertrages und seine Einhaltung zu. Dessen Gültigkeit war ein wesentlicher Bestandteil der NATO-Russland-Akte. Russland setzte den Vertrag aus, den es zwar ratifiziert aber nicht eingehalten hatte. Als Hintergrund gilt die geplante Errichtung eines Raketenabwehrschilds in Tschechien und Polen.
Und der Streit darum, ob der in dem Istanbuler Erweiterungsvertrag (AKSE) vereinbarte Abzug russischer Truppen aus Georgien und Moldawien zum Vertrag gehört oder nicht. Welcher trotz Zusicherung von russischer Seite nie stattfand.

Im Ergebnis lässt Russland seitdem keine Militärinspekteure mehr ins Land, informiert nicht mehr über Truppenbewegungen und Militärübungen und fühlt sich auch nicht mehr an Obergrenzen für konventionelle Waffen und Ausrüstung gebunden. 
Dem schloss sich die de-facto Annektierung von Südossetien und Abchasien vom Territorium Georgiens sowie der Krim und der Südukraine vom Territorium der Ukraine an.

Also warum soll die NATO-Russland-Akte, deren wesentlicher Bestandteil der KSE-Vertrag war, in Bezug auf Russland noch eine so herausragende Bedeutung haben, dass man auf die in Europa sich erheblich verschlechterte Sicherheitslage nicht angemessen reagieren sollte? Noch dazu aus Rücksicht vor russischen Interessen? Weil der Aggressor Russland ist und er Verträge nach Belieben brechen und suspendieren kann ohne dass dies seine Vertragspartner von ebendiesen Verträgen entbindet?

Die geplante Aufstockung von Streitkräften der NATO an seiner Ostgrenze würde  zumal gar nicht gegen die NATO-Russland-Akte verstoßen. Umso unverständlicher ist die blockierende Haltung Deutschlands im Militärbündnis:
Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert. Das Bündnis wird sich dementsprechend auf eine angemessene, den genannten Aufgaben gerecht werdende Infrastruktur stützen müssen. In diesem Zusammenhang können, falls erforderlich, Verstärkungen erfolgen für den Fall der Verteidigung gegen eine Aggressionsdrohung und für Missionen zur Stützung des Friedens im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und den Leitprinzipien der OSZE sowie für Übungen im Einklang mit dem angepassten KSE-Vertrag, den Bestimmungen des Wiener Dokuments von 1994 sowie gegenseitig vereinbarten Transparenzmassnahmen. Russland wird sich bei der Dislozierung konventioneller Streitkräfte in Europa entsprechende Zurückhaltung auferlegen.
Die dem Zitat nachfolgenden Punkte der Akte machen vor allem eines deutlich:
Diese Akte kann kaum eine Bedeutung für Russland besitzen. Es wäre geradezu närrisch daran festzuhalten, wenn der Vertragspartner diesen Vertrag ad absurdum führt, sondern auch die Grundlagen welche ihn einst schufen.
Dazu gehört auch die Akzeptierung der freien Wahl des Militärbündnisses durch freie souveräne Staaten.
Und damit die Osterweiterung der NATO die natürlich eine Folge der Zeit vor der für Putin größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist.
Russland wurde von deutschen Politikern leichtfertig mündliche Zusagen gegeben die im Nachgang auch als Anmaßung verstanden werden können. Aber sie waren vor allem eines: unautorisiert. Denn deutsche Politiker entscheiden nicht allein über die NATO-Mitgliedschaft beitrittswilliger Staaten.

Dass die Länder der ehemaligen Sowjetunion ihre wiedererlangte Souveränität schützen wollen vor einem potentiellen Feind der den Untergang einer auf Knechtschaft beruhenden Zwangsvereinigung für seine größte Katastrophe hält, kann nur verwehren, wer sie erneut in diese Lage bringen will.
Wenn ein ehemaliges Imperium sich anschickt erneut die Grenzen in Europa in Frage zu stellen, muss das Bündnis, dem es militärisch möglich ist, eine wirkungsvolle Eindämmungspolitik betreiben.
Und dazu gehört den eigenen Mitgliedern nicht den Schutz zu verweigern, den sie objektiv betrachtet benötigen, damit eben eine solche Eindämmung auch effektiv ist.

Und ebenso gehört dazu die Bitte um Aufnahme der Ukraine in die NATO anzunehmen und genau zu bedenken, anstatt sie sofort zurückzuweisen. 

Wie um seine Aggressivität und Nichtachtung der Souveränität der einstigen Sowjetrepubliken zu unterstreichen, fielen bewaffnete Beamte des russischen FSB in Estland ein und entführten den estnischen Sicherheitsbeamten Eston Kohver nach Moskau. 

Erling Plaethe


© Erling Plaethe. Für Kommentare bitte hier klicken.