4. April 2014

Warum der Vorwurf der "Zensur" in Deutschland verfehlt ist

Was mich in öffentlichen Diskussionen, insbesondere wie sie im linken und grünen Meinungsspektrum geführt werden oft ärgert, ist die Neigung zur Inflationierung moralisch aufgeladener Begriffe für politische Zwecke und zur Diskursunterdrückung. Da ist schon die Skepsis gegenüber der "Homo-Ehe" ein Ausdruck (und beweisend!) für eine homophobe Haltung; wer auf Probleme mit bestimmten Einwanderergruppen hinweist gilt als xenophob usw.  Es gibt diese Neigung zur Inflationierung (oder richtiger: Entpräzisierung) von Begriffen auch in Diskussionen innerhalb des liberalen, insbesondere aber des konservativen Spektrums. Schnell ist man hier mit dem "Zensur!"-Vorwurf dabei oder daß die Meinungsfreiheit von Individuen oder Gruppen eingeschränkt werde und dergleichen mehr. Ich halte diese Vorwürfe in der Regel für maßlos übertrieben und in der Sache für falsch.
­Aktuell steht dieser Vorwurf im Raum, nachdem ein Liveinterview im ZDF-Mittagsmagazin mit dem Autor Akif Pirinçci zu seinem aktuellen Buch zeitlich verkürzt worden und die interviewende Moderatorin wohl durch die Regie immer wieder zum Unterbrechen des Autors angehalten worden sei. Dieser hatte, in der ihm eigenen Art zu polemisieren, von "linksgrün versiffter Politik" gesprochen, die Grünen als "Kindersexpartei" bezeichnet sowie den Werbeslogan ausgerechnet des ZDF zu "Mit dem Arschloch sieht man besser" variiert. Daß er hier unterbrochen und das Interview verkürzt worden ist, kann man kritisieren, oder auch Verständnis dafür aufbringen vor dem Hintergrund der demographischen Struktur des ZDF-Publikums: müssen die Herrschaften zu ihrem Lebensabend wirklich noch mit dieser Sprache behelligt werden? 
Dazu kommen juristische Überlegungen; die Sache mit der "Kindersexpartei" kann durchaus heikel sein; wenn es um sie selbst geht, verstehen die Grünen bekanntlich wenig Spaß, weshalb diese Passage dann auch aus dem Video in der ZDF-Mediathek herausgeschnitten worden ist.

Jedenfalls war es eine redaktionelle Entscheidung, für die der Begriff Zensur nicht trifft. Die entsprechende Passage im Artikel 5 des Grundgesetzes lautet:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Wer sich hierauf beruft vergißt zumeist, daß das GG das Verhältnis des Bürgers zum Staat (und umgekehrt) regelt und dessen Machtbefugnisse beschränken soll. Das GG ist ein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat. Anders gesagt: Zensur im Sinne des Grundgesetzes ist es, wenn eine Einschränkung von Meinungsfreiheit vom Staat, seinen Institutionen und Repräsentanten, vorgenommen wird und mit repressiven Maßnahmen (oder deren Androhung) durchgesetzt wird. Zensur ist es, wenn Erdogan in der Türkei Twitter sperren läßt und diese Sperre auch nach einem erstinstanzlichen Urteil noch aufrecht erhält.

Auch wenn gerade die hochproblematische Staatsnähe, die Finanzierung durch Zwangsgebühren und die kaum durchschaubare Konstruktion der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hierzu einladen: Wer hinter jeder redaktionellen Entscheidung reflexhaft Zensur vermutet, der gefährdet ein anderes hohes, grundgesetzlich garantiertes Gut, nämlich die Pressefreiheit, die eben auch eine redaktionelle Freiheit ist.

Der Grund weshalb mir das Thema am Herzen liegt: Ich fürchte, man baut in dieser Diskussion (und in den vielen ähnlich geführten) einen Strohmann auf. Wer "Zensur!" ruft, meint den Staat; meint, der Staat müsse jetzt "irgendwie handeln", sozusagen ein Zensurverbot gegen die Presse erlassen, damit jeder überall alles sagen darf. Wer "Zensur!" ruft, verkürzt darüber hinaus die Distanz zwischen berechtigter Kritik an einem oft überbordenden Staat hin zur Verachtung dieses Staates als ganzes, indem er ihn begrifflich in die Nähe einer Diktatur stellt, wo die Bundesrepublik, mit Verlaub eines der freiesten, wohlhabendsten, sichersten Länder auf diesem Planeten, nun mal objektiv überhaupt nicht hingehört.

Wer die Forumsmoderation des Blogbegründers Zettel erlebt hat, der weiß, wie rigoros er die Forumsregeln, etwa mit Blick auf Höflichkeit und Ausdrucksweise, durchgesetzt hat. Auch dort hat mancher, an der Sache völlig vorbei, "Zensur!" und "Meinungsfreiheit!" geschrien. Es war Zettels selbstverständliches Recht in seinem privat geführten Blog und Forum die Nutzungsregeln festzulegen und durchzusetzen (wiederum innerhalb der Nutzungsregeln von Google, versteht sich). Selbstverständlich steht ein solches Recht auch z. B. dem privaten Medium "Zeit Online" in seinen Kommentarsträngen zu; das hat mit Zensur überhaupt nichts zu tun, sondern mit Hausrecht.

Auch in den seligen Zeiten analoger Leserbriefe, etwa an die Hörzu, wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, bei Nichtveröffentlichung in der nächsten Ausgabe von "Zensur" zu sprechen. Ein solches Hausrecht ist meiner Auffassung nach auch dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wenn auch zähneknirschend und etwas argwöhnisch (eben wegen der Staatsnähe), zuzugestehen; wenngleich auch hier die sauberste Lösung die ersatzlose Abschaffung des gebührenfinanzierten Rundfunks wäre.

In Wahrheit ist das Problem ein anderes, und der Staat hat damit bestenfalls am Rande etwas zu tun.
Die hoch problematische Verengung der Diskussionskultur in Deutschland ist aus meiner Sicht vielmehr ein sich selbst regulierender Prozeß, der vielleicht noch am ehesten durch kybernetische Vorstellungen beschreibbar ist: Regelkreise also, die auf einen in diesem Fall harmonischen Endzustand hinzielen, eine Konsensgesellschaft also.

"Ich kann so schlecht Nein sagen; ich scheue Konflikte; ich will, daß alle mich mögen, und habe Angst vor Ablehnung" dürfte der mit Abstand am häufigsten formulierte Behandlungsauftrag an Psychotherapeuten sein.
Für viele Menschen ist die, vermutlich in die Epoche der deutschen Romantik zurückreichende, Vorstellung des "Lebens im Einklang mit der Natur" und einer ergebnisgerechten Welt, in der alle gleich sind, hoch attraktiv; Konflikte, Spannungen, Wettbewerb und dergleichen stören dieses biedermeierliche Bedürfnis nach Rückzug ins private. Grüne und Sozialisten sowie ihnen zugeneigte Medien erschaffen nicht diese Bedürfnisse, sie bedienen sie. Der Preis ist eine zunehmende Nivellierung der "zulässigen" Meinungsvielfalt -und eine ebenso zunehmende Entpolitisierung des Bürgertums. Die Mehrheit der Bürger scheint diesen Preis gegenwärtig bezahlen zu wollen.

Innerparteilicher Streit, der ein völlig normaler Vorgang der Meinungsbildung sein sollte, wird vom Wähler (und nicht nur von "den" Medien, deren Macher ja letztlich auch wieder Wähler sind) als "Zerrissenheit" der betreffenden Partei erlebt und bei Wahlen entsprechend wenig goutiert. Es sind die Menschen selbst, "wir", im Sinne der Summe der Individuen, die so ticken; Politik und Medien folgen nach und nach diesem Bedürfnis (was wiederum auf die Menschen zurückwirkt).

Man macht es sich zu leicht, wenn man diese Wechselwirkung nur einseitig ("Meinungsunterdrückung von oben") begreift. Akif Pirinçci, Thilo Sarrazin und andere verstoßen gegen das Konsensgebot, weil viele Menschen (und nicht ein abstrakter Staat oder die fast ebenso abstrakten Medien) diese Meinungsabweichler nicht ertragen wollen; sie stören das Behagen. Ein Thema, dem sich Blogkollege Llarian vor einiger Zeit einmal ausführlicher gewidmet hat.

Das "outsourcing" dieses Problems an den als übermächtig konstruierten Staat, führt zu einer kurzfristigen Entlastung, indem es die wahrgenommene Verantwortung des Einzelnen reduziert. Jeden Tag auf "Zeit Online" zu surfen und sich über die "Zensur" in den dortigen Kommentarsträngen aufzuregen scheint interessanterweise für manchen leichter zu ertragen zu sein als das schlichte Meiden dieser Seite, was zu weniger Klicks, ergo geringeren Werbeeinnahmen für den Verlag führte, womit man als Meinungskonsument noch am ehesten einen gewissen Einfluß nehmen könnte.

Andreas Döding


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