Der Nobelpreis für die Vorhersage, es müsse ein Teilchen beziehungsweise Teilchenfeld geben, welches den schon bekannten Elementarteilchen der Materie ihr Gewicht gebe, kam 50 Jahre nach dieser Vermutung. Denn diese konnte im letzten Jahr, am 4. Juli 2012, durch den Teilchenbeschleuniger am CERN, in dessen 27 km langem Ring Teilchen aufeinander geschossen werden können, bestätigt werden. Es blieben aber offensichtlich noch viele Fragen. Und wir Laien scheinen total überfordert zu sein, die Physik der kleinsten Bausteine des Universums verstehen zu können.
Wieweit kommen wir mit? Vor 13,8 Milliarden Jahren entstand aus einem winzigen Punkt, viel kleiner als ein Stecknadelkopf, in einer explosiven Entwicklung unser Weltall mit seinen Milliarden Milchstraßen und dehnt sich noch immer weiter aus. Welche Kraft steckt dahinter? Warum wird die Ausdehnung nicht gebremst? Wird eines fernen Tages die Bewegung umgekehrt, fällt alles wieder zurück und verschwindet?
Es gibt alternative Theorien über die Entstehung und den künftigen Verlauf. In jedem Fall stehen alle vor dem Problem: Warum waren Materie und Antimaterie nicht gleich stark, denn dann hätte sich kein Universum bilden können? Woher kam der Überhang der Materie? Viele Physiker antworten: Wir vermuten, dass das Geheimnis sich dann lichtet, wenn wir wissen, was das ist, das fünf Sechstel unseres Alls ausmachet und und noch gänzlich unbekannt ist, so dass wir es jetzt noch hilfsweise die „dunkle Materie“ nennen.
Was wir jetzt kennen, ist nur ein Teilstückchen. Versuchen wir es nachzuvollziehen. Die Elementarteilchen besitzen eine Masse. Die Lichtquanten keine (darum ist das Licht auch so schnell und wird nicht gebremst). Aber was gibt den Teilchen das Gewicht? 1963/64 hatten die drei Pysiker Brout, Englert und Higgs unabhängig voneinander die gleiche Idee: Es muss ein weiteres Teilchen geben, das allen anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht. Dank des kurzen Namens siegte die Bezeichnung Higgs-Feld.
Der Nobelpreisträger Lederman nannte es einmal das „Gottesteilchen“. Das war natürlich ein Scherz. Jeder weiß, dass es zum Begriff „Gott“ gehört, kein physikalisches Klötzchen und Bindeglied zu sein, und dass mit dem Higgsteilchen nichts klarer darüber würde, warum es unsere Welt und uns gibt und nicht vielmehr nichts, und ob ein „wer“ oder ein „es“ unser Universum gemacht hat. Spekulationen kosten nichts, und es gibt auch radikale: Es habe sich selbst gemacht, weil Universen nacheinander und nebeneinander seit je wie Blumen auf der Wiese entstünden, zufällig. Aber woraus?
Neulich sagte der linke italienische Zeitungsmacher Scalfari zu Papst Franziskus, nicht ein Gott, sondern das Sein habe die Welt gemacht: „Das Sein ist stoffliche Energie. Es handelt sich um chaotische Energie, unzerstörbar und in ewigem Chaos. Wenn diese Energie den Explosionspunkt erreicht, strömen aus ihr Formen.“ Magnetfelder und chemische Elemente verbänden sich zufällig bis hinauf zum denkfähigen Tier Menschen (Interview 4. Okt. 2013, ZENIT.org). Der Zufall war danach der Schöpfer unserer konkreten Welt.
Was davor und danach ist und ob weitere Welten daneben existieren, können wir freilich nie erfahren. Auch der Philosoph Schopenhauer brauchte keinen Schöpfer-Gott, er hat das Woher aber genauer als mit dem Begriff „Zufall“ benannt: Es sei der „Wille zum Leben“. Näheres kann ein Agnostiker nicht behaupten.
Die Theologen scheinen unkritisch stehen geblieben zu sein, wenn sie lehren, die jüdisch-christliche Idee, ein Schöpfergott habe unseren Kosmos durch sein Wollen und mittels seines Wortes ‚hervorgerufen‘. Was ist denn das, und wie könnte denn ein Geist, selbst wenn er ein geistiges Superwesen ist, materielle Dinge hervorzaubern? Ist das nicht eine überholte Kindersprache einer frühen unaufgeklärten Menschheit?
Juden und Christen nennen diesen geglaubten Schöpfer der Welt „Vater“. Sie meinen damit nicht nur, dass wir letztlich von ihm herkommen, sondern dass er eine ganz nahe Beziehung zu uns Menschen habe. Die Theologen erläutern: Gott sei der Grund, dass es das Universum und den Menschen gebe, das Merkwürdige und das Wunder sei, dass er diese materielle Welt gewollt habe, als Geschenk und Glück für uns. Er selber könne niemals ‚Welt‘ werden. Wir seien also das Andere für ihn, an dem er sich freue. Er habe in die Materie das Vermögen eingestiftet, dass der Mensch und sein Geist evolutiv entstehen und schließlich auch Gott entdecken und die Liebe zu seinen Geschöpfen.
So sagt es die jüdisch-christliche Tradition in ihrer heutigen Auslegung. Ein jüdischer Physiker wie Einstein musste als Naturforscher ein Stück vorher stehen bleiben. Gott war für ihn keine Person, sondern so etwas wie ein höheres Gesetz im Weltall. Aber „Er würfelt nicht“, sagte er. Also mehr als Zufall? Ich persönlich denke, dass wir Theologen den Naturwissenschaftlern Steine auf den Weg gelegt haben, die den Dialog zum Streit werden ließen. Falsch versöhnt man sich, wenn man nun einfach beides voneinander trennt: Hie Vernunft, dort Glaube; hier Wissenschaft, da Religion. Zum Beispiel haben wir Theologen es versäumt, den Naturwissenschaftlern mitzuteilen, was auf dem Laterankonzil 1215 formuliert wurde: Bei allen theologischen Begriffen sei die Unähnlichkeit mit der wahren Sache größer als die Ähnlichkeit.
Das muss auch für Titel wie „Gott Vater“, „Gott Sohn“ gelten. Es ist kein Verhältnis wie beim Menschen, sonst hätten wir damit auch zwei Götter. Hier ist nicht der Ort für eine theologische Vorlesung. Es ist nur ein Hinweis auf unser Versäumnis, eine verständliche Sprache zu finden.
Die drei Physiker, die das Higgsteilchen vorhersagten, kamen vor 50 Jahren allein aufgrund von strengen Symmetrieüberlegungen zu ihrem Postulat. Das logische Denken kann vieles leisten. Es war auch das logische Denken, das einmal auf den Gedanken kam: Sonne, Mond und Sterne können doch keine Götter sein, sie dürfen nur Lampen heißen. Vor drei Jahrtausenden begann es, dass Zweifler und kritische Sucher sich fanden und austauschten. Die Bibel nennt die Abraham-Leute, die Gruppe um Isaak und die Sippe Jakobs, die sich durch ihre kritischen neuen Gotteserfahrungen näherkamen (oder wohl erst später im Rückblick literarisch verbunden wurden). Durch und nach Mose wuchs mit der staatlichen Größe Israel eine neuartige Aufklärungsreligion heran.
Der Nachweis vom 4. Juli 2012 für die Idee der Higgs-Teilchen brauchte 50 Jahre und wäre ohne den Teilchenbeschleuniger am CERN mit dem 27-km-Ring nicht gelungen. 6000 Beteiligte waren dazu nötig. Was war nötig, um die Bibel mit ihren von einem Gottesvolk zu lebenden Werten hervorzubringen? 1500 Jahre, das bedeutet 50 Generationen, in der Königszeit vielleicht 300 000, später viel mehr Personen umfassend. De facto spielte freilich immer nur ein heißer Kern die entscheidende Fortschritts-Rolle, um im Aufeinanderprall der Religionen und der Weisheitslehren den neuen vernünftigen Glauben zu finden, zu behaupten und immer weiter zu verbessern.
In gewisser Weise ist auch die hinter der Bibel stehende Erfahrung ein experimentell erwiesenes Wissen und kann die jüdisch-christliche Theologie eine empirische Wissenschaft sein. Sie darf nur reflektieren, was bestimmte Menschen als Geschichte der Erde mit Gott erfahren haben. Sie darf nicht wild spekulieren.
Ob das inhaltlich Gesagte auch wahr ist, kann man nur persönlich entscheiden. In der Theologie als Wissenschaft kann nur gefragt werden, ob das Erfahrene und Behauptete möglich sei – das heißt hier in den Grenzen des oben über die Glaubens-Sprache gesagten (mehr unähnlicher als ähnlich).
Ist das Wort „Schöpfung“ für unser Denkenvorstellbar? Vorstellung - damit ist die Leistung unseres Denkapparats nicht heruntergeschraubt auf ein bloßes Feuern einer Gehirnregion, als ob die Wirklichkeit des Weltalls nur das Gewölbe der Hirnschale zur Wahrheit habe: Alles nur Einbildung. Kann es sein, dass die Welt, aus der unser Vermögen evolutiv hervorkam, in unserem Denken und Sprechen einigermaßen richtig abgebildet wird? Nur dann, wenn der Kosmos ein System ist, das fähig war, diesen Geist für die Wirklichkeits-Erkenntnis zu erzeugen.
Die Geistesgeschichte der Menschheit hat einen großen Weg der Aufklärung zurückgelegt: Von der Anbetung der Gestirne als Götter bis zur Urknallhypothese. Sowohl die Materialisten (Beispiel: Marx) wie die Idealisten (Beispiel: Hegel) haben die Transzendenz (das eigene Existieren außerhalb der Welt) eines Schöpfers aufgelöst in die Immanenz als Gleichsetzung mit der Welt: Religion bloß Produkt des menschlichen Geistes - als Opium und Protest gegen das irdische Elend, Religionsgeschichte zu vollenden in einer Verwandlung des Christentums in Philosophie und eine Umwandlung der Kirche in eine reine Staatsethik.
Der jetzige Papst rät mit seinen Gesten und Worten den Katholiken, dass sie die Maßstäbe des biblischen Vatergottes neu nachzuahmen lernen: Keine Angst, denn sein Grundgesetz ist Barmherzigkeit, aber auch kein billiges Ausweichen, sondern die Gestrandeten und Armen aufnehmen wie Brüder und Schwestern. Kurz, den anderen wahrnehmen, weil auch Gott uns andere gewollt hat und liebt. Die deutschen Katholiken erschraken schon vor Papst Benedikts Forderung nach einer Ent-Verweltlichung der Kirche. Jetzt wälzen sie die Aufgabe auf den Bischof von Limburg. Die meisten dürften wohl aber bei den Werten der neuheidnischen grün-apokalyptischen Ethik bleiben: Nachhaltigkeit und bewusster Konsum, damit die Meere uns nicht überfluten.
Unsere Sonne gäbe uns nicht nur Millionen, sondern einige Milliarden Jahre Zeit, falls wir mit den Asteroiden klar kommen oder – was eine viel größere Gefahr ist - nicht mit uns selbst.
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.