10. Mai 2013

Über die Schwierigkeit den Anderen zu ertragen. Gedankensplitter zu einem mir wichtigen Thema. Ein Gastbeitrag von Llarian

In der westlichen Zivilisation gilt – mit wenigen Ausnahmen – seit langer Zeit die Meinungsfreiheit als ein ehernes und zentrales Grundrecht. Das Bundesverfassungsgericht fasste es in einem Urteil von 1958 mal treffend: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend.

Fragt man einfache Menschen auf der Straße, so halten die meisten die Meinungsfreiheit für sehr wichtig und fragt man einen sich liberal wähnenden Menschen, dann hat man eine gute Chance einen bekennenden Anhänger der Meinungsfreiheit vor sich zu haben.

Nun habe ich folgendes beobachtet: Es ist furchtbar leicht für ein Recht zu sein (egal welches), dass man für sich in Anspruch nimmt, ebenso wie man Rechte für deutlich weniger wichtig hält, die man selber nicht in Anspruch nimmt. Heterosexuelle Menschen haben deutlich weniger Probleme mit der Diskriminierung von Homosexuellen als Homosexuelle das haben. Ein Mensch, der nicht Auto fährt, wird es oftmals egal sein, ob ein generelles Tempolimit auf deutschen Straßen eingeführt wird, jemand der wiederum gerne mal was schneller fährt, wird das anders sehen. Sondersteuern für Millionäre sind recht populär bei Leuten, die nie in ihrem Leben damit rechnen ein Millionär zu werden, die meisten Millionäre werden das anders sehen.

Beispiele könnte ich noch viele finden, aber das Prinzip ist klar: Die eigene Freiheit ist den meisten Menschen sehr wichtig, die Freiheit des anderen deswegen noch lange nicht. Und diese Diskrepanz ist extrem weit verbreitet, auch unter sich liberal empfindenden Menschen. Allzu viele Menschen wähnen sich liberal, so lange sie nur die Freiheiten verteidigen, die sie selber in Anspruch nehmen oder sich vorstellen irgendwann in Anspruch zu nehmen.

Nun sollte man meinen die Meinungsfreiheit betrifft uns alle und deshalb wären wir alle dafür. Aber das stimmt nicht, es stimmt nur sehr, sehr selten. Denn wenn wir von Meinungsfreiheit reden, dann reden wir oft hochgestochen von „der Freiheit des anderen“, meinen aber eigentlich die eigene. Jeder ist sozusagen frei, sich so zu äußern wie ich. Das ist wichtig. Aber sich äußern zu können, wie ich nicht bin, das ist deutlich unwichtiger. Das glauben Sie nicht, werter Leser? Sie sind ein glühender Anhänger der Freiheit des anderen? Dann erlauben Sie mir das in Frage zu stellen. Und zwar mit aufsteigendem Schwierigkeitsgrad:

1. Eine Person äußert die Meinung, alle Politiker seien Verbrecher. Das ist recht gängig. Und die allermeisten werden das für einen typischen Fall von Meinungsfreiheit halten, denn sie können sich vorstellen auch so zu denken.

2. Eine Person äußert die Meinung, man solle alle Millionäre enteignen. Die Meinung ist seltener. Aber problemlos und wieder würde sie von vielen zwar nicht geteilt, aber doch als Meinungsfreiheit verteidigt werden. Zumal es gut dem Zeitgeist entspricht.

3. Eine Person äußert die Meinung, alle Soldaten seien Mörder. Hier wird’s dann schon giftiger. Es gibt eine Menge Menschen die der Meinung sind, das dürfe man nicht sagen. Es entspricht nicht ihrem Denken. Bei Licht betrachtet wird den meisten bewusst, dass die Aussage kaum sanktioniert werden kann. Und dennoch bleibt das Gefühl, dass man das nicht sagen darf.

4. Ich klettere die Leiter weiter runter: Jemand äußert die Meinung, dass alle Türken, die noch keinen deutschen Pass haben, keine weitere Aufenthaltsgenehmigung bekommen sollten. Das ist dann schon richtig übel. Und nach dem Zeitgeist unerträglich. Aber ich bitte mal darüber nachzudenken, ob das etwas ist, was man sagen darf: Die Aussage ist keine Hetze, sie fordert nicht zur Gewalt auf, es ist auch so kein Rassismus, sie beleidigt niemanden und sie gefährdet auch nicht die Jugend. Und dennoch wäre kaum jemand bereit dies als Meinungsäußerung zu verteidigen, denn kaum jemand denkt so und wenige können sich vorstellen so zu denken.

5. Weiter geht’s: Jemand äußert die Meinung es habe keinen Holocaust gegeben. Autsch. Diese Meinung ist in Deutschland verboten und endet nicht selten im Knast. Unabhängig von dieser Rechtslage, bitte ich einen Moment darüber nachzudenken wie es sich hier mit der Meinungsfreiheit verhält, bzw. wie man das empfindet. Denn nahezu niemand wird das als Meinungsfreiheit verteidigen wollen (und wer das tut, begibt sich selber schon in Gefahr).

6. Und am Ende gehe ich wirklich auf den Boden (ja, einen tiefer geht noch, zumindest aus meinem Empfinden heraus) und nenne ein Beispiel, das mich selber vor Jahren an die Grenze gebracht hat, was ich noch ertragen will oder kann: Jemand äußert die Meinung, dass es völlig legitim und in Ordnung sein sollte, wenn ein Erwachsener Mann mit einem Kind Sex hat. Diese Meinungsäußerung habe ich vor Jahren im damaligen offenen FDP-Forum von jemandem gelesen. Und das war auch keine Provokation, wie sich herausstellte war der Mann ein bundesweit bekannter Pädophiler, mehrfach einschlägig vorbestraft, der sich für die Änderung der Gesetzeslage in dieser Richtung einsetzte. Hier wird sich kaum jemand finden, der auch nur auf den Gedanken käme, dies wäre Meinungsfreiheit. Ich erst mal auch nicht. Das damals gesagte war (und ist) jenseits dessen, was ich zu ertragen bereit war.

Warum schreibe ich diese Treppe auf? Um zu zeigen, wo bei jedem die Grenze des Erträglichen endet? Auch. Aber vor allem um aufzuzeigen wie schwer es manchmal ist zu ertragen was der Andere meint. Wir, als Gesellschaft, wähnen uns als furchtbar liberal. Wir bauen auf unsere Grundrechte und sind stolz darauf, wenn wir „die Freiheit des Anderen“ verteidigen. Aber so weit ist es damit gar nicht her. Wir verteidigen in den allermeisten Fällen die Freiheit, die wir uns selber vorstellen können. Aber die Freiheit desjenigen, der wirklich unserem Denken entgegensteht, die verteidigen wir eigentlich eher selten.

Ich habe bis heute keine endgültige Antwort darauf gefunden. Aber vielleicht hilft es auch schon einmal sich dessen bewusst zu sein, bevor man sich vor lauter Liberalität auf die eigene Schulter klopft. Wer wirklich Meinungsfreiheit und nicht nur ein Zerrbild davon hochhalten will, der muss sich auch darüber klar sein, dass das in Konsequenz das Ertragen des nahezu Unerträglichen bedeutet und nicht nur dessen, dass jemand meint in der CDU gäbe es nur Ganoven. Ich habe über das letzte aufgezeigte Beispiel nun einige Jahre nachdenken können. Und befinde mich immer noch im inneren Konflikt. Der rationale Teil von mir weiß, dass die Forderung bestehende Gesetze zu ändern, nicht verboten sein kann, so lange wir uns in einer freien Gesellschaft befinden wollen. Selbst die Diskussion um unsere absoluten Grundwerte, die Verfassung, muss erlaubt sein. Mein emotionaler Teil möchte eine solche Diskussion nicht führen, er möchte solche Leute nicht sehen, er möchte eigentlich nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Aber davon gehen sie nicht weg. Und wer sich von Gefühlen leiten lässt ist oftmals auf dem Holzweg.

Aber wenn ich schon keine Antwort habe, dann zumindest einen Ausblick darauf: Wann immer wir der Meinung sind etwas sei unerträglich, steht es uns gut zu Gesicht ein zweites und drittes Mal darüber nachzudenken, bevor wir die Freiheit des anderen nicht mehr anerkennen wollen. Es gibt Meinungen, die schwer oder nahezu gar nicht zu ertragen sind. Aber nur weil kaum jemand bereit ist die Freiheit dessen zu verteidigen, der kaum ertragen werden kann, heißt das nicht, dass das richtig ist.

Llarian

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