Der "Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung" (CERD) der Vereinten Nationen hat die Bundesrepublik Deutschland gerügt, weil sie Thilo Sarrazin wegen Äußerungen über Einwanderer nicht verklagt hat. Antragsteller war der "Türkische Bund in Berlin-Brandenburg" (TBB), der im Herbst 2009 gegen Äußerungen Sarrazins in der Zeitschrift "Lettre International" klagen wollte (ZR vom 6.10.2009.) Die Staatsanwaltschaft lehnte damals die Eröffnung eines Strafverfahrens ab, worauf der TBB sich an die UNO gewandt hat. Nach mehrjährigem Hin und Her der Stellungnahmen (hier nachzulesen), hat CERD dem "Türkischen Bund" nunmehr vollständig Recht gegeben.
Nach Artikel 4 des "Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung" (ICERD), dessen Einhaltung CERD überwacht, sind die Vertragsstaaten u.a. verpflichtet, "jede Verbreitung von Ideen, die sich auf die Überlegenheit einer Rasse oder den Rassenhass gründen, jedes Aufreizen zur Rassendiskriminierung und jede Gewalttätigkeit oder Aufreizung dazu gegen eine Rasse oder eine Personengruppe anderer Hautfarbe oder Volkszugehörigkeit sowie jede Unterstützung rassenkämpferischer Betätigung einschliesslich ihrer Finanzierung zu einer nach dem Gesetz strafbaren Handlung zu erklären". (Artikel 4(a))
Bei Sarrazins Bemerkungen handele es sich gerade um solche Ideen, die sich auf die Überlegenheit einer Rasse oder den Rassenhass gründen und sie enthielten Elemente des Aufreizens zur Rassendiskriminierung. (Siehe a.a.O, 12.8) Daher hätte ein Strafverfahren geführt werden müssen. Der Ausschuss empfiehlt der Bundesrepublik, ihre Praxis in solchen Fällen zu überdenken.
Kommentar: Dieser Artikel 4 des Übereinkommens gilt selbst einigen Vertragsunterzeichnern als so fragwürdig, dass sie sich zu Klarstellungen veranlasst fühlten. Denn während die Vorschriften dieses Artikels die Meinungsfreiheit einschränken, wird zugleich eine "gebührende Berücksichtigung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten Grundsätze" verlangt, zu denen eben auch die Meinungsfreiheit zählt.
Austria, Belgium, France, Ireland, Italy, Japan, Malta, Monaco, Switzerland and Tonga all interpret Article 4 as not permitting or requiring measures that threaten the freedoms of speech, opinion, association, and assembly. Antigua and Barbuda, the Bahamas, Barbados, Fiji, Nepal, Papua New Guinea, Thailand and United Kingdom interpret the Convention as creating an obligation to enact measures against hate speech and hate crimes only when a need arises. The United States of America does not accept any obligation to enact measures under Article 4, which it views as incompatible with freedom of expression.(Wikipedia)
Österreich, Belgien, Frankreich, Irland, Italien, Japan, Malta, Monaco, die Schweiz und Tonga verstehen den Artikel 4 so, dass Maßnahmen, welche die Rede-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit beeinträchtigen, weder zulässig noch vorgeschrieben sind. Antigua und Barbuda, die Bahamas, Barbados, Fidschi, Nepal, Papua-Neuguinea, Thailand und das Vereinigte Königreich verstehen die Konvention so, daß die Verpflichtung, Maßnahmen gegen Haßreden und Verbrechen aus Haß zu ergeifen, nur besteht, sofern diese notwendig sind. Die Vereinigten Staaten von Amerika akzeptieren keinerlei Verpflichtung, Maßnahmen nach Artikel 4 zu ergreifen, den sie als unvereinbar mit der Freiheit der Meinungsäußerung ansehen.
(Den genauen Wortlaut der jeweiligen Vorbehalte und interpretierenden Erklärungen kann man hier nachlesen.)
Das halbstaatliche "Deutsche Institut für Menschenrechte" fordert jetzt eine Anpassung des deutschen Strafgesetzes: "Gesetzeslage und Praxis im Bereich der Strafverfolgung von rassistischen Äußerungen sind im Lichte der Entscheidung auf den Prüfstand zu stellen" (Pressemitteilung vom 18.4.13). Das wäre in der Tat ein konsequenter Schritt aus der Sicht dieser Gegner der Meinungsfreiheit.
Konsequent wirkt auch die Position der USA; denn der Artikel 4 ICERD scheint in der Tat dem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit nicht ausreichend Genüge zu tun. Da liegt es nahe, die völkerrechtlichen Verpflichtungen an das Menschenrecht anzupassen statt umgekehrt mit diesem Vertragsartikel ein Grundrecht auszuhebeln.
Vermutlich käme jetzt ein entprechender Vorbehalt Deutschlands zu spät: den hätte man wohl wie die USA schon bei der Ratifizierung aussprechen müssen. Eine "interpretierende Erklärung", wie sie die anderen Staaten abgegeben haben, wäre in der jetzigen Lage aber wohl angemessen. Die UNO verlangt von der Bundesrepublik, sich binnen 90 Tagen zu der Rüge zu äußern. Wie wäre es damit:
Die Bundesrepublik Deutschland stellt fest, dass durch Maßnahmen gemäß Artikel 4 das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nicht gefährdet werden darf.
Es handelt sich nur um die UNO. Mehr als einmal sollte man sich dennoch nicht in die Suppe spucken lassen.
© Kallias. Eine ausführliche Darstellung und Kommentierung findet sich im linken "Verfassungsblog". Im Kommentarbereich wird auch das gegensätzliche Votum des Ausschussmitglieds Carlos Manual Vazquez (USA) verlinkt. Für Kommentare bitte hier klicken.