5. Februar 2013

Falsch! Plädoyer für einen vernünftigeren Umgang mit Fehlern / Ein Gastbeitrag von Andreas Doeding

Wie viele Fehler haben Sie, lieber Leser, heute schon gemacht? Vielleicht fällt Ihnen ja der eine oder andere ein. Ich habe heute beispielsweise meinen Hund erkennbar zu spät zurückgerufen, als er auf eine ältere Dame zulief. Ich habe vergessen, Margarine einzukaufen; ich habe Kaffee auf dem Frühstückstisch verschüttet.

Aber halt, das sind ja nur die Fehler, die ich bereits als Fehler erkannt habe. Handlungen also, über deren Fehlerhaftigkeit ich bereits Einsicht gewonnen habe. Was aber ist mit möglichen Fehlern, die Sie, die ich heute, letzte Woche, letzten Monat gemacht haben, und deren Fehlerhaftigkeit sich erst später herausstellen wird? Was, wenn infolge dieser Fehler, die Sie und ich gemacht haben, Schaden entstehen wird?

"Nun, das kann ich jetzt ja noch nicht wissen, ich bin mir keiner Schuld bewußt" werden Sie vielleicht sagen, und so ist es ja auch. Wie fänden Sie es nun, wenn ich Sie ziemlich unfreundlich anraunzte, daß Sie das aber wissen müssen, daß ein solcher Fehler, wie Sie ihn gemacht haben, von dem Sie aber noch nichts wissen, daß ein solcher Fehler einfach nicht passieren darf?

Ich würde mich über einen solchen Vorwurf vermutlich ziemlich ärgern, ich empfände ihn als absurd. Weil ich nicht in die Zukunft sehen kann. Weil ich von dem Fehler noch nichts weiß, weil ich von diesem Fehler mit meinem heutigen Wissensstand noch nichts wissen kann. Einen anderen Wissensstand habe ich aber nun einmal nicht; genau wie Sie, lieber Leser, nur den einen, nämlich Ihren Wissensstand haben



"Irren ist menschlich". "Alle Menschen machen Fehler". Das sind Aussagen, denen in ihrer abstrakten Allgemeinheit die meisten von uns zustimmen werden. Sie sind ausgesprochen konsensfähig, was in einer Konsensgesellschaft natürlich erfreut aufgenommen wird. "Kann ja mal passieren!" ist auch so ein Satz, der bei "kleinen" und alltäglichen Fehlern, die keinen wirklichen Schaden verursachen, gerne gesagt wird.

Was aber, wenn ein Fehler sich als "schwer" herausstellt, wenn in seiner Folge erheblicher Schaden, materiell oder immateriell, sichtbar wird? Dann ist es mit diesem Konsens schnell vorbei. Mehr noch, es tritt ein anderer Konsens an seine Stelle (man befindet sich schließlich immer noch in einer Konsensgesellschaft!): "Das hätte nicht passieren dürfen!", eine nachträgliche Verbotsforderung also. "Das hätte man wissen müssen!"

Das ist absurd, da es einer Forderung nach hellseherischen Fähigkeiten auf seiten des Fehlerverursachers gleichkommt, ja letztlich sogar nach der Aufhebung von Ursache-Wirkungsbeziehungen ruft: Wenn der Fehler für den Betreffenden vorher als Fehler erkennbar gewesen wäre, dann hätte er ihn höchstwahrscheinlich - nein, ganz sicher - nicht gemacht. Dennoch wird gefordert, daß er nach einer Einsicht hätte handeln müssen, zu der er naturgemäß erst hinterher gekommen ist. Eine Zeitmaschine wäre hier hilfreich.

In der Begründung des Urteils, in dem der Vater des Amokläufers von Winnenden wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in 14 Fällen erstinstanzlich schuldig gesprochen wurde, formulierte der vorsitzende Richter, daß die Tat seines Sohnes für Jörg K., wenngleich nicht in ihrer Dimension, so doch "erkennbar und vermeidbar" gewesen sei. Nun, er hat die Tat offenbar nicht "erkannt und vermieden".

Hätte er sie wirklich erkennen und vermeiden können? Nein. Er hat sich eine solche Tat seines Sohnes nicht vorstellen können. Weder in dieser Dimension, noch in einer anderen. Das Urteil wurde kürzlich wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben und zur Neuverhandlung zurückverwiesen.



Eine zweite Forderung, die sich reflexhaft aus der ersten ("Das hätte nicht passieren dürfen!") ergibt, ist die nach "Sanktionen", nach möglichst harter Bestrafung des Fehler­verursachers. Bestrafung für eine Handlung also, die sich im Nachhinein als fehlerhaft herausgestellt hat, die jedoch, als sie geschah, dem Informationsstand des Fehlerverursachers entsprochen hat, der wahrscheinlich sogar "nach bestem Wissen und Gewissen" gehandelt hat.

Nach der ICE-Katastrophe von Eschede 1998 mußten sich zwei Mitarbeiter des ehemaligen Bundesbahnzentralamts sowie ein Ingenieur des Radreifenherstellers vor Gericht wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Das Verfahren wurde eingestellt; jedoch gegen ein Bußgeld von je 10000,-€, mit dem, so der damalige Staatsanwalt "dem öffentlichen Strafinteresse genüge getan" sei.

Es gibt also ein "öffentliches Strafinteresse" bei Unfällen und Unglücken, selbst wenn individuelle Schuld, wie offensichtlich in diesem Fall, nicht nachgewiesen wurde. Man braucht offenbar einen Schuldigen, und dieser gehört bestraft, um fast jeden Preis.

Dabei ist es genau genommen ja gar nicht der Fehler selbst, der bestraft wird, sondern lediglich das mehr oder weniger zufällige Eintreffen einer schädlichen Konsequenz aufgrund des Fehlers.

Erst kürzlich habe ich durch Unachtsamkeit beim Autofahren einen "Beinnahe-Unfall" verursacht. Ich habe also alles an Fehlerhaftem Getan, was nötig war, um einen Unfall, vielleicht sogar mit Personenschaden, zu verursachen.

Dank der Geistesgegenwart eines anderen Verkehrs­teil­nehmers wurde das verhindert. Ich habe "Glück" gehabt. Hätte ich "Pech" gehabt und einen Unfall verursacht, dann hätte ich wahrscheinlich eine Strafanzeige bekommen.

Es ist also oftmals letztlich der Zufall, das zufällige Eintreffen einer schädlichen Konsequenz aufgrund eines Fehlers, das entscheidet, ob angeklagt und bestraft wird oder nicht.

Besonders deutlich wird dies bei der Diskussion um sogenannte "Ärztliche Kunstfehler", abwertend gern "Ärzte­pfusch" genannt. Man empört sich gerne und lautstark: "Die vertuschen doch eh alles, die stecken alle unter einer Decke; eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Die kehren das unter den Teppich."

Ja, natürlich tun sie das. Weil es vernünftig ist und klug unter den gegebenen Bedingungen.

Laut Wikipedia werden ärztliche Kunstfehler grundsätzlich als strafrechtlich relevante Körperverletzung, ggf. auch als fahrlässige Tötung eingeordnet.

Warum sollte ein Arzt also bei der Aufklärung und Analyse eines individuellen oder gar systematischen Fehlers mithelfen, ja diesen Fehler auch nur zugeben, wenn die Konsequenzen erwartbar existenzbedrohend wären (Verlust der Zulassung, Verlust jeglicher Reputation, Stigmatisierung, Verlust der wirtschaftlichen Lebensgrundlage)? Warum sollte ein Arzt nicht seinem Kollegen reziprok-altruistisch helfen, z. B. Akten umzuschreiben oder gar verschwinden zu lassen, in der Hoffnung, daß ihm ebenfalls geholfen werde, sollte man je selbst in eine solch missliche Lage geraten?

Mit der weitgehend konsensuellen Fehlerintoleranz in unserer Gesellschaft erreicht man Vieles, aber nicht das Wünschens­werte: daß nämlich aus Fehlern gelernt wird, so daß sie dann tendenziell unwahrscheinlicher werden. Im Gegenteil: wir bekommen immer mehr Intransparenz, Vertuschung und Tradierung von Fehlern sowie Zementierung ihrer schädlichen Folgen.

Wir brauchen eine größere Fehlertoleranz, die wiederum Voraussetzung ist für mehr Fehlertransparenz. Dann erst hätte man die Chance, den individuellen und ggf. auch systematischen Ursachen von Fehlern auf den Grund zu gehen und auf diese Weise zu wirklichen Verbesserungen und somit letztlich zu geringeren Fehlerhäufigkeiten, einschließlich ihrer bisweilen fatalen Folgen, zu kommen.

Fehlertoleranz, das wäre mal ein Konsens.
Andreas Doeding



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