17. Oktober 2012

Marginalie: 4:4 oder der Untergang einer siegreichen Mannschaft. Der Lohn-der-Angst-Effekt

In Henri-Georges Clouzots Meisterwerk "Lohn der Angst" (Le salaire de la peur) fahren vier Desperados in Mexiko zwei Laster mit Nitroglyzerin durchs Gebirge zu einer Erdöl-Bohrstelle, wo der Sprengstoff benötigt wird, um einen Brand zu löschen. Drei von ihnen kommen auf dem Weg ums Leben. Der vierte, Yves Montand, kommt durch, kassiert den doppelten Lohn und macht sich mit seinem Laster auf die Heimfahrt.

Man sieht ihn, wie er nach überstandener Gefahr und beglückt von der Entlohnung singend, die Serpentinen entlangfährt. Bis er, übermütig fahrend, die Kontrolle über den LKW verliert und in die Schlucht stürzt.

An diesen Film mußte ich denken, als ich gestern Abend das WM-Qualifikationsspiel Deutschland-Schweden gesehen habe.

Wie kann so etwas passieren, daß eine Mannschaft eine Stunde lang Traumfußball spielt und danach eine halbe Stunde lang agiert wie die Stümper? Daß ein Weltklasse-Torwart wie Neuer stellenweise wie ein Mann aus der Kreisklasse spielt?

Es ist, denke ich, der Lohn-der-Angst-Effekt.

Löws Elf hat in der ersten Stunde zwar nicht Angst ausgestanden, aber sie war ähnlich unter höchster Anspannung gewesen wie im Film das Quartett Yves Montand, Peter van Eyck, Charles Vanel und Folco Lulli. Man hatte sich, wie man so sagt, in einen Rausch gespielt.

Nach einer solchen Freisetzung von Adrenalin folgt, so hat es die Evolution eingerichtet, die Erholungsphase, sobald das Ziel erreicht ist. Es werden Endorphine freigesetzt. Man fühlt sich gut und wird leichtsinnig.

Das ist, so scheint es, der traumhaft spielenden deutschen Mannschaft widerfahren, als sie gegen - wie es schien - hoffnungslos unterlegene Schweden mit 4:0 führte. Das Spiel war erst ein Stunde alt; aber die Spieler nahmen die Situation offenbar so wahr, als hätten sie den Stress schon hinter sich. Ungefähr so, wie James Bond, wenn er am Ende des Films in der Hängematte liegt, Martini trinkt und sich von einer Schönen hätscheln läßt. So, wie der glücklich singende Yves Montand in seinem 666-LKW.

Es ist physiologisch sehr schwer, aus diesem Zustand entspannter Euphorie wieder in einen fighting mood zu kommen, in eine kämpferische Stimmung. Das hat die überwiegend junge deutsche Mannschaft gestern erfahren. Sie hätte spätestens nach dem zweiten Gegentor noch einmal auf Kampf schalten müssen; aber so etwas macht unsere Physiologie gar nicht gern, wenn sie einmal auf entspannt geschaltet ist.

So gerieten Löws Mannen unter die Räder. Ein Glück, daß das Spiel kurz nach dem 4:4 zu Ende war; sonst hätte auch gut noch eine Niederlage herauskommen können.

Das einzige Gegenmittel gegen ein solches Desaster ist es, sich bis zum Schlußpfiff die Siegessicherheit zu versagen. Also die Weisheiten Sepp Herbergers zu beherzigen: "Der Ball ist rund" und "Das Spiel dauert neunzig Minuten".

Aber das will trainiert sein. Es ist gegen die menschliche Natur.
Zettel



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