10. Juni 2012

Zitat des Tages: Public Viewing zur Fußball-WM anno 1954. Ein Psychologe psychologisiert

F.A.S: Früher hat man in kleinen Kneipen geguckt. Heute schaut man auf großen Plätzen, mit Hunderten von Menschen. Macht das einen Unterschied?

Strauß: Psychologisch gesehen: nein. In beiden Fällen möchte man seine Emotionen nicht allein auf dem Sofa erleben. Das konnte man auch schon bei der Welt­meisterschaft 1954 beobachten. Menschen versammelten sich vor den großen Kaufhäusern, um auf den Fernsehgeräten in den Schaufenstern gemeinsam das Spiel zu sehen.
Aus einem Interview in der heutigen "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (F.A.S.) mit dem Münsteraner Professor für Sportpsychologie Bernd Strauß.

Kommentar: Die Menschen wollten bei der WM 1954 "ihre Emotionen nicht allein auf dem Sofa erleben" und versammelten sich deshalb vor den Fernsehgeräten in den Schaufenstern?

Eine interessante psychologische Theorie. Allerdings waren im Jahr 1954, kurz nach Aufnahme des regelmäßigen Sendebetriebs, in der gesamten Bundesrepublik erst 18.000 Fernsehgeräte angemeldet. 7.000 davon standen in Wirtschaften und Schaufenstern.

Gut 10.000 Geräte (vielleicht noch ein paar schwarz betriebene dazu) für rund 50 Millionen Westdeutsche - da bedurfte es nicht unbedingt des Bedürfnisses, Emotionen gemeinsam zu erleben, um sich bei der Übertragung der Fußball-WM vor den Schaufenstern der Kaufhäuser zu versammeln.

Die Erinnerungen eines Bürgers, der 1954 als Einziger seines Dorfs einen Fernseher hatte, können Sie sich in diesem kleinen Video ansehen. An dem Sonntag, an dem in Bern das Endspiel stattfand, stellte er seinen Fernseher ins Fenster zum Hof, damit das Dorf zusehen konnte.



Lohnt das ein "Zitat des Tages"? Ich finde schon. Denn es ist ein schönes Beispiel für das Psychologisieren, das heute so sehr en vogue ist. Banale Erklärungen zählen wenig. Aber Psycho, das kommt immer gut.

Viele psychologisieren, als Hobbypsychologen. Professionelle Psychologen sollten das eigentlich nicht. Auch wenn es verführerisch sein mag, für das Rudelgucken vor den Schaufenstern anno 1954 die Sozialpsychologie in Spiel zu bringen; statt den banalen Umstand, daß man zu Hause kein Fernsehen hatte.­
Zettel



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