29. Juni 2012

Marginalie: Salafisten in Tunesien und die Freiheit der Kunst. Ein Nazivergleich

Ein deutscher Autor hätte diesen Vergleich schwerlich gezogen, aber der Franzose Abdelwahab Meddeb, Schriftsteller und Professor für Vergleichende Literatur­wissen­schaft an der Universität Paris-X in Nanterre, tut es: Er vergleicht die Lage in Tunesien, das seit dem Wahlsieg der Islamisten livrée aux fanatiques sei, den Fanatikern ausgeliefert, mit den Verhältnissen in Deutschland nach der Machtergreifung der Nazis.

Sein Aufsatz ist gestern in Le Monde erschienen. Der Titel weist allerdings auf eine andere Parallele zu Deutschland hin: "Ennahda se prétend inspiré par la Démocratie chrétienne allemande" - Die Ennahda behauptet von sich, von der deutschen CDU inspiriert zu sein.

Meddeb, 1946 in Tunis geboren und seit 1967 in Paris lebend, befaßt sich mit dem Tunesien, wie es seit dem Wahlsieg der islamistischen Partei Ennahda (man findet auch die Schreibweise Al-Nahda) im Oktober 2011 entstanden ist (siehe Eine Analyse des Wahlergebnisses in Tunesien; ZR vom 28. 10. 2011).

Diese Partei gilt als gemäßigt islamistisch. Man hat in ihr oft eine Partei gesehen, die zum Islam ähnlich steht wie die CDU zum Christentum; und sie selbst macht sich diesen Vergleich gern zu eigen. Besonders positiv hat sie der deutsche Außenminister beurteilt:
Wir müssen die Umbruchprozesse in Nordafrika und der arabischen Welt politisch und wirtschaftlich unterstützen. (...) Es besteht die Chance, dass sich gemäßigt islamische Kräfte dauerhaft als islamisch-demokratische Parteien etablieren. Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich das Leitbild islamisch-demokratischer Parteien verfestigt. Deshalb sollten wir es nach Kräften unterstützen.
Das schrieb Guido Westerwelle im Januar dieses Jahres in der gedruckten FAZ, und ich habe es damals ausführlich zitiert und kommentiert (Guido Westerwelle und "demokratisch-islamische Parteien". Die deutsche Nordafrika-Politik vor einer verhängnisvollen Wende?; ZR vom 15. 1. 2012). Der Tenor meines Kommentars war: Noch sind die Islamisten in Tunesien nicht in der Mehrheit. Warum sollte die deutsche Regierung sie und nicht die demokratischen, säkularen Parteien unterstützen, von denen zwei - die sozialdemokratische Ettakatol und die Menschrechtspartei CPR - sogar in der Regierung sind?

Wie demokratisch die Ennahda ist, weiß derzeit niemand. Manche bejahen das. Andere sehen in den Bekenntnissen zur pluralistischen Demokratie nur eine Taktik, solange die Ennahda noch nicht über die Macht verfügt, einen islamistischen Staat zu errichten.

Meddeb ist skeptisch und neigt dieser zweiten Meinung zu. Er erwähnt ein Gespräch mit einem Repräsentanten einer regierungsnahen deutschen Stiftung (vermutlich der Konrad-Adenauer-Stiftung), der die Entwicklung in Tunesien verfolgt:
Or l'expert en question m'a transmis l'appréhension de son institution face à ses interlocuteurs "nahdaouis" qui gouvernent la Tunisie. Ceux-ci ne se sentent concernés que par la partie du programme qui efface les vestiges du système déchu ; et ils se révèlent plus que rétifs dès qu'est abordée la mise en place du dispositif qui empêche tout retour à la dictature. C'est comme si les "nahdaouis" laissaient ouverte cette possibilité pour eux-mêmes.

Dieser betreffende Experte nun hat mir die Befürchtungen seiner Einrichtung gegenüber ihren "nahdistischen" [der Ennahda angehörenden; Zettel] Gesprächspartnern vermittelt, die Tunesien regieren. Diese kümmern sich nur um denjenigen Teil des Progamms [ihrer Partei; Zettel], in dem es um die Beseitigung der Spuren des gestürzten Systems geht; und sie erweisen sich als mehr als ablehnend, sobald man sie auf die Realisierung von Vorkehrungen anspricht, die jede Rückkehr zu einer Diktatur verhindern. Es ist als, würden die "Nahdisten" diese Möglichkeit für sich selbst offenhalten.
Im Mittelpunkt des Aufsatzes von Meddeb stehen Angriffe auf die Freiheit der Kunst im neuen Tunesien. Die Täter sind Salafisten.

Beispielsweise drangen am vergangenen Sonntag Unbekannte in die Räume einer Kunstausstellung im Al-Ibdelliya-Palais in La Marsa ein und zerstörten ein Dutzend Gemälde. Es kursieren Gerüchte, daß gegen die betreffenden Künstler Fatwas verhängt worden seien, die sie zum Tode verurteilen. Und hier sieht Meddeb die Parallele zu den Bücherverbrennungen der Nazis. Er zitiert dazu Heinrich Heine: "Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen."

Daß der Franzose tunesischer Herkunft Abdelwahab Meddeb Heinrich Heine zitiert, daß er von seinem Gespräch mit einem deutschen Experten berichtet, daß er die CDU erwähnt und eine Parallele zur Nazizeit zieht, ist kein Zufall: Meddeb lebt gegenwärtig als Gastprofessor in Berlin.



Eine deutsche Fassung seines Artikels hat gestern auch die FAZ gebracht. Dort allerdings erfährt man von seiner Gastdozentur in Deutschland nichts, sondern nur, daß der Autor "als Publizist und Dozent in Frankreich" lebt.

Das ist nicht der einzige Mangel dieser deutschen Version. Die Übersetzung ist stellenweise mehr als frei und oft schlicht falsch.

Der zweite Satz (im Original ist es der dritte; der erste fehlt in der deutschen Version) lautet beispielsweise:
Der von den angeblich gemäßigten Islamisten kontrollierte Staat wirft jene, die Terror säen, mit den Künstlern in einen Topf und setzt sie mit extremistischen Provokateuren gleich.
Der Staat setzt jene, die Terror säen, mit extremistischen Provokateuren gleich? Ja und, was ist daran zu beanstanden?

Zu beanstanden ist die Übersetzung. Im Original nämlich heißt es:
Et les autorités gouvernementales islamistes prétendument modérées renvoient dos à dos ceux qui sèment la terreur et les artistes assimilés à des agents provocateurs extrémistes.
Und das heißt, richtig übersetzt:
Und die vorgeblich gemäßigten islamistischen Regie­rungs­behörden verurteilen gleichermaßen diejenigen, die den Terror säen, und die Künstler, welche mit extremistischen Provokateuren gleichgesetzt werden.
Die Künstler werden mit extremistischen Provokateuren gleichgesetzt, nicht jene, die Terror säen. Und "renvoyer dos a dos" heißt auch nicht "in einen Topf werfen", sondern es meint, daß man die einen wie die anderen für schuldig erklärt; daß man den einen als nicht besser als den anderen bezeichnet.

Kann sich die FAZ denn keinen besseren Übersetzer leisten als jenen Michael Bischoff, der diesen und andere Schnitzer zu verantworten hat? ­
Zettel



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