19. Februar 2012

Aufruhr in Arabien (25): Die Lage in Syrien, das Ende des Arabischen Sozialismus und die Chancen der Kaida

Als roter Faden durchzieht diese Serie der Aspekt, daß es keine einheitliche "Arabische Revolution" gibt; keine vom "Arabischen Frühling" des Jahres 2011 inspirierte übereinstimmende Entwicklung von Rabat bis Bahrain, von Damaskus bis Sanaa; schon gar nicht eine Entwicklung hin zu demokratischen Rechtsstaaten.

Sicherlich haben wir es mit einer Kettenreaktion zu tun. Der Erfolg der Revolution in Tunesien ermutigte Unzufriedene in Ägypten zu ihren Demonstrationen; beide Entwicklungen zogen Unruhen in weiteren Ländern Arabiens nach sich. Aber das ist ein Kausalzusammenhang, keine innere Gemeinsamkeit.

Als diese kann man noch am ehesten ansehen, daß in den meisten der Länder, in denen jetzt Unruhen und Aufstände ausgebrochen sind oder wo ein Umsturz bereits erfolgreich war, der Arabische Sozialismus geherrscht hatte oder noch an der Macht ist.

Ich habe diesen Gesichtspunkt immer einmal wieder in dieser Serie hervorgehoben, weil er in unseren Medien in der Regel vernachlässigt wird: ­Die Einparteienherrschaft in Tunesien war ausdrücklich nach dem Vorbild der Sowjetunion gestaltet. Das System in Libyen war von Gaddafi als eine Synthese aus Marxismus und Islam geschaffen worden. Sowohl das Herrschaftssystem in Ägypten als auch die Diktaturen der sozialistischen Ba'ath-Partei im Irak und in Syrien folgten dem sowjetische Vorbild.

Insofern waren und sind die jetzigen Aufstände eine der letzten Phasen des untergehenden Sozialismus; eine Fortsetzung dessen, was sich auf ganz andere Weise in Osteuropa um 1990 zutrug. Aber schon mit dieser anderen Weise des Regimewechsels beginnen die fundamentalen Unterschiede: Damals verliefen die Revolutionen fast überall (die Ausnahme war vor allem Rumänien) friedlich; und aus ihnen gingen durchweg demokratische Rechtsstaaten hervor. Beides ist in Arabien nicht eingetreten.

Vor allem aber sind die Länder Arabiens viel verschiedener, als es die Satellitenstaaten der Sowjetunion gewesen waren. Diese waren alle bis in die Details der Staats- und Parteistruktur hinein auf dieselbe Weise regiert gewesen. Alle hatten dasselbe, an den Interessen der Sowjetunion orientierte System der Planwirtschaft; alle dieselben "gesellschaftlichen Organisationen" wie staatliche Gewerkschaften, Freizeitorganisationen, Jugend- und Berufsverbände, gleichgeschaltete Medien, eine ideologische Erziehung der Jugend. Alle waren sie Klone der UdSSR.

Davon kann in Arabien keine Rede sein. Dort hatte man den Sowjet-Sozialismus den jeweiligen lokalen Verhältnissen angepaßt. Der vergleichsweise moderate Sozialismus des nach Frankreich hin orientierten Tunesien war ein anderes Herrschaftssystem als die rücksichtslose Diktatur des Möchtegern-Stalin Saddam Hussein. In Libyen mit seinem egomanischen Ideologen Gaddafi an der Spitze herrschten andere Verhältnisse als im Ägypten Mubaraks, in dem sogar die Moslem-Brüder - wenn auch begrenzte - politische Möglichkeiten hatten. Und Syrien war und ist erst recht ein Sonderfall.



Über die Lage in Syrien berichtet jetzt bei Stratfor dessen Nahost-Experte Kamran Bokhari; und zwar vor allem im Hinblick auf einen Aspekt, der in der Berichterstattung über die dortige Aufstandsbewegung fast durchweg vernachlässigt wird: Welche Rolle spielen dort eigentlich die Dschihadisten? Welche Chancen bietet die Entwicklung in Syrien vor allem der Kaida? Im folgenden stütze ich mich überwiegend auf die Analyse Bokharis.

Um die Kaida ist es seit der Tötung Osama Bin Ladens in unseren Medien still geworden; zu Unrecht. Denn auch unter Bin Ladens Nachfolger Ayman al-Zawahiri verfolgt sie weiter ihr zentrales Ziel, die Errichtung des Kalifats; auch wenn dieses noch in weiter Ferne liegt. Die Nahziele sind Aufstände in islamischen Ländern, die zum Sturz der dortigen - aus Sicht der Kaida unislamischen - Regierungen führen und die Massen hinter die Kaida bringen sollen. Der Krieg der Kaida gegen den Westen ist nur ein Instrument in diesem eigentlichen Kampf; denjenigen um Arabien.

Eine der Regierungen, welche die Kaida bekämpft, ist das Assad-Regime in Damaskus. Vor einer Woche, am 12. Februar, ließ al-Zawahiri einen Aufruf an die Bevölkerungen der Türkei, des Irak, des Libanon und Jordaniens - also der Nachbarstaaten Syriens - verbreiten, die Rebellion gegen Assad zu unterstützen. Aus dem Irak wird gemeldet, daß von dort aus die Kaida den Aufständischen in Syrien militärisch zur Hilfe zu kommen versucht.

Noch vor einem Jahr wäre so etwas undenkbar gewesen. Damals war es in Teilen Arabiens bereits unruhig; Syrien aber schien eine Oase der Ruhe zu sein - der Friedhofsruhe einer Diktatur freilich. Der Diktator Bashar al-Assad gab damals dem Wall Street Journal ein Interview, in dem er zu begründen suchte, warum es dank seiner weisen Politik anders als in den umliegenden Ländern in Syrien nicht zu einem Aufstand kommen werde (siehe "Was Sie sehen, ist eine Art Krankheit". Syriens Präsident Assad über die Lage im Nahen Osten und über Präsident Obama; ZR vom 1. 2. 2011).

Die Folgezeit erwies, wie vollständig er sich geirrt hatte. Aber die Lage in Syrien ist dennoch anders als in Libyen oder in Ägypten; die Aussichten auf eine einigermaßen stabile Regierung nach einem Sturz der Dikatur sind noch schlechter als dort. Das liegt wesentlich an der ethnischen und religiösen Heterogenität Syriens und daran, daß es bisher keine geeinte Opposition gibt; auch daran, daß fast die gesamte Führung des Militärs aus Alawiten besteht, die Assad treu ergeben sind (Siehe für die Einzelheiten "Wollen Sie ein weiteres Afghanistan erleben?". Die Wahl zwischen Pest und Cholera in Syrien; ZR vom 30. 10. 2011, und die dort verlinkten vorausgehenden Artikel zu Syrien).

Die Chancen für die Kaida, in Syrien Fuß zu fassen, sind vor diesem Hintergrund günstiger, als sie irgenwo in einem arabischen Land waren, seit die Dschihadisten im Irak dank des surge scheiterten:
  • Erstens können die Dschihadisten von der Spaltung der Bevölkerung profitieren; ähnlich wie in den ersten Jahren nach der Invasion im Irak. Die sunnitische Mehrheit wird von der Minderheit der Alawiten unterdrückt und dürfte die Kaida als willkommene Hilfstruppe sehen.

  • Zweitens gibt es in Syrien die Besonderheit, daß dessen Regime die Operationen der Kaida außerhalb Syriens lange Zeit unterstützte. Aus dieser Zeit gibt es Verbindungen, welche die Kaida jetzt gegen das Assad-Regime einsetzen kann.

  • Ein dritter Aspekt ist die Interessenlage von Ländern wie Saudi-Arabien, Jordanien und Libanon: Auf deren Territorium gibt es dschihadistische Gruppen, die man lieber anderswo - also beispielsweise in Syrien - operieren sehen würde als bei sich zu Hause. Schon während der Kämpfe im Irak hat Saudi-Arabien seine Dschihadisten gern in den Irak weiterreisen lassen. Jetzt kommen aus Saudi-Arabien Aufrufe zur Unterstützung der Rebellion in Syrien.
  • Auch Waffenhilfe, die nicht den Dschihadisten zugedacht ist, könnte in deren Hände gelangen. Waffen gelangen derzeit reichlich aus verschiedenen arabischen Ländern nach Syrien, weil diese Assad lieber von innen bekämpft sehen möchten, als daß es wieder zu einer westlichen Intervention kommt wie in Libyen.



    Die Möglichkeit, daß die Kaida in Syrien erfolgreich sein könnte, wird von den benachbarten Staaten mit Sorge beobachtet. Der inzwischen weitgehend von Schiiten beherrschte und vom Iran abhängige Irak fürchtet, daß dann die irakischen Sunniten wieder die militärische Karte spielen könnten, erneut unterstützt durch die Kaida. Saudi-Arabien, die Türkei und auch die USA wünschen den Fall des Assad-Regimes; aber ohne den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, indem an seine Stelle ein Chaos tritt, in welchem die Kaida eine wesentliche Rolle spielen könnte.

    Die größte Gefahr für die Region ist, daß der Konflikt in Syrien konfessionelle Gegensätze in den teils von Sunniten, teils von Schiiten bewohnten Ländern neu entfachen könnte - im Irak also, aber auch im Libanon und in Saudi-Arabien mit seiner schiitischen Minderheit.

    Es herrscht also eine prekäre Lage, in der mit einem naiven Bestreben des Westens, "die Dikatur zu stürzen", wenig zu erreichen sein dürfte (siehe "Assad gewähren zu lassen, ist keine Option", so "Zeit-Online". Nur, wie soll man es anstellen, ihn nicht gewähren zu lassen?; ZR vom 3. 8. 2011). Das Ziel des Westens muß es sein, daß das Assad-Regime zu Fall kommt, ohne daß an seine Stelle ein Bürgerkrieg von unbestimmter Dauer tritt, von dem vor allem die Kaida profitieren könnte. Dieses Ziel zu formulieren ist freilich einfacher, als Mittel und Weg zu finden, es auch zu erreichen.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.