23. Dezember 2011

Zitat des Tages: "Daß es 60 Jahre gut ging, sagt über unsere Zukunft nichts". Die Sorgen eines Ostdeutschen. Meine Sorgen sind ganz andere

Gut möglich, dass Deutschland stabil, demokratisch, offen, prosperierend und rational bleibt. Und gut, dass daran geglaubt wird – auch in der Krise. Nur ist die optimistische Unbeirrbarkeit, die Jürgen Klinsmann zur WM 2006 zur populärsten deutschen Sekundärtugend machte, nicht besonders beruhigend. Einstweilen wäre schon viel gewonnen, würde regelmäßig jemand Wichtiges einwerfen, dass wir für unsere schöne Demokratie weiterhin ernsthaft kämpfen müssen. Dass es 60 Jahre lang gut ging, sagt über unsere Zukunft nichts.
Letzter Absatz eines Artikels mit dem Titel "Der gefährliche Optimismus der Westdeutschen", der gestern in "Zeit-Online" erschien. Der Autor wird im Vorspann als "unser ostdeutscher Redakteur Christian Bangel" vorgestellt.

Kommentar: Allerdings war Christian Bangel beim Fall der Mauer zarte zehn Jahre alt.

Das ist das eine, was ich an diesem Artikel interessant finde. Jemand, der die DDR nur als Kind erlebt hat, entwickelt eine dezidiert "ostdeutsche" Identität; sie ist ihm augenscheinlich so wichtig, daß er seine ganze Analyse von ihr her aufbaut:
Für einen Ostdeutschen klingt die Geschichte der Bundesrepublik noch immer wie ein Märchen. Das Land der Nazis von 1945 zivilisiert und repariert sich zur allseits respektierten viertgrößten Industrienation der Welt. Östlich seiner Grenzen scheitert das Gegen-experiment einer kleinbürgerlichen, ideologischen Diktatur. Und dann gelingt es gar noch, den kommunistischen Überrest aufzunehmen, ohne dabei pleite zu gehen.
So beginnt der Artikel. Wenn einer einen Artikel so anheben läßt, dann ahnt man: Der Autor hält die Idylle, die er da aufspannt, für gefährdet. Er hält sie in diesem Fall als Ostdeutscher für gefährdet. Aber die grundlos optimistischen Westdeutschen sehen das nicht, wollen es nicht sehen; so nimmt er es wahr:
Auch mein Geburtsland wirkte vollkommen stabil, bis es plötzlich und gottseidank starb. Die Ostdeutschen haben erlebt, dass ein ganzes Gesellschaftsgefüge mit all seinen Hierarchien und ordnenden Bindungen über Nacht verschwinden kann.

Die meisten meiner westdeutschen Kollegen und Politiker winken hier ab. Sie halten es für ausgeschlossen, dass in Deutschland vordemokratische Zustände ausbrechen könnten. (...)

"So what?" – so beschrieb der Soziologe Heinz Bude bei ZEIT ONLINE die Reaktion vieler Westdeutscher auf diesen Prozess der Entzivilisierung.
Ich finde das höchst bemerkenswert, wie ein Mann Anfang dreißig, noch dazu im vereinigten Berlin lebend, in dieser Weise für sich eine ostdeutsche Identität konstruiert und aus ihr heraus den Westdeutschen nein, nicht die Leviten liest, sondern eher Kassandrarufe entgegenschallen läßt.

Das zweite, was mich bei der Lektüre dieses erstaunlichen Artikels gewundert hat, ist der Inhalt der Sorgen, die sich der Ostdeutsche Christian Bangel macht.

Es hat mich gewundert, weil auch ich mir Sorgen um die Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens mache - seit dem Umgang mit Thilo Sarrazin; seit der kollektiven Besoffenheit des "Ausstiegs"; jetzt angesichts der Respektlosigkeit, mit der Christian Wulff mit moralinsaurer Häme überschüttet und dabei die Würde seines Amts als eine quantité negligeable betrachtet wird.

Aber nicht das oder Ähnliches macht Christian Bangel Sorgen. Er sieht augenscheinlich nicht die Gefahr einer Erosion der Meinungsvielfalt, wenn bereits ein SPD-Mitglied, das auf Gefahren für unser Land aufmerksam macht, als Unperson behandelt wird. Bangel scheint auch nicht zu sehen, daß ein Gemeinwesen zerfallen muß, das immer weniger eine gemeinsame Identität besitzt. Der Umgang mit dem Präsidenten, der diese gemeinsame Identität repräsentiert, ist ja nur ein Symptom.

Bangel bereitet ganz Anderes Sorgen:
Das europäische Projekt schwebt in Lebensgefahr. Die sozialen Spannungen sind gewachsen, der Glauben vieler Bürger ist erschüttert, dass es gerecht zugeht. Eine rechtspopulistische, vielleicht islamophobe Partei auf Bundesebene erscheint denkbar. Manche Zonen des Landes sind für den Staat nicht mehr erreichbar. Rechtsextremer Terrorismus ist entstanden. (...) Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wächst, einen Klassenkampf gibt es inzwischen auch von oben.
Da wird ein Deutschland beschrieben, das ich nicht kenne.

Sind denn wirklich die "sozialen Spannungen gewachsen"? Kaum irgendwo in Europa gibt es so wenige Streiks und Demonstrationen mit sozialen Forderungen wie in Deutschland. Überall in der Welt sieht man Deutschland nicht als ein Land gewachsener sozialer Spannungen, sondern als eine Oase sozialen Friedens selbst in diesen Krisenjahren.

Eine "rechtspopulistische, vielleicht islamophobe Partei"? Solche Parteien gibt es inzwischen fast überall in Europa; ihre Präsidentschaftskandidatin in Frankreich liegt in der letzten Umfrage bei 20 Prozent, nur noch vier Prozentpunkte hinter Nicolas Sarkozy. In Deutschland gibt es eine solche Partei eben gerade nicht. Die Neonazis der NPD spielen nur regional eine kleine Rolle; alle Versuche, Parteien nach dem Vorbild des FN von Marine Le Pen auch in Deutschland zu etablieren, sind kläglich gescheitert.

"Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit"? Kaum irgendwo auf der Welt wird so respektvoll mit Minderheiten - gerade auch mit Einwanderern - umgegangen wie in Deutschland. "Klassenkampf von oben"? Wo ist er denn, dieser Klassenkampf, in einem Land, in dem es keine Klasse "oben" gibt, die denen "unten" ihren sozialen Besitzstand streitig machen würde? In einem Land, in dem selbst die rechte Volkspartei CDU/CSU so sozialdemokratisch ist wie in manchen Ländern nicht einmal das jeweilige Mitglied der Sozialistischen Internationale?



Es ist schon seltsam, wie unterschiedlich man unser Land wahrnehmen kann. Bangel sieht aus meiner Sicht Gespenster. Er wird wahrscheinlich, wäre er Leser von ZR, meine Sorgen um die Zukunft unseres Landes ähnlich beurteilen.

Wir sind uns einig darin, daß wir Deutschen uns auf dünnem Eis bewegen; auch darin, daß viele das nicht wissen, wie der Reiter über den Bodensee. Aber wo das Eis dünn ist; warum es in den letzten Jahren so dünn geworden ist - dies kann man offenbar sehr, sehr unterschiedlich sehen.
Zettel



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