28. Dezember 2011

Marginalie: Noch einmal die "Affäre" Wulff: Die Chance einer Selbstanzeige. Die Karriere des Sigmar Gabriel

Die Sau ist durchs Dorf getrieben. Wie immer bei solchen Medien-Hypes - bei wirklichen oder, wie hier, bei Schein-affären - gibt es noch ein Nachgeplänkel; aber alles in allem sieht es so aus, als sei Wulff gerettet.

Aber es sieht nur so aus. Wulff hat sich durch das lächerliche Schauspiel seiner Weihnachtsansprache gequält - vor ihm quengelnde Kinder, zur Rechten ein Kopftuchmädchen, zur Linken "Menschen aller Hautfarben"; kitschiger geht's nimmer. Er nimmt, natürlich, seine Pflichten wahr. Aber er ist ja nicht mehr der, welcher er bis zu dieser "Affäre" war.

Ein Präsident, mit dem die Medien so umgesprungen sind, als sei sein Name Lübke (siehe Ist Christian Wulff ein zweiter Heinrich Lübke?; ZR vom 19. 12. 2011), hat seine Autorität, hat sein persönliches Ansehen verloren. Aber dieses Amt mit geringen - nur bei politischen Krisen etwas größeren - Befugnissen lebt nun einmal vom persönlichen Ansehen, von der insbesondere moralischen Autorität seines Inhabers. Sind sie futsch, dann ist der Inhaber zur Führung des Amts nicht mehr geeignet.

Wulff wird, wenn nicht etwas geschieht, wie ein Zombie durch die Jahre bis zum Juni des Jahres 2015 wandeln, dem letzten Monat seiner Amtszeit. Für ihn selbst eine fortdauernde Demütigung; für unser Land die Erosion seines Ansehens.



Ja, könnte denn etwas geschehen? Gegenüber der "Hannoverschen Allgemeinen" hat sich der Verfassungsjurist Jörg-Detlef Kühne geäußert:
Der Verfassungsrechtler Kühne verweist Wulff auf Artikel 40 der Landesverfassung. Dieser sieht in Absatz 3 die Möglichkeit für jedes Regierungsmitglied vor, den öffentlichen Vorwurf eines Verfassungs- oder Gesetzesverstoßes vor dem Staatsgerichtshof in Bückeburg überprüfen zu lassen. Dies gelte, sagt Kühne, auch für frühere Regierungsmitglieder wie Wulff: "Der Staatsgerichtshof wäre eine Instanz, die alle gegen Wulff geäußerten Vorwürfe von Rechtsverstößen klären könnte." (...) Kühne meint ..., die Selbstanzeige vor dem höchsten Gericht des Landes könne für Wulff eine Art "Selbstreinigungsverfahren" sein.
In der Tat. Ein solcher Schritt könnte für Wulff ein Befreiungsschlag sein; der Weg, sein Ansehen und seine Autorität zurückzugewinnen.

Erstens würde schon die Selbstanzeige als solche ihn aus dieser nachgerade Erbarmen heischenden Demutsrolle befreien, in die er durch die Kampagne, aber auch seine eigene hilflose Reaktion geraten ist. Zweitens wäre er rehabilitiert, wenn - wie zu erwarten - der Staatsgerichtshof ihm attestieren würde, keinen Rechtsverstoß begangen zu haben. Seine Würde, sein Ansehen wären dann wiederhergestellt. Er würde als Sieger vom Platz gehen.



In dem Artikel der "Hannoverschen Allgemeinen" wird noch etwas anderes erwähnt: etwas, das auf den ersten Blick verwunderlich erscheint: In einem Interview mit der "Welt" hat sich ausgerechnet der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel entschieden für ein Verbleiben Wulffs im Amt ausgesprochen.

Nanu? Hatte nicht gerade die SPD sich heftig an der Kampagne gegen Wulff beteiligt; bis hin zu der "Frage nach persönlichen Konsequenzen"? Und nun Gabriel:
Es wäre verheerend und nahe an einer echten Staatskrise, wenn innerhalb von zwei Jahren zum zweiten Mal ein Bundespräsident zurückträte.
Es wäre - und hier dürfte die Erklärung liegen - verheerend vor allem für die Karriere des Sigmar Gabriel. Denn im Fall der Wahl eines neuen Bundespräsidenten könnte die Union zusammen mit der FDP keineswegs auf eine sichere Mehrheit rechnen (siehe Was eigentlich ist Bundespräsident Wulff vorzuwerfen? Und wie wären die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung, falls er zurücktritt?; ZR vom 17. 12. 2011). Es ist wahrscheinlich, daß dann vielmehr ein Kandidat ins Rennen geschickt werden würde, auf den sich Union und SPD verständigt haben.

Der Vorbote also für eine Große Koalition, die angesichts des desolaten Zustands der FDP ohnehin immer wahrscheinlicher wird. Ihr Vizekanzler hieße nicht Gabriel, sondern Steinmeier oder Steinbrück - eine Weichenstellung für die Kanzler-kandidatur der SPD im Wahljahr 2013. Gabriel ist also dringend daran interessiert, daß Wulff im Amt, daß die schwarzgelbe Regierung am Ruder bleibt.
Zettel



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