9. November 2011

Marginalie: Sarkozy und Obama über Netanyahu. Hintergründe der Panne, Hintergründe der Bemerkung Sarkozys

Ganz so, wie es auf der WebSite der "Tagesschau" dargestellt wird, war es nicht. Dort berichtet unter der Überschrift "Sarkozy fällt erneut mit öffentlicher Schelte auf - Von Lügnern, Deppen und mangelnder Erziehung" die ARD-Hörfunk-Korrespondentin Evi Seibert über den französischen Staatspräsidenten Sarkozy:
Wenn der in Fahrt kommt, vergisst er schon mal, dass Mikrofone in der Nähe sind. Jüngstes Beispiel: Bei einem Plausch mit US-Präsident Barack Obama nannte er den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu einen "Lügner, den er nicht mehr sehen" kann. Dummerweise waren die Mikrofone für die anschließende Pressekonferenz schon eingeschaltet. Die Journalisten im Saal bekamen die Bemerkung prompt auf die Kopfhörer gespielt.
Sie hatten sie in Wahrheit gerade nicht auf die Kopfhörer gespielt bekommen, diese Bemerkungen von Sarkozy und Obama ("Je ne peux plus le voir, c'est un menteur" - "Tu en as marre de lui, mais moi, je dois traiter avec lui tous les jours!"; "Ich kann ihn nicht mehr sehen, er ist ein Lügner" - "Du hast ihn satt, aber ich muß mich jeden Tag mit ihm befassen").

Vielmehr rührte die Panne just daher, daß die Journalisten noch keine Kopfhörer ausgehändigt bekommen hatten. Und eine "öffentliche Schelte" war es darum eben gerade nicht gewesen.

Über die Hintergründe berichtete gestern Abend René Backmann in der Internet-Ausgabe des Nouvel Observateur. Über die Hintergründe erstens der Panne und zweitens der Bemerkung von Sarkozy. Details habe ich auch der medienkritischen WebSite @rrêt sur images entnommen.



Wie kam es zur Publikation dieser Äußerungen?

Am Rande des G-20-Treffens in Cannes in der vergangenen Woche gaben Sarkozy und Obama am Donnerstag eine gemeinsame Pressekonferenz. Wie es in solchen Fällen üblich ist, unterhielten die beiden sich zuvor privat, in einem separaten Raum.

Nun war die Technik aber so geschaltet, daß auch die Mikrofone in diesem Raum über Funk mit den Empfängerboxen verbunden waren, die man den Journalisten ausgehändigt hatte, damit sie die Simultan-Übersetzungen der Pressekonferenz hören konnten. Was tun? Die Verantwortlichen verfielen darauf, den Journalisten die zugehörigen Kopfhörer erst einmal vorzuenthalten - und gaben auch den Grund bekannt: Damit niemand das private Gespräch zwischen den beiden Staatsmännern mithören konnte!

Das war nun allerdings dümmer, als die Polizei erlaubt. Denn natürlich hatten einige der Journalisten eigene passende Kopfhörer - etwa von ihrem Notebook oder Handy - dabei, die sie flugs in die Boxen einstöpselten. So konnten sie die Bemerkungen hören, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Als die Verantwortlichen des französischen Präsidialamts das bemerkten, gelang es ihnen nach etwa drei Minuten, die Übertragung zu blockieren. Aber da war es schon zu spät.

Das war, wie gesagt, am Donnerstag vergangener Woche. Warum stand es nicht am Freitag in den Zeitungen? Weil das halbe Dutzend Journalisten, die mitgehört hatten, sich absprachen, von dieser Information keinen Gebrauch zu machen.

Man hatte durch das heimliche Mithören gegen die Regeln des Umgangs zwischen Politikern und Journalisten verstoßen. Das unerlaubt Abgehörte zu veröffentlichen, hätte außerdem die verantwortlichen Mitarbeiter des Präsidialamts in Schwierigkeiten gebracht; Leute, zu denen die Journalisten auch weiter ein gutes Verhältnis haben wollten. Lediglich Arnaud Leparmentier erlaubte sich in Le Monde die Andeutung, Sarkozy und Obama hätten sich hinter verschlossenen Türen über ihre "schwierigen Beziehungen zu Netanyahu gegrämt".

Nun gibt es aber Daniel Schneidermann, einen eigenwilligen Journalisten, der sich der Medienkritik verschrieben hat. Bis 2007 hatte er im französischen kulturellen TV-Programm La Cinquième eine Sendung mit dem Titel Arrêt sur images, in der er sich kritisch mit Fernsehberichten befaßte. Nach der Einstellung dieser Sendung machte er zusammen mit einigen Mitstreitern im Internet weiter; unter dem entsprechend verfremdeten Titel @rrêt sur images (@si). (Es handelt sich um ein Wortspiel. Arrêt ist sowohl das Einfrieren des TV-Bilds (image) als auch ein Urteil).

Schneidermanns Team fühlte sich nicht an die Diskretion der Kollegen gebunden. Der @si-Redakteur Dan Israel hatte von der Sache erfahren und brachte vorgestern einen Bericht. So kam die Panne gestern in die Agenturen.



Warum nannte Sarkozy Netanyu einen Lügner? René Backmann beschreibt die Sicht des französischen Präsidialamts; offenbar, nachdem er dort mit Mitarbeitern gesprochen hatte.

Danach verstehe sich Sarkozy seit seinem Amtsantritt als ein Freund Israels. Daraus leite er die Berechtigung ab, im Nahost-Konflikt vermittelnd aufzutreten. So habe er anläßlich der UNO-Bewerbung von Mahmud Abbas versucht, diesen von der Bewerbung abzubringen; und zugleich habe er einen neuen Dialog - "ohne Vorbedingungen" - einleiten wollen. Darauf sei Netanyahu aber nicht eingegangen, sondern hätte den Bau neuer Wohnungen in Ost-Jerusalem genehmigt.

Vor diesem Hintergrund, meint Backmann, sei die Äußerung Sarkozys wohl zu verstehen; wobei unklar sei, ob sie sich auf eine spezifische Zusage Netanyahus beziehe, die dieser aus Sarkozys Sicht nicht eingehalten habe.



In einem Bericht über den Vorfall bringt "Zeit-Online" frühere Beispiele für solche Pannen, bei denen versehentlich Äußerungen mitgehört werden konnten, die nicht für Journalisten bestimmt gewesen waren.

Staatsmänner müssen sich, wenn sie öffentlich auftreten, ständig unter Kontrolle haben und jedes Wort auf die Goldwaage legen. Es scheint, daß viele sozusagen zum Ausgleich dann, wenn sie sich unbeobachtet glauben, zu einer deftigen Sprache neigen.

Überbewerten sollte man das nicht. Zumal nicht bei Sarkozy, der - in diesem Punkt hat die Korrespondentin Evi Seibert recht - ohnehin zu sprachlichen Deftigkeiten neigt. Aus israelischer Sicht ist Sarkozy allemal seinem sozialistischen Gegenkandidaten bei den Wahlen im kommenden Frühjahr, François Hollande, vorzuziehen, der weit weniger israelfreundlich ist und beispielsweise die Anerkennung eines Staats Palästina fordert (siehe Welche Außenpolitik würde ein Präsident François Hollande machen?; ZR vom 17. 10. 2011).
Zettel



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