25. Oktober 2011

Marginalie: Mit wem werden die islamistischen Wahlsieger in Tunesien zusammenarbeiten? Wer sind die Verlierer?

Die ersten definitiven Wahlergebnisse aus Tunesien liegen jetzt vor. Es handelt sich um die Stimmen der Auslands-Tunesier. Sie haben in sechs Wahlbezirken abgestimmt: Nordfrankreich, Südfrankreich, Italien, Deutschland, Amerika und Rest Europas, Arabische Welt und Sonstige. Zu vergeben waren 18 der 217 Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung.

Auf die islamistische Ennahda entfielen 9 Sitze. ("Ennahda" scheint sich als Transkription durchzusetzen; in meinem Vorbericht hatte ich die Transkription "Al-Nahda" verwendet). Auch der einzige von den Tunesiern in Deutschland zu vergebende Sitz ging an die Islamisten.

Die vor der Wahl als stark eingeschätzte bürgerlich-liberale PDP ging überraschenderweise leer aus. Es zeichnet sich auch in Tunesien selbst ab, daß sie der große Wahlverlierer sein wird; wie auch die Kommunisten, die auf 10 Prozent gehofft hatten.

Besser als erwartet hat die sozialdemokratische Ettakatol abgeschnitten (3 Sitze aus den Stimmen der Auslands-Tunesier). Und dann gibt es noch zwei Überraschungssieger, die in meinem Vorbericht gar nicht aufgeführt gewesen waren:

Da ist einmal eine Partei, die bis zum Sonntag außerhalb von Tunesien kaum jemand kannte, "Al Aridha Al Chaabia lil Adalaa wal Horria wal Tanmia", zu deutsch: "Volksbewegung für Gerechtigkeit, Freiheit und Entwicklung". Sie steht den Islamisten nahe. Ihr Vorsitzender, Mohamed Hechmi Hamdi, besitzt einen Fernsehsender, in dem er häufig selbst auftritt. Er war früher Mitglied der Ennahda. Einer der 18 jetzt vergebenen Sitze entfiel auf seine Partei.

Neben der Ettakatol hat sich statt der liberalen PDP der "Kongreß für die Republik" ("Congrès pour la république"; CPR) des Medizinprofessors Moncef Marzouki als einzige größere säkulare Kraft etablieren können. Wie die PDP tritt der CPR für eine Demokratie nach westlichem Vorbild ein: Säkular, mit strikter Gewaltenteilung und der Garantie der Menschenrechte. Marzouki hatte in Frankreich studiert und als Arzt gearbeitet und war 1981 nach Tunesien zurückgekehrt, wo er als Dissident für die Menschenrechte kämpfte. Der CPR erhielt 3 der 18 Sitze, die jetzt festliegen.

Ein weiterer Sitz ging an den "Pôle Démocratique Moderniste", den "Demokratisch-Fortschrittlichen Pol", eine linksliberal-sozialdemokratische Partei, in der vor allem Intellektuelle vertreten sind.

Gar nicht zum Zug gekommen sind bei den Auslands-Tunesiern die diversen Wendehals-Parteien (siehe Heute wählt Tunesien. Die wichtigsten Informationen zum Hintergrund und zur wahrscheinlichen kommenden Entwicklung; ZR vom 23. 10. 2011). In Tunesien selbst scheint nach den bisher fragmentarisch bekanntgewordenen Ergebnisse am ehesten "L'Initiative" eine Chance zu haben, arabisch "Al Mubadara".



Die Ergebnisse der Auslands-Tunesier sind sicherlich nicht auf das Gesamtergebnis verallgemeinerbar. Aber sie stimmen doch recht gut mit den Trends überein, die sich in den gestern bereits durchgesickerten Daten aus dem Land selbst andeuten (siehe Großer Sieg der Islamisten?; ZR vom 24. 10. 2011): Der unzweifelhafte Sieger sind die Islamisten. Von den säkularen Parteien haben sich die eher linken besser gehalten als die bürgerlich-liberalen.

Vermutlich heute Nachmittag wird man Genaueres wissen. Im Augenblick am wahrscheinlichsten ist ein Wahlausgang, den ich am Sonntag als denjenigen bezeichnet habe, der am ehesten nicht zu Unruhen führen wird: Die Ennahda fährt ein starkes Ergebnis ein, das sie zufriedenstellt, erreicht aber nicht die absolute Mehrheit. Das wäre ein Ergebnis, das auch die jetzt regierenden säkularen Kräfte akzeptieren könnten.

Die Ennahda hat wiederholt angekündigt, daß sie sich Partner suchen möchte; unabhängig davon, ob sie die absolute Mehrheit erreicht. In Frage kommen dafür, wie die New York Times meint, vor allem die sozialdemokratische Ettakatol und die Menschenrechtler vom CPR. Es wäre ein Novum, daß in einem islamischen Land die Islamisten mit säkularen Kräften zusammenarbeiten.
Zettel



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