21. Juni 2011

Zitat des Tages: Die Aktivitäten der Aktivisten. Über die fragwürdige Karriere eines Begriffs. Nebst einem Nachtrag zu seiner Herkunft

Nach der traditionellen "Montagsdemonstration" hatten Teilnehmer die Zäune zum geplanten Grundwasser-management für den Bau des Tiefbahnhofs niedergerissen. Einige Aktivisten besetzten die Wassertanks, andere zündeten Knallbomben in der Nähe der Polizeikette. Nach Angaben der Polizei erlitten acht Beamte ein Knalltrauma. Die Polizei sprach von einer schweren Aggression, feindseliger Stimmung und großer Emotionalität des Protestes.

Aus einer dpa-Meldung über die gestrigen Ausschreitungen in Stuttgart, zitiert nach sueddeutsche.de.


Kommentar: Fällt Ihnen an dieser Meldung etwas auf? Mir ist die Bezeichnung für die Täter aufgefallen: "Aktivisten". Ein seltsamer Begriff. Ich wundere mich darüber, wie unbefangen und wie unreflektiert er verwendet wird.

Hätte man vor, sagen wir, vierzig Jahren in einer Umfrage nach der Bedeutung des Worts "Aktivist" gefragt, dann hätten die meisten vermutlich "weiß nicht" geantwortet oder wild geraten: Ein Hektiker? Ein aktiver Sportler? Oder vielleicht ein Aktmaler oder ein Aktienhändler?

Eine Minderheit hätte eine Antwort gegeben, die sich aus Wissen speist. In der Bundesrepublik. Hätte man Menschen in der DDR gefragt, dann hätte freilich fast jeder diese Antwort gewußt. Heute kann man sie beispielsweise im Lexikon "Damals im Osten - Mitteldeutschland 1945 bis heute" des MDR nachlesen:
Als der Zwickauer Bergmann Adolf Hennecke im Oktober 1948 unter Tage alle Normen brach, war die Aktivistenbewegung geboren. Hennecke war während der historischen Schicht von allen Nebentätigkeiten befreit worden, anders als seine Kumpel. Egal, das propagandistische Ziel war erreicht. Hennecke sollte nach Willen der SED ein Zeichen setzen, damit andere ihm nacheifern konnten. (...)

Der Kampf um eine hohe Arbeitsproduktivität wurde auf propagandistischem Gebiet geführt. In den Lehrbüchern tauchte harte körperliche Arbeit nicht als unangenehme Pflicht, sondern als Grundbedürfnis des Menschen auf; der Kampf um die Planerfüllung füllte ganze Seiten in den Zeitungen. Einen Anreiz zu höheren Leistungen sollten auch die am 27. Juli 1950 vom Ministerrat beschlossenen Ehrentitel "Held der Arbeit", "Verdienter Aktivist" und "Brigaden der ausgezeichneten Qualitätsarbeit" bieten.
Freilich wurde der Begriff in der DDR nicht nur in diesem engen Sinn für Helden der Arbeit vom Zuschnitt des Adolf Henecke oder der unermüdlichen Weberin Frida Hockauf ("Dem Volk mehr, bessere und billigere Textilien!") verwendet. Das geht beispielsweise aus einem Gespräch hervor, das im August 1990 - also noch vor der Wiedervereinigung - Matthias Matussek und Ulrich Schwarz für den "Spiegel" mit Hermann Kant führten; von 1978 bis zum Ende der DDR Chef des Schriftstellerverbandes der DDR, auch Mitglied im ZK der SED und ein, sagen wir, Gesprächspartner des MfS. Darin sagte Kant:
Für mich wäre das ganze Gespräch vertan, wenn auch nur ein Schatten des Eindrucks bliebe, ich wolle mich hier herausstehlen aus einer Rolle, die ich über 40 Jahre innegehabt habe. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß ich ein Aktivist der DDR war, daß ich für die Herstellung eines lebbaren Sozialismus in diesem Lande gewesen bin.
Der "Spiegel" gab dem Gespräch die Überschrift "Ich war ein Aktivist der DDR".



Heute denkt kaum noch jemand an die DDR, wenn er das Wort "Aktivist" hört oder liest. Hier sind einige beliebig herausgegriffenen Auszüge aus Pressemeldungen der letzten Tage, in denen das Wort verwendet wird:
  • "In Kopenhagen stehen seit Montagmorgen elf Umwelt-Aktivisten vor Gericht, darunter zwei Schweizer. (...) Die Staatsanwaltschaft wirft den am Coup beteiligten Aktivisten neben Hausfriedensbruch auch die Fälschung von Autonummern für eine "Staatskarosse" und Amtsanmassung vor. Als strafverschärfend gilt, dass die Protestaktion in den Räumlichkeiten der dänischen Königin Margrethe durchgeführt wurde. Den Angeklagten droht eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren. Das Urteil wird am 19. August erwartet".("Bieler Tagblatt" vom 20. 6. 2011)

  • "Der Greenpeace-Chef Kumi Naidoo und ein weiterer Aktivist der Umweltschutzorganisation sind am Freitag bei einer Protestaktion auf einer Ölplattform vor der Küste Grönlands festgenommen worden. Sie protestierten gegen Probebohrungen nach Öl in der Arktis. Nach Polizeiangaben wird ihnen unbefugter Zutritt und Verletzung der um die Bohrinsel verhängten Sicherheitszone vorgeworfen". ("Focus-Online" vom 17. 6. 2011)

  • "Es war sicher keine dem Herrn wohlgefällige Show, die zwei Aktivisten der Ökoporno-Gruppe 'Fuck for Forest' in einer Kirche in Oslo ablieferten. Wie Gott sie schuf stürmten eine Frau und ein Mann während der Messe in die Kirche, begaben sich wild knutschend in den Altarraum und begannen damit, Oral-Sex zu simulieren". (BZ vom 18. 6. 2011)

  • "Eine Plattform für die Naturschützer der Region sollte er werden, der erste Umweltmarkt in der Kulturscheune im Tauchaer Rittergutsschloss. Doch nur gut zwei Dutzend Leute folgten am letzten Wochenende der Einladung des Naturschutzbundes (Nabu). (...) Ein bisschen enttäuscht ist Mitorganisator Peter Jogschies wegen der geringen Resonanz. (...) Aktivisten, die Umweltprojekte wie den traditionellen Sensenkurs leiten, Bäume pflanzen oder mit Kommunalpolitikern diskutieren, seien derzeit rar. ("Leipziger Volkszeitung" vom 20. 6. 2011)

  • "Die spanische Polizei hat nach eigenen Angaben drei mutmaßliche Anonymous-Aktivisten verhaftet. Die Verhafteten seien 'führende Köpfe' der Bewegung in Spanien, heißt es in einer Mitteilung der Policia Nacional vom Freitag. Die Ermittler nahmen demnach drei Männer in den Städten Barcelona, Valencia und Almeria in Gewahrsam. Ein 31-jähriger Verhafteter soll an seinem Wohnsitz in Gijon einen Server betrieben haben, über den unter anderem Angriffe auf Webseiten von Regierungseinrichtungen und Unternehmen koordiniert worden seien". ("Heise-Online" vom 10. 6. 2011)

  • "Im Foyer des RVR [Regionalverband Ruhr; Zettel] stehen die Aktivisten des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und das Kampagnennetzwerk Campact Spalier. Auf großen Transparenten und kleinen Plakaten stehen Sätze wie 'Kein Recht verbiegen für Eon' und 'Klimakiller Datteln stoppen'. Die Politiker passieren strammen Schrittes die Aktivisten auf dem Weg in den Sitzungssaal". ("Halterner Zeitung" vom 20.6. 2011)
  • Nicht war, das ist ein seltsamer Begriff, "Aktivist"?

    Was haben die jungen Naturschützer, die in Sachsen den "traditionellen Sensenkurs leiten" und Bäume pflanzen sollen, mit Politkriminellen gemeinsam, die in Kopenhagen vor Gericht stehen? Was haben diese mit "Tierschützern" gemeinsam, die einen Gottesdienst entweihen, und was mit den Teilnehmern an einer friedlichen Demonstranten gegen ein geplantes Kohlekraftwerk? Und was verbindet diese friedlichen Demonstranten mit Straftätern, die gezielt Polizisten verletzen?

    Sie haben kaum etwas gemeinsam, diese Leute, die allesamt "Aktivisten" genannt werden. Die einen setzen sich friedlich für eine Sache ein; andere bedienen sich krimineller Methoden zur Durchsetzung politischer Ziele.

    Beides als "Aktivisten" zu bezeichnen ist so, als würde man einen gemeinsamen Begriff einführen, der sowohl "Geschäftsmann" als auch "Betrüger" bedeuten kann; oder sowohl "Käufer" als auch "Warenhausdieb".

    Es ist eine üble Sache, das politische Engagement gesetzestreuer Bürger und die Handlungen von Straftätern dadurch zu vermengen, daß man die einen wie die anderen als "Aktivisten" tituliert. Daß das bedenkenlos getan wird, scheint darauf hinzuweisen, wie sehr im heutigen Deutschland - und nicht nur hier - die Politik an ihren extremen Rändern bereits kriminalisiert ist und wie wenig das offenbar ins allgemeine Bewußtsein gedrungen ist.

    Oder ist es schon ins allgemeine Bewußtsein gedrungen; aber es ist ihm egal, diesem allgemeinen Bewußtsein? Früher wußte fast jeder in der DDR und kaum jemand in der Bundesrepublik, was das Wort "Aktivist" bedeutet. Heute wissen das die meisten Deutschen. Aber es scheint sie nicht zu beunruhigen.




    Nachtrag um 19.25 Uhr: Über einen Hinweis in Zettels kleinem Zimmer bin ich auf eine interessante Diskussion im Blog Pretty Cool (for an Iconodule) gestoßen, die sich mit dem englischen Begriff activist befaßt.

    Der Blogautor "Maladjusted" erklärt einigermaßen langatmig, warum er diesen Begriff nicht schätzt (weil er den nicht-Aktiven ein schlechtes Gewissen suggeriere; nun ja). Lesenswert aber aber sind die Funde, welche der Kommentator "davidalbertrathbone" beisteuert, der sich u.a. im Oxford Etymology Dictionary kundig machte.

    Danach war das Wort activism im 19. Jahrhundert im Englischen noch unbekannt. Erstmals nachgewiesen ist es für 1908 - und zwar als eine Bezeichnung für die Philosophie von Rudolf Eucken, der in diesem Jahr als erster Deutscher den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. Im Jahr 1922 erschien des weiteren ein Buch eines gewissen H.L. Eno mit dem schlichten Titel "Activism"; eine monistische Naturphilosophie, in der Elektronen und "Psychonen" miteinander identifiziert werden.

    Parallel dazu entstand aber auch eine politische Bedeutung von activism; möglicherweise - meint der Kommentator "davidalbertrathbone" - als Übernahme des Begriffs von Eucken. In britischen Zeitungen taucht activism ab 1909 als Bezeichnung für eine politische Haltung auf, die energisches Handeln fordert.

    Der Kommentator zitiert übrigens auch noch eine Quelle aus dem Jahr 1922, wonach das Wort ein Neologismus aus dem Französischen sei. Und interessanterweise gibt es das Wort активист auch im Russischen; dort bezeichnet es ein aktives Mitglied, auch einen Funktionär.
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