Nachdem vor knapp einem Monat die Kühlung in mehreren Reaktorblöcken als Folge der Überschwemmung durch den auf das schwere Erdbeben aufgetretenen Tsunami ausgefallen ist und als Notmaßnahme mehrmals radioaktiver Dampf abgelassen werden mußte, sinken die Radioaktivitätswerte im Umfeld des Kraftwerks beständig. Auch unabhängige Messungen von lokalen Behörden und Universitäten in anderen Städten Japans zeigen das gleiche Bild: wenn jemals überhaupt erhöhte Strahlenwerte gemessen werden konnten, dann nur in diesen ersten Tagen und selbst da nur in Bereichen von maximal 3 Mikrosievert/Stunde und das auch nur in einer Messung in einer Stadt. Wenn diese Dosis ein Jahr lang angehalten hätte, dann wäre sie mit 25mSv/y noch immer nur halb so hoch wie die natürliche Hintergrundstrahlung an einigen Orten in Europa, Indien oder dem mittleren Osten.
Warum wurde dann ausgerechnet jetzt der Schweregrad der Zerstörungen im Kraftwerk auf die höchste Stufe der von 0-7 reichenden International Nuclear and Radiological Event Scale (INES) gesetzt und damit auf die gleiche Stufe wie Tschernobyl? Überraschend war es für Experten durchaus:
“I am a little surprised by the uprating to level 7,” said Laurence Williams, professor of nuclear safety at the University of Central Lancashire in the UK. “There has been no significant change in the state of the three affected reactors or the four spent fuel ponds, and there has been no sudden increase in radioactivity released into the atmosphere.”
Die Begründung ist zumindest von außen betrachtet denkbar einfach: weil es zuerst einmal im Handbuch der IAEA, Sec. 2.2.2., so vorgeschrieben wird:
“An event resulting in an environmental release corresponding to a quantity of radioactivity radiologically equivalent to a release to the atmosphere of more than several tens of thousands of terabecquerels of 131-I.”
Wer jetzt die Qualität der Berichterstattung nur mehr mit einer Portion Zynismus ertragen kann, dem empfehle ich den Artikel "Mummy, mummy, there's a nuclear monster!" auf TheRegister.com.
Warum wurde dann ausgerechnet jetzt der Schweregrad der Zerstörungen im Kraftwerk auf die höchste Stufe der von 0-7 reichenden International Nuclear and Radiological Event Scale (INES) gesetzt und damit auf die gleiche Stufe wie Tschernobyl? Überraschend war es für Experten durchaus:
“I am a little surprised by the uprating to level 7,” said Laurence Williams, professor of nuclear safety at the University of Central Lancashire in the UK. “There has been no significant change in the state of the three affected reactors or the four spent fuel ponds, and there has been no sudden increase in radioactivity released into the atmosphere.”
Die Begründung ist zumindest von außen betrachtet denkbar einfach: weil es zuerst einmal im Handbuch der IAEA, Sec. 2.2.2., so vorgeschrieben wird:
“An event resulting in an environmental release corresponding to a quantity of radioactivity radiologically equivalent to a release to the atmosphere of more than several tens of thousands of terabecquerels of 131-I.”
Eine rückblickende Einschätzung der japanischen Behörden ergibt aktuell eine kumulative Freisetzung von 1,3*10^17 Becquerel (130 PBq == 130.000 TBq) von Jod-131. Damit ist die Bedingung "several tens of thousand of terabecquerels of 131-I" erfüllt und es ist zwingend auf Stufe 7 zu stellen. Auch wenn in Tschernobyl 10 mal mehr emittiert wurde, auch wenn gefährlichere Stoffe freigesetzt wurden, die Skala reicht einfach nicht weiter. Und da es genügt, wenn auch nur eine der Bedingungen erfüllt ist, ist es auch dann Stufe 7, obwohl nicht ein einziger Mensch zu Schaden gekommen ist, wie auch Beispiel 7 im Manual S. 29 zeigt:
Example 7. Major release of activity following criticality accident and fire — Level 7
[...]
Activity released: The total release of radioactive material was about 14 million TBq, which included 1.8 million TBq of 131I, 85 000 TBq of 137Cs and other caesium radioisotopes, 10 000 TBq of 90Sr and a number of other significant isotopes.
[...]
Doses to individuals: Not necessary to consider, as event is already rated at Level 7.
Erstaunlicherweise würde ein Unfall mit 4 Toten durch radioaktive Verstrahlung, aber nur einer Freisetzung von 20 TBq lediglich auf INES 5 gestuft werden, siehe Beispiel 4, S. 25:
A single death from radiation would be rated at Level 4. Because four people died, the rating should be increased by one.
"Wenn jetzt 4 Tote Stufe 5 vorschreiben, wie schlimm muß dann Stufe 7 sein?" ist keine weit hergeholte Frage. Ob man die Skala da nicht überarbeiten sollte, wird man sicher noch diskutieren.
Und daß ausgerechnet jetzt die kumulative Freisetzungsmenge über die kritische Schwelle gestiegen ist, liegt wiederum nicht nur am Zeitablauf, sondern an einer Änderung der Berechnungsmethode:
Und daß ausgerechnet jetzt die kumulative Freisetzungsmenge über die kritische Schwelle gestiegen ist, liegt wiederum nicht nur am Zeitablauf, sondern an einer Änderung der Berechnungsmethode:
The new provisional rating considers the accidents that occurred at Units 1, 2 and 3 as a single event on INES. Previously, separate INES Level 5 ratings had been applied for Units 1, 2 and 3. The provisional INES Level 3 rating assigned for Unit 4 still applies.
Man faßt also jetzt die Reaktorblöcke 1-3 zu einem Ereignis zusammen und kommt damit über die kritische Emissionsgrenze. Ob es sinnvoll war, das ausgerechnet jetzt zu machen, wissen wohl nur die beteiligten Beamten. Beobachter spekulieren, daß man seitens der Regierung zeigen wollte, daß man das Unglück auch wirklich ernst nimmt. Aber die Wahl des Zeitpunkts hätte schlechter kaum sein können, wie selbst Reaktionen aus Nachbarländern zeigen:
As Melanie Brock, head of the Australian & New Zealand Chamber of Commerce told FT Alphaville, “we were certainly perplexed by the timing of the announcement.. it triggered a flood of calls from our member companies and now we’ve seen exporters cancel trips anew to Japan, Qantas has reverted to diverting direct flights to Tokyo via Hong Kong to Tokyo and risk management concerns are right back at the top of corporate agenda in Japan.”
As Melanie Brock, head of the Australian & New Zealand Chamber of Commerce told FT Alphaville, “we were certainly perplexed by the timing of the announcement.. it triggered a flood of calls from our member companies and now we’ve seen exporters cancel trips anew to Japan, Qantas has reverted to diverting direct flights to Tokyo via Hong Kong to Tokyo and risk management concerns are right back at the top of corporate agenda in Japan.”
Man sollte von Unternehmern und vor allem von großen Fluggesellschaften bessere Recherche erwarten können. Grundsätzlich hat Japan die genannten Gründe ja kommuniziert, man müßte halt auch mal 1-2 Sätze nach der Überschrift weiterlesen.
Ob die Menge von 130 PBq "viel" oder "wenig" ist, mag ein Vergleich mit den Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague (Frankreich) und Sellafield (England) einordnen: La Hague emittierte in den Jahren 1998-2008 zwischen 155 und 320 PBq pro Jahr, Sellafield zwischen 15 und 120 PBq/y. Ein INES-7-Rating (oder auch nur irgendeine INES-Stufe) haben die Emissionen aber nicht, weil zwar die Grenze von "tens of thousands of terabecquerels" überschritten wird, aber das nicht in einem Event, sondern im Normalbetrieb. Die INES-Skala nimmt ja auch an, daß die Emissionen innerhalb von Stunden und Tagen erfolgen und nicht über 365 Tage verteilt.
Ob die Menge von 130 PBq "viel" oder "wenig" ist, mag ein Vergleich mit den Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague (Frankreich) und Sellafield (England) einordnen: La Hague emittierte in den Jahren 1998-2008 zwischen 155 und 320 PBq pro Jahr, Sellafield zwischen 15 und 120 PBq/y. Ein INES-7-Rating (oder auch nur irgendeine INES-Stufe) haben die Emissionen aber nicht, weil zwar die Grenze von "tens of thousands of terabecquerels" überschritten wird, aber das nicht in einem Event, sondern im Normalbetrieb. Die INES-Skala nimmt ja auch an, daß die Emissionen innerhalb von Stunden und Tagen erfolgen und nicht über 365 Tage verteilt.
Wer jetzt die Qualität der Berichterstattung nur mehr mit einer Portion Zynismus ertragen kann, dem empfehle ich den Artikel "Mummy, mummy, there's a nuclear monster!" auf TheRegister.com.
Johann Grabner
Update 21:00 12. 4.:
Ich wurde auf zwei Unschärfen in der Berechnung bzw. Beurteilung der Freisetzung radioaktiver Stoffe hingewiesen, die es zu korrigieren gilt.
Bei der Berechnung der freigesetzten Radioaktivität wird Jod-131 als Basis genommen. Andere Isotope werden damit gewichtet (Siehe das INES-Manual der IAEA, Tab. 2, Seite 16). Hier ist ua für Cäsium-147 der Faktor 40 angegeben. Nach Angaben der IAEA wurde die Emission von Cs-137 mit 6.1 PBq veranschlagt. Multipliziert mit 40 ergibt das ein Äquivalent von 241 PBq I-131, was dann in Summe 371 PBq I-131 Äquivalent ergibt. Die Größenordnung im Vergleich mit Tschernobyl - ungefähr 10% - bleibt aber erhalten.
Die Tabelle auf S. 16 gibt dann zusätzlich das I-131 Äquivalent für Edelgase wie Krypton-85 an: Negligible (effectively 0). Damit ist auch der Eintrag von Abwässern der Wiederaufarbeitungsanlagen anders zu bewerten, nämlich mit 0. Schwierigkeiten mit dieser Unterscheidung aber aber einige.
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