Sind die Verbrechen des "Dritten Reiches" in Deutschland "aufgearbeitet"? - Einige Anmerkungen, angeregt von einer Diskussion in "Zettels Kleinem Zimmer" (hier begonnen). - Die Antwort ist ein Ja und ein Nein zugleich.
Aufgearbeitet sind die Verbrechen des "Dritten Reiches" in der Geschichtskultur und im öffentlichen Gedenken:
Wohl jeder weiß abstrakt um die Verbrechen des Nationalsozialismus, kann pflichtgemäß etwas von der "deutschen Verantwortung" für "Auschwitz" und "sechs Millionen" ermordete Juden sagen; wir haben ein monströses Mahnmal in Berlin; die Schüler lernen (nach eigener Einschätzung) bis zum Überdruss von den nationalsozialistischen Verbrechen; Guido Knopp kommt mit der 127. Folge über "Hitlers Generäle", "Hitlers Frauen" oder "Hitlers Hunde" ins Wohnzimmer; der SPIEGEL erinnert in schöner Regelmäßigkeit an den deutschen "Überfall" auf Polen oder verheißt die neuesten Erkenntnisse über das Dritte Reich; in den deutschen Städten werden Stolpersteine verlegt; am 9. November halten Lokalpolitiker an Mahnmalen Reden voller Betroffenheit - und ganz zu schweigen von der Instrumentalisierung der deutschen Geschichte, des "Nie wieder Auschwitz", und dem mit vielen öffentlichen Geldern unterstützten "Kampf gegen Rechts". Aber ist das wirklich eine Aufarbeitung?
Frage ich Schüler, was sie über ihre Groß- und Urgroßeltern während der Zeit des "Dritten Reiches" wissen, dann höre ich von Vertriebenen aus Danzig oder Schlesien, von Großvätern an der Ostfront oder in französischer Gefangenschaft, von Großmüttern mit ihren positiven Erinnerungen an den BDM, von Kinderlandverschickung. Aber Beteiligung am Nationalsozialismus? Nein, natürlich nicht. Bei einem Besuch mit Schülern in Yad VaShem war die begleitende Kollegin, geboren Ende des Krieges, empört darüber, dass während der Führung durch die Ausstellung darauf hingewiesen wurde, dass die meisten Deutschen - unterschiedlich genau - von der Judenverfolgung gewusst haben müssen.
Typisch scheint mir die Rede von Hans-Dietrich Genscher in der Diskussion über den Einigungsvertrag im September 1990 zu sein. Am 30. Januar 1933, so Genscher, "brach" "die Nacht des Faschismus über Deutschland herein" (so ähnlich wie der Tsunami über Japan), "wir" verloren Freiheit und Frieden, viele "Deutsche verloren Leben, Gesundheit, Hab und Gut und die Heimat". Immerhin "wir" "des unendlichen Leids, das im deutschen Namen über die Völker gebracht worden ist" (von wem bloß?), gedenken; und "in besonderer Weise gelten unsere Gedanken dabei dem jüdischen Volk." - Einzig der "Faschismus" als Akteur, die Deutschen als Opfer der Zeit bis 1945, und im Zusammenhang mit dem "im deutschen Namen" verursachten Leid ermöglicht es das Passiv, die Nennung der handelnden Subjekte zu vermeiden.
Genau so habe ich den Umgang mit dem Nationalsozialismus auch in meiner Familie erlebt. Wenn die Großmütter als Vertreter der Generation, die das "Dritte Reich" und den Krieg als Erwachsene erlebt haben, überhaupt davon erzählt haben, dann genau so diffus und mit diesen unkonkreten Floskeln. "Die Hitler-Zeit, das war schon eine schlimme Zeit." "Wir waren alle froh, als der Krieg vorbeit war." "Wirklich schlimm, was mit den Juden passiert ist. Aber davon konnten wir hier ja nichts wissen, hier im Rheinland." Natürlich war niemand in der Familie in der NSDAP, allenfalls entferntere Familienmitglieder, und das natürlich nicht freiwillig. Einzig die eine Großmutter gestand zu, Parteimitglied gewesen zu sein, aber dazu sei sie gegen Kriegsende genötigt worden - und nicht, ohne sofort hinzuzufügen, ihre Brüder hätten 1932/33 gesagt: "Wenn der Hitler an die Macht kommt, dann gibt es wieder Krieg." Spätestens an dieser Stelle aber trieb der einen Großmutter die Erinnerung an ihren vermissten Mann die Tränen in die Augen, während der anderen Großmutter die Erinnerung an das Treiben der "Russen" und "Polacken", an die Lagerhaft und an die Vertreibung den Mund schloss. Eher noch war etwas zu erfahren von ausgebombten Familien in der Verwandtschaft, vom Hamstern nach dem Krieg, vom Leben der Flüchtlinge in Nissenhütten oder davon, dass im Sommer '45 befreite Zwangsarbeiter das Städtchen ausgeplündert hätten.
Das wäre noch immer auch meine Sicht auf die Zeit des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkriegs, wäre auch ich überzeugt, dass meine Familie viel erlitten, aber wenig bis nichts gewusst hätte - wenn ich nicht irgendwann Feldpostbriefe und Tagebücher in die Finger bekommen hätte und auch in den einschlägigen Archiven hätte recherchieren lassen.
Und da stellte sich dann manches doch anders dar: Die Großmutter ist nicht gegen Kriegsende und unter Zwang in die Partei eingetreten, sondern ein paar Tage nach Kriegsbeginn 1939; deren Bruder, der einen neuen Krieg prophezeit haben soll, ist - welch Überraschung - schon vor 1933 Parteimitglied geworden. Die andere Großmutter, die versichert hat, in der rheinischen Kleinstadt habe man nicht gewusst, was mit den Juden passiert, erkundigt sich 1941 bei ihrem Bruder im Protektorat, ob dieser ihr nicht einen "Judenteppich" für ihre neue Wohnung besorgen könne, und erhält zur Antwort: "Es besteht nun evtl. die Möglichkeit bei Möbeln aus Nachlässen – also von krepierten Juden." Aber natürlich wusste man nichts. Später wird brieflich von einer "Partisanenjagd" in Russland berichtet, und der Großonkel, Offizier, konstatiert: "Die Männer sind mit Begeisterung dabei." Ein anderer Großonkel äußert ebenfalls brieflich seine Befriedigung darüber, dass die Juden in der Ukraine "reichlich büßen, dafür sorgen SS und unsere Landser."
Die Verbrechen des Dritten Reiches sind aufgearbeitet in der offiziellen Erinnerungskultur, aber nur abstrakt; Täter und Mitwissen sind versteckt im Passiv, bleiben unsichtbar in der Genscherschen "Nacht des Faschismus". Es fehlt eine Aufarbeitung, ein Bewusstsein, dass zu den Verbrechen auch diejenigen gehören, die sie ausgeführt haben, die davon gewusst, die davon profitiert haben. Damit soll nicht eine Kollektivschuld behauptet werden, sollen nicht die Deutschen schlechthin als "Hitlers willige Vollstrecker" à la Goldhagen erscheinen. Aber es fehlt aller Vergangenheitsbewältigung zum Trotz die Auseinandersetzung damit, was ganz konkret unsere Familienanhörigen in der Zeit des Dritten Reiches getan und gewusst haben. Den Erzählungen der Betroffenen selbst und auch den Erzählungen von deren Kindern, so ist meine Erfahrung, ist nicht zu trauen; man muss die Briefe lesen, man muss beim Bundesarchiv und bei der WASt um Auskunft bitten, auch wenn das Ergebnis ernüchternd oder gar schockierend ist. Ich kenne jemanden, der hat so davon erfahren, dass der Großvater an der Vergasung von 20.000 Menschen beteiligt war. In der Familie hat niemand davon gewusst oder will niemand davon gewusst haben.
Nachtrag:
Die "Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (Wehrmachtsauskunftsstelle") (= WASt) hat eine Zentralkartei und z. T. Personalunterlagen der (meisten) Angehörigen der Wehrmacht und anderer bewaffneter deutscher Verbände (Luftwaffe, Marine, Waffen-SS, teilw. andere SS-Verbände). Auskunft über Verstorbene wird erteilt an Nachkommen und Familienangehörige. Die Bearbeitung dauert in der Regel mehrere Monate. Die Auskunft enthält in der Regel Angaben über Dienstantritt, Versetzungen, Beförderungen, die Zugehörigkeit zu einzelnen Einheiten, Verwundungen oder Tod, über Gefangenschaft. - Wo die jeweiligen Einheiten eingesetzt waren etc., muss man dann selbst nachrecherchieren. - Auskunft ist zu beantragen über die Homepage, "Suchantrag", "privat".
Die Mitgliederkartei der NSDAP sowie mehrere hunderttausend Personalakten von SA und SS befinden sich im Bundesarchiv, Abteilung R, ehemaliges BDC. Auskunft wird gemäß Bundesarchivgesetz erteilt, wenn der Betroffene mehr als 30 Jahre tot ist, sonst mit Einwilligung des Betroffenen (falls noch lebend) oder der nächsten Erben (wenn weniger als 30 Jahre verstorben). Eine Anfrage per E-Mail sollte möglichst genaue Angaben zur gesuchten Person enthalten (Namen, Lebensdaten, Wohnorte) und auch beschrieben, welche Informationen man sucht.
Aufgearbeitet sind die Verbrechen des "Dritten Reiches" in der Geschichtskultur und im öffentlichen Gedenken:
Wohl jeder weiß abstrakt um die Verbrechen des Nationalsozialismus, kann pflichtgemäß etwas von der "deutschen Verantwortung" für "Auschwitz" und "sechs Millionen" ermordete Juden sagen; wir haben ein monströses Mahnmal in Berlin; die Schüler lernen (nach eigener Einschätzung) bis zum Überdruss von den nationalsozialistischen Verbrechen; Guido Knopp kommt mit der 127. Folge über "Hitlers Generäle", "Hitlers Frauen" oder "Hitlers Hunde" ins Wohnzimmer; der SPIEGEL erinnert in schöner Regelmäßigkeit an den deutschen "Überfall" auf Polen oder verheißt die neuesten Erkenntnisse über das Dritte Reich; in den deutschen Städten werden Stolpersteine verlegt; am 9. November halten Lokalpolitiker an Mahnmalen Reden voller Betroffenheit - und ganz zu schweigen von der Instrumentalisierung der deutschen Geschichte, des "Nie wieder Auschwitz", und dem mit vielen öffentlichen Geldern unterstützten "Kampf gegen Rechts". Aber ist das wirklich eine Aufarbeitung?
Frage ich Schüler, was sie über ihre Groß- und Urgroßeltern während der Zeit des "Dritten Reiches" wissen, dann höre ich von Vertriebenen aus Danzig oder Schlesien, von Großvätern an der Ostfront oder in französischer Gefangenschaft, von Großmüttern mit ihren positiven Erinnerungen an den BDM, von Kinderlandverschickung. Aber Beteiligung am Nationalsozialismus? Nein, natürlich nicht. Bei einem Besuch mit Schülern in Yad VaShem war die begleitende Kollegin, geboren Ende des Krieges, empört darüber, dass während der Führung durch die Ausstellung darauf hingewiesen wurde, dass die meisten Deutschen - unterschiedlich genau - von der Judenverfolgung gewusst haben müssen.
Typisch scheint mir die Rede von Hans-Dietrich Genscher in der Diskussion über den Einigungsvertrag im September 1990 zu sein. Am 30. Januar 1933, so Genscher, "brach" "die Nacht des Faschismus über Deutschland herein" (so ähnlich wie der Tsunami über Japan), "wir" verloren Freiheit und Frieden, viele "Deutsche verloren Leben, Gesundheit, Hab und Gut und die Heimat". Immerhin "wir" "des unendlichen Leids, das im deutschen Namen über die Völker gebracht worden ist" (von wem bloß?), gedenken; und "in besonderer Weise gelten unsere Gedanken dabei dem jüdischen Volk." - Einzig der "Faschismus" als Akteur, die Deutschen als Opfer der Zeit bis 1945, und im Zusammenhang mit dem "im deutschen Namen" verursachten Leid ermöglicht es das Passiv, die Nennung der handelnden Subjekte zu vermeiden.
Genau so habe ich den Umgang mit dem Nationalsozialismus auch in meiner Familie erlebt. Wenn die Großmütter als Vertreter der Generation, die das "Dritte Reich" und den Krieg als Erwachsene erlebt haben, überhaupt davon erzählt haben, dann genau so diffus und mit diesen unkonkreten Floskeln. "Die Hitler-Zeit, das war schon eine schlimme Zeit." "Wir waren alle froh, als der Krieg vorbeit war." "Wirklich schlimm, was mit den Juden passiert ist. Aber davon konnten wir hier ja nichts wissen, hier im Rheinland." Natürlich war niemand in der Familie in der NSDAP, allenfalls entferntere Familienmitglieder, und das natürlich nicht freiwillig. Einzig die eine Großmutter gestand zu, Parteimitglied gewesen zu sein, aber dazu sei sie gegen Kriegsende genötigt worden - und nicht, ohne sofort hinzuzufügen, ihre Brüder hätten 1932/33 gesagt: "Wenn der Hitler an die Macht kommt, dann gibt es wieder Krieg." Spätestens an dieser Stelle aber trieb der einen Großmutter die Erinnerung an ihren vermissten Mann die Tränen in die Augen, während der anderen Großmutter die Erinnerung an das Treiben der "Russen" und "Polacken", an die Lagerhaft und an die Vertreibung den Mund schloss. Eher noch war etwas zu erfahren von ausgebombten Familien in der Verwandtschaft, vom Hamstern nach dem Krieg, vom Leben der Flüchtlinge in Nissenhütten oder davon, dass im Sommer '45 befreite Zwangsarbeiter das Städtchen ausgeplündert hätten.
Das wäre noch immer auch meine Sicht auf die Zeit des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkriegs, wäre auch ich überzeugt, dass meine Familie viel erlitten, aber wenig bis nichts gewusst hätte - wenn ich nicht irgendwann Feldpostbriefe und Tagebücher in die Finger bekommen hätte und auch in den einschlägigen Archiven hätte recherchieren lassen.
Und da stellte sich dann manches doch anders dar: Die Großmutter ist nicht gegen Kriegsende und unter Zwang in die Partei eingetreten, sondern ein paar Tage nach Kriegsbeginn 1939; deren Bruder, der einen neuen Krieg prophezeit haben soll, ist - welch Überraschung - schon vor 1933 Parteimitglied geworden. Die andere Großmutter, die versichert hat, in der rheinischen Kleinstadt habe man nicht gewusst, was mit den Juden passiert, erkundigt sich 1941 bei ihrem Bruder im Protektorat, ob dieser ihr nicht einen "Judenteppich" für ihre neue Wohnung besorgen könne, und erhält zur Antwort: "Es besteht nun evtl. die Möglichkeit bei Möbeln aus Nachlässen – also von krepierten Juden." Aber natürlich wusste man nichts. Später wird brieflich von einer "Partisanenjagd" in Russland berichtet, und der Großonkel, Offizier, konstatiert: "Die Männer sind mit Begeisterung dabei." Ein anderer Großonkel äußert ebenfalls brieflich seine Befriedigung darüber, dass die Juden in der Ukraine "reichlich büßen, dafür sorgen SS und unsere Landser."
Die Verbrechen des Dritten Reiches sind aufgearbeitet in der offiziellen Erinnerungskultur, aber nur abstrakt; Täter und Mitwissen sind versteckt im Passiv, bleiben unsichtbar in der Genscherschen "Nacht des Faschismus". Es fehlt eine Aufarbeitung, ein Bewusstsein, dass zu den Verbrechen auch diejenigen gehören, die sie ausgeführt haben, die davon gewusst, die davon profitiert haben. Damit soll nicht eine Kollektivschuld behauptet werden, sollen nicht die Deutschen schlechthin als "Hitlers willige Vollstrecker" à la Goldhagen erscheinen. Aber es fehlt aller Vergangenheitsbewältigung zum Trotz die Auseinandersetzung damit, was ganz konkret unsere Familienanhörigen in der Zeit des Dritten Reiches getan und gewusst haben. Den Erzählungen der Betroffenen selbst und auch den Erzählungen von deren Kindern, so ist meine Erfahrung, ist nicht zu trauen; man muss die Briefe lesen, man muss beim Bundesarchiv und bei der WASt um Auskunft bitten, auch wenn das Ergebnis ernüchternd oder gar schockierend ist. Ich kenne jemanden, der hat so davon erfahren, dass der Großvater an der Vergasung von 20.000 Menschen beteiligt war. In der Familie hat niemand davon gewusst oder will niemand davon gewusst haben.
Nachtrag:
Die "Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (Wehrmachtsauskunftsstelle") (= WASt) hat eine Zentralkartei und z. T. Personalunterlagen der (meisten) Angehörigen der Wehrmacht und anderer bewaffneter deutscher Verbände (Luftwaffe, Marine, Waffen-SS, teilw. andere SS-Verbände). Auskunft über Verstorbene wird erteilt an Nachkommen und Familienangehörige. Die Bearbeitung dauert in der Regel mehrere Monate. Die Auskunft enthält in der Regel Angaben über Dienstantritt, Versetzungen, Beförderungen, die Zugehörigkeit zu einzelnen Einheiten, Verwundungen oder Tod, über Gefangenschaft. - Wo die jeweiligen Einheiten eingesetzt waren etc., muss man dann selbst nachrecherchieren. - Auskunft ist zu beantragen über die Homepage, "Suchantrag", "privat".
Die Mitgliederkartei der NSDAP sowie mehrere hunderttausend Personalakten von SA und SS befinden sich im Bundesarchiv, Abteilung R, ehemaliges BDC. Auskunft wird gemäß Bundesarchivgesetz erteilt, wenn der Betroffene mehr als 30 Jahre tot ist, sonst mit Einwilligung des Betroffenen (falls noch lebend) oder der nächsten Erben (wenn weniger als 30 Jahre verstorben). Eine Anfrage per E-Mail sollte möglichst genaue Angaben zur gesuchten Person enthalten (Namen, Lebensdaten, Wohnorte) und auch beschrieben, welche Informationen man sucht.
Gansguoter
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