Die Beweislage ist schwierig. In den Akten finden sich 1400 Seiten Chat-Protokolle - sie sind abscheulich. Die Frau wurde über Jahre seelisch zugrunde gerichtet, sie tat nach und nach, was von ihr sexuell verlangt wurde. Und auch wenn alles freiwillig war, ist es gar keine Frage: Kachelmanns moralische Schuld wiegt schwer.
Aber ein Strafprozess ist nun mal keine Messe, nicht jede Gemeinheit ist strafrechtliche Schuld. Der Richter darf nicht beliebig entscheiden, wem er glaubt, er kann nicht raten wie beim "Tatort" am Sonntagabend. Er braucht objektive Beweismittel.
Ferdinand von Schirach in seiner Kolumne "Einspruch" im aktuellen "Spiegel" (43/2010 vom 25. 10. 2010, S. 153) über den Kachelmann-Prozeß. Der Text mit dem Titel "Wahrheit und Wirklichkeit" ist auch in "Spiegel-Online" zu lesen.
Kommentar: Von Schirach beschreibt noch einmal die Gutachtenlage, wie sie vor fünf Wochen in ZR zu lesen war: Sieht man von dem Gutachter ab, der zugleich der Therapeut der Zeugin ist, dann kommen alle drei Gutachten (das der Psychologieprofessorin Luise Greuel, das des Professors für Rechtspsychologie Günter Köhnken und dasjenige des Psychiatrieprofessors Hans-Ludwig Kröber) im Kern zum selben Ergebnis. Von Schirach formuliert es so:
Die Erwähnung der Chat-Prokotolle ist der Hinweis auf einen Umstand, der im Fall Kachelmann erst allmählich ans Licht gekommen ist: Daß es sich um eine sadomasochistische Beziehung handelte. Kachelmann war nicht nur ein Don Juan, der mehrere Geliebte zugleich zu seinen Diensten hatte, sondern er hatte sie offenbar - jedenfalls hatte er "Simone" - eben im Wortsinn zu "seinen Diensten".
Als sexuelle Praktiken sollte man das unbeanstandet lassen, wenn alle Beteiligten es so wollen. Wie Menschen ihr Sexualleben gestalten, geht niemanden etwas an als die Beteiligten selbst - sofern sie sich aus freiem Willen und als erwachsene Menschen dafür entscheiden.
Die Chat-Protokolle, wie von Schirach sie zitiert, begründen aber Nachdenklichkeit darüber, wie es denn mit dem "freien Willen" in einer sexuellen Beziehung bestellt ist, die den Charakter einer Hörigkeit annehmen kann (ob es bei Kachelmann und "Simone" so weit gekommen ist, mag dabei offen bleiben).
Wenn Richter Einblick in solche Hintergründe eines Falls gewinnen, dann kann in ihnen möglicherweise der Wunsch entstehen, den Angeklagten auch verurteilen zu können. Von Schirach macht deutlich - macht nachgerade mahnend deutlich -, daß es aber auch in einem solchen Fall allein darum gehen kann, was dem Angeklagten im juristischen Sinn als Schuld nachweisbar ist; und nicht um das, was ihm im moralischen Sinn als Schuld vorwerfbar sein mag.
Der Artikel schließt mit diesen Sätzen:
Laien begreifen das oft schwer, im einen wie im anderen Bereich.
Links zu früheren Beiträgen in ZR zum Fall Kachelmann finden Sie am Schluß dieses Artikels.
Aber ein Strafprozess ist nun mal keine Messe, nicht jede Gemeinheit ist strafrechtliche Schuld. Der Richter darf nicht beliebig entscheiden, wem er glaubt, er kann nicht raten wie beim "Tatort" am Sonntagabend. Er braucht objektive Beweismittel.
Ferdinand von Schirach in seiner Kolumne "Einspruch" im aktuellen "Spiegel" (43/2010 vom 25. 10. 2010, S. 153) über den Kachelmann-Prozeß. Der Text mit dem Titel "Wahrheit und Wirklichkeit" ist auch in "Spiegel-Online" zu lesen.
Kommentar: Von Schirach beschreibt noch einmal die Gutachtenlage, wie sie vor fünf Wochen in ZR zu lesen war: Sieht man von dem Gutachter ab, der zugleich der Therapeut der Zeugin ist, dann kommen alle drei Gutachten (das der Psychologieprofessorin Luise Greuel, das des Professors für Rechtspsychologie Günter Köhnken und dasjenige des Psychiatrieprofessors Hans-Ludwig Kröber) im Kern zum selben Ergebnis. Von Schirach formuliert es so:
... dass es viele Zweifel gibt - zu viele, als dass man den Angeklagten nur wegen der Aussage der Zeugin wieder ins Gefängnis stecken könnte. (...) Und außerdem wies das Oberlandesgericht Karlsruhe in seinem Beschluss zur Aufhebung des Haftbefehls gegen Kachelmann schon darauf hin: Die Zeugin habe im Rand- und im Kernbereich die Unwahrheit gesagt, den Beschuldigten könne man deshalb nicht weiter in Haft halten.Insofern also nichts Neues. Ich komme trotzdem noch einmal auf dieses Thema zurück, weil von Schirach an ihm einen neuen Aspekt beleuchtet: Die Diskrepanz zwischen dem, was unser moralisches Urteil sein mag, und demjenigen, was in einem Strafprozeß bewiesen werden kann.
Die Erwähnung der Chat-Prokotolle ist der Hinweis auf einen Umstand, der im Fall Kachelmann erst allmählich ans Licht gekommen ist: Daß es sich um eine sadomasochistische Beziehung handelte. Kachelmann war nicht nur ein Don Juan, der mehrere Geliebte zugleich zu seinen Diensten hatte, sondern er hatte sie offenbar - jedenfalls hatte er "Simone" - eben im Wortsinn zu "seinen Diensten".
Als sexuelle Praktiken sollte man das unbeanstandet lassen, wenn alle Beteiligten es so wollen. Wie Menschen ihr Sexualleben gestalten, geht niemanden etwas an als die Beteiligten selbst - sofern sie sich aus freiem Willen und als erwachsene Menschen dafür entscheiden.
Die Chat-Protokolle, wie von Schirach sie zitiert, begründen aber Nachdenklichkeit darüber, wie es denn mit dem "freien Willen" in einer sexuellen Beziehung bestellt ist, die den Charakter einer Hörigkeit annehmen kann (ob es bei Kachelmann und "Simone" so weit gekommen ist, mag dabei offen bleiben).
Wenn Richter Einblick in solche Hintergründe eines Falls gewinnen, dann kann in ihnen möglicherweise der Wunsch entstehen, den Angeklagten auch verurteilen zu können. Von Schirach macht deutlich - macht nachgerade mahnend deutlich -, daß es aber auch in einem solchen Fall allein darum gehen kann, was dem Angeklagten im juristischen Sinn als Schuld nachweisbar ist; und nicht um das, was ihm im moralischen Sinn als Schuld vorwerfbar sein mag.
Der Artikel schließt mit diesen Sätzen:
Strafprozesse sind kompliziert, ihre Wahrheit ist formell und selten einfach, sie wird immer nur schwer zu ertragen sein. Am Ende können wir uns nur auf die Strenge der Strafprozessordnung verlassen, sie ist immer noch das Beste, was wir haben, um die Schuld eines Menschen zu beurteilen."Ihre Wahrheit ist formell"; das ist die entscheidende Aussage. Darin gleicht die Wahrheit des Strafprozesses übrigens der wissenschaftlichen Wahrheit. Auch in der Wissenschaft geht es nicht darum, was jemand glaubt oder für plausibel hält, sondern allein um das, was er mit Fakten belegen kann.
Laien begreifen das oft schwer, im einen wie im anderen Bereich.
Links zu früheren Beiträgen in ZR zum Fall Kachelmann finden Sie am Schluß dieses Artikels.
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