7. Oktober 2010

Notizen zu Sarrazin (3): "Das goldene Zeitalter geht zu Ende". Demographie, Wohlstand, Generationserfahrungen

“Deutschland ist, wirtschaftlich gesehen, in der Spätphase eines goldenen Zeitalters, das um 1950 begann und langsam zu Ende geht. Das Realeinkommen des einzelnen Erwerbstätigen steigt schon seit 20 Jahren nicht mehr, spätestens in zehn Jahren wird es sinken, und das wird infolge der demografischen Verschiebungen ein nachhaltiger Trend sein“ (Sarrazin 2010, S. 11).

Dies ist die zentrale Aussage von Sarrazins Buch. Alles, was er zu den einzelnen Problemfeldern - Wirtschaft, Demographie, Ausbildung, Einwanderung - schreibt, belegt diese These und konkretisiert sie.

Die öffentliche Diskussion hat diese zentrale These kaum zur Kenntnis genommen. Man konzentrierte sich auf Aussagen Sarrazins zum Thema Einwanderung, so als sei dies ein Buch über Einwanderung.

Diese ist aber nur das Thema eines einzigen von neun Kapiteln; des siebten. Allerdings verschränken sich in Sarrazins Analyse die Themen. Auch in früheren Kapiteln kommt das Problem der Einwanderung schon vor; so wie auch im siebten Kapitel die Themen Bildung, Wirtschaft und Sozialsystem.

Bei der Lektüre gewinnt man den Eindruck, daß für den Autor dieses Thema der Einwanderung immer wichtiger wird, je weiter das Buch voranschreitet. Sarrazin beginnt als Ökonom und fragt am Ende nach der Zukunft der deutschen Kultur.

Aber er beginnt eben mit Überlegungen zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft; also zur Entwicklung unseres Wohlstands. Das sollte doch eigentlich die Öffentlichkeit brennend interessieren. Warum tut es das nicht? Ich vermute zwei Gründe.



Zum einen steht Sarrazins pessimistische Sicht, wie sie in dem Zitat zum Ausdruck kommt, im Gegensatz zu unserer Erfahrung; zur aktuellen und vor allem auch zur langfristigen.

Gerade erst haben wir Deutschen wieder unter Beweis gestellt, daß wir die globale Wirtschaftskrise besser bewältigen konnten als die meisten anderen. Die Wirtschaft wächst; die Experten sagen einen stabilen und langfristigen Aufschwung vorher. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Zeichen stehen auf Optimismus; da ist man nicht empfänglich für Sarrazins düstere Befürchtungen.

Sarrazin räumt diese Diskrepanz auch ein, wenn er anmerkt (S. 11):
Solche Prognosen scheinen nicht zu den aktuellen Exporterfolgen der deutschen Volkswirtschaft zu passen, nicht zur Exzellenzinitiative an den deutschen Universitäten und nicht zu den vielen guten Nachrichten, über die wir uns täglich freuen dürfen.
Und solche Prognosen passen auch nicht zur Lebenserfahrung von mittlerweile fast drei Generationen von Deutschen.

Gewiß war das von Sarrazin apostrophierte "goldene Zeitalter" am goldensten im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik. Seither gab es die Krisen und Umbrüche, die ich kürzlich beschrieben habe (Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende; ZR vom 14. 9. 2010).

Aber die Erfahrung der meisten (West-) Deutschen, die ab ungefähr 1940 geboren wurden - also aller, die jetzt unter siebzig sind - ist dennoch: Es geht uns alles in allem gut; es gibt keinen Grund zur tiefgreifenden Sorge. Auch nach dem einen oder anderen Rückschlag ging es immer wieder weiter aufwärts.

Diese Zeiten, in denen wir gelebt haben, prägen unser Urteil; sie begründen die weit verbreitete Erwartung, daß es mit unserem Wohlstand so weitergehen wird wie bisher.

Die vorausgehenden Generationen hatten die umgekehrte biographische Prägung.

Wer ab ungefähr 1890 geboren wurde, der hatte sein ganzes Leben oder einen Teil davon in Unsicherheit und Ungewißheit verbracht. Wer im Jahr 1890 auf die Welt kam, der kämpfte als junger Mann im Ersten Weltkrieg, erlebte dann die Inflation und die Weltwirtschaftskrise, wurde von den Nazis erneut zum Militär eingezogen, versuchte die Hungerzeit zu überleben und war 60 Jahre, als 1950 das Wirtschaftswunder begann.

Bis zur Schwelle des Rentenalters hatte er ein Leben in wirtschaftlicher Unsicherheit ("Prekarität" nennt man das heute) hinter sich gebracht, unter sich immer wieder tiefgreifend ändernden Lebensverhältnissen und abrupt wechselnden politischen Gegebenheiten; dazu fast insgesamt ein Jahrzehnt in den beiden Kriegen unter ständiger Gefahr für Leib und Leben.

Einem Angehörigen dieser Generationen wäre es überhaupt nicht bemerkenswert vorgekommen, wenn er von den Sorgen Sarrazins gelesen hätte. Er hätte das in seine Lebenserfahrung einordnen können.

Uns Heutigen aber kommt es unglaubhaft vor. Manche sehen Sarrazin bestenfalls als einen düsteren Pessimisten; wenn nicht gar einen Panikmacher. Viele andere würden sich ihnen vermutlich anschließen, wenn sie seine ökonomischen Analysen überhaupt zur Kenntnis genommen hätten.

Aber nicht wahr: Es könnte ja sein, daß auf sechzig gute wieder sechzig schlechte Jahre folgen; so, wie auf die sechzig schlechten Jahre von 1890 bis 1950 sechzig gute Jahre für Deutschland folgten? Wir können uns das lediglich nicht gut vorstellen, weil es nicht unserer Lebenserfahrung entspricht.



Ein zweiter Grund, warum den ökonomischen Teilen des Buchs so wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird, dürfte darin liegen, daß Sarrazin der demographischen Entwicklung eine zentrale Bedeutung für unsere wirtschaftliche Zukunft einräumt.

Die Demographie ist eine in keiner Weise bedenkliche oder anstößige Wissenschaft. Aber sie wird in Deutschland von vielen dafür gehalten; natürlich deshalb, weil die Nazis auf eine brutale Art "Bevölkerungspolitik" betrieben haben.

Seltsame Logik. Wenn eine wissenschaftliche Disziplin mißbraucht wurde, dann ist es doch keine vernünftige Reaktion, diese Wissenschaft zu tabuisieren. Man sollte vielmehr aus dem Mißbrauch die Lehre ziehen, daß die betreffende Wissenschaft gegen künftigen Mißbrauch geschützt werden muß.

Die Nazis haben widerliche und zutiefst inhumane Forschung im Bereich der Medizin betrieben; aber das rechtfertigt es gewiß nicht, die medizinische Forschung als solche mit den Nazis in Verbindung zu bringen. Wohl aber hat es in Deutschland zum Nachdenken über ethische Anforderungen an die Medizin geführt.

So sollte es auch in der Demographie sein (zu ihren Grundlagen siehe die Artikel zur Demographie in der Serie in ZR "Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft").

Die Demographie darf nicht wieder zu einer "Bevölkerungspolitik" im Sinn von "Volk ohne Raum" mißbraucht werden; selbstverständlich nicht. Aber deshalb ihre Ergebnisse zu ignorieren ist irrational und kurzsichtig; denn die Demographie ist ja keine reine Grundlagenforschung. Sie hat massive Implikationen beispielsweise für die ökonomische Entwicklung.



Die Bedeutung der Demographie für unseren künftigen Wohlstand erläutert Sarrazin im zweiten Kapitel "Ein Blick in die Zukunft. Realitäten und Wunschvorstellungen". Ein nicht immer leicht zu lesendes Kapitel; ich habe deshalb im zweiten Teil dieser Serie empfohlen, es bei dem Lesen des Buchs zunächst einmal zurückzustellen. Jetzt will ich nur den zentralen Gedanken erläutern, was die künftige Entwicklung unseres Wohlstands angeht (S. 37ff).

Den Wohlstand einer Nation mißt man üblicherweise als BIP (Brutto-Inlandprodukt) pro Kopf der Bevölkerung; die Gesamtheit der Wirtschaftsleistung, geteilt durch die Zahl der Einwohner.

Die Entwicklung des BIP hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die teils konjunktureller Natur sind, wie die Änderungen von Angebot und Nachfrage. Langfristig aber sind für den Wohlstand - folgt man Sarrazin, der in diesem Punkt volkswirtschaftliches Grundwissen zusammenfaßt - zwei Faktoren von zentraler Bedeutung:
  • die Arbeitsproduktivität, also der Output ("Ausbringungsmenge") pro Arbeitsstunde

  • die Arbeitsmenge pro Kopf der Bevölkerung; also die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden, geteilt durch die Einwohnerzahl
  • Wir können uns das am Beispiel eines Bienenvolks klarmachen: Sein "Wohlstand" ist die pro "Kopf Biene" gesammelte Honigmenge. Sie hängt erstens davon ab, wie viel jede der Bienen pro Stunde sammelt (Arbeitsproduktivität); zweitens davon, wie viele der Bienen überhaupt wie viele Stunden sammeln und wie viele sich als Drohnen durchfüttern lassen (Arbeitsmenge pro Kopf der Bienenbevölkerung).

    Damit erweist sich die Demographie als kritisch für die künftige wirtschaftliche Entwicklung.

    Denn die Arbeitsmenge pro Kopf der Bevölkerung hängt - das Beispiel des Bienenvolks verdeutlicht es vielleicht - ihrerseits von zwei Faktoren ab: Erstens davon, wie viele Arbeitsstunden jeder Arbeitende leistet. Zweitens davon, wie hoch der Anteil der Arbeitenden an der Bevölkerung ist.

    Die Zahl der jährlichen Arbeitsstunden pro Arbeitendem hängt von der Wochenarbeitszeit, der Zahl der Urlaubstage usw. ab. Das kann man notfalls anpassen. Kritischer ist der Anteil der Arbeitenden an der Gesamtbevölkerung; oder - komplementär ausgedrückt - die Zahl der Transferempfänger; vor allem der Rentner und Pensionäre.

    Arbeitslosigkeit senkt den Wohlstand, weil die Arbeitenden für die Arbeitslosen mitarbeiten müssen. Aber sie müssen auch für die Rentner und Pensionäre mitarbeiten. Und je ungünstiger die demographische Entwicklung ist, unso höher wird der Anteil dieser Ruheständler an der Gesamtbevölkerung.

    Diesen aber kann man bei einer gegebenen Geburtenziffer nur in engen Grenzen beeinflussen, nämlich durch eine Änderung des gesetzlichen Rentenalters. Davon abgesehen wächst der Anteil der Ruheständler automatisch, wenn die Reproduktionsrate unter den Wert 1 sinkt (die Geburtenziffer also unter etwa 2,1), wenn also jede Generation weniger kopfstark ist als ihre Elterngeneration, die sie irgendwann miternähren muß.



    Der Rest ist Rechnen. Vereinfacht gesagt: Unser Wohlstand wächst, wenn der positive Effekt zunehmender Arbeitsproduktivität größer ist als der negative Effekt einer geringen Geburtenziffer. Er stagniert, wenn sich die beiden Effekte die Waage halten. Er sinkt, wenn die zunehmende "Altenlast" nicht durch den Anstieg der Produktivität kompensiert werden kann.

    Sarrazin rechnet das durch (natürlich sind, wie bei jedem Szenario, Annahmen zu machen, auf die ich jetzt nicht eingehe) und kommt zu einem Ergebnis, das er trocken kommentiert: "Freude macht dieses Ergebnis wahrlich nicht" (S. 49).

    Katastrophal ist dieses Ergebnis aber auch nicht: Das BIP wird nur noch bis zum Jahr 2025 wachsen; es sinkt dann leicht und stagniert bis zum Jahr 2050. Da die Bevölkerung schrumpft, steigt das BIP pro Kopf der Bevölkerung nach diesem Szenario sogar leicht weiter an; um ungefähr 0,7 Prozent pro Jahr. Bleibt das Versorgungsniveau der Rentner wie jetzt, dann wird 2050 ein knappes Viertel (24,3 Prozent) des gesamten BIP für die Versorgung der Ruheständler aufgebracht werden müssen. Die Abgabenlast wird dann von 35,7 Prozent im Jahr 2005 auf 47,6 im Jahr 2050 steigen.

    Deutschland wird dann ein Land mit stagnierender Wirtschaftsleistung bei schrumpfender Bevölkerung sein.

    Gewiß eine Befindlichkeit, nach der sich die Angehörigen der Kriegsgenerationen gesehnt hätten. Für diejenigen Generationen, die sich an ein von Erfolg zu Erfolg eilendes Deutschland gewöhnt haben, an die "Wirtschaftslokomotive Europas" und den "Exportweltmeister", wird dieser Abstieg Deutschlands aber doch eine radikal neue Erfahrung sein.

    Ein Abstieg, wo doch Sarrazins Szenario nur Stagnation erwarten läßt? Ja, natürlich. Denn die anderen stagnieren ja nicht. In einer Welt, in der immer mehr Länder mit großer wirtschaftlicher Dynamik in die Erste Liga drängen, ist dort für jemanden, der stagniert, kein Platz mehr.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Alle Zitate von Thilo Sarrazin aus: Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser unser Land aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlagsanstalt, 4. Auflage 2010. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.