1. Oktober 2010

Marginalie: Was darf in Deutschland ein Wissenschaftler schreiben, ohne stigmatisiert zu werden? Der Fall Konrad Löw. Ein Bezug zum Fall Sarrazin?

Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang dieser Woche eine wichtige Entscheidung bekanntgemacht, was das Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 GG) angeht, und zwar bezogen auf wissenschaftliche Meinungsäußerungen.

Es scheint nicht, daß diese Entscheidung bisher in unseren Medien den ihr gebührenden Widerhall gefunden hat.

Sie hat ihn erstens nicht gefunden, weil über sie in Leitmedien wie "Spiegel-Online" und "tagesschau.de" überhaupt nicht berichtet wurde. Man hat sie schlicht ignoriert.

Mir war sie auch zunächst entgangen, bis in Zettels kleinem Zimmer FAB. vorgestern darauf aufmerksam machte.

Diese Entscheidung hat zweitens insofern nicht den ihr gebührenden Widerhall gefunden, als die kargen Berichte und Kommentare - beispielsweise in "Welt-Online", in "sueddeutsche.de" und in "Zeit-Online" - nicht zur Kenntnis nehmen, worum es in der Entscheidung überhaupt geht.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts wird in diesen Medien nicht in Bezug auf die Grundrechte und die (Grenzen der) Rechte des Staats gewürdigt, sondern es wird - sehr deutlich von Sven Felix Kellerhoff in "Welt-Online" und von (guess who?) Heribert Prantl in "sueddeutsche.de" - von einer politischen Position aus Urteilsschelte geübt.

Der Kontext, in den die Verfassungsrichter den Fall stellen - nämlich das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, wie es einem wissenschaftlichen Autor zukommt, und das der Staat zu achten hat - wird ignoriert.

Kellerhoff und Prantl suchen sich darin zu übertreffen, das Urteil aus politischen Gründen herunterzumachen ("hanebüchen", so Prantl; eine "völlig formalistische Entscheidung" laut Kellerhoff). Hellmuth Vensky benutzt in "Zeit-Online" die Sprache kommunistischer Agitation ("revisionistische Zirkel", "stramm antikommunistischen Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte").



Worum geht es nun aber wirklich? Die 1.Kammer des 1. Senats des BVerfG beschreibt es in ihrer Entscheidung vom 17. August, die mit der Pressemitteilung Nr. 87/2010 vom 28. September 2010 bekanntgemacht wurde. Aus dem Text der Entscheidung:
Der Beschwerdeführer [Prof. Dr. Konrad Löw; Zettel] ist emeritierter Professor der Politikwissenschaft. Im Jahr 2004 erschien ein von ihm verfasster Aufsatz mit dem Titel "Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte" in der Zeitschrift "Deutschland Archiv", die ein privater Verlag im Auftrag der Bundeszentrale [für politische Bildung; Zettel] herausgibt.

Der Aufsatz befasst sich unter anderem mit der Verbreitung des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung während der Zeit des Nationalsozialismus. Er vertritt unter Berufung auf Zeitzeugen die These, dass die Mehrheit der Deutschen seinerzeit nicht antisemitisch eingestellt gewesen sei, sondern mit den verfolgten Juden sympathisiert habe. In diesem Zusammenhang spricht er unter anderem von einer "deutsch-jüdischen Symbiose unter dem Hakenkreuz".

Die den Aufsatz des Beschwerdeführers enthaltende Ausgabe des Deutschland Archivs wurde am 1. April 2004 an die mehreren tausend Abonnenten der Zeitschrift ausgeliefert. Erst danach erlangte die Leitungsebene der Bundeszentrale Kenntnis von dem Inhalt des Aufsatzes. Sie entschied, dass dieser mit ihrem Selbstverständnis unvereinbar sei, und richtete am folgenden Tag ein Schreiben mit folgendem Wortlaut an die Abonnenten:
Sehr geehrte Abonnentinnen und Abonnenten des "Deutschland Archivs",

die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und der W. Bertelsmann Verlag distanzieren sich aufs Schärfste von dem im soeben erschienenen Heft 2/2004 des "Deutschland Archivs" veröffentlichten Text "Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte" von L...

Der Verfasser vertritt Ansichten zum Antisemitismus im 20. Jahrhundert in Deutschland, die weder mit dem Selbstverständnis der Bundeszentrale für politische Bildung noch mit dem des W. Bertelsmann Verlages vereinbar sind. Die Bundeszentrale setzt sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus, einer seiner Grundlagen, auseinander und sieht durch eine derartige Veröffentlichung ihre Arbeit desavouiert.

Wir bedauern diesen Vorgang außerordentlich. Weder die Bundeszentrale für politische Bildung, in deren Auftrag der W. Bertelsmann Verlag die Zeitschrift herausgibt, noch der Beirat der Zeitschrift hatten von der geplanten Veröffentlichung Kenntnis.

Im nächstmöglichen Heft wird ein Beitrag von Prof. Dr. B…, erscheinen, der Entwicklung und Bedeutung des Antisemitismus in Deutschland untersucht.

Der Rest der Auflage von Heft 2/2004 wird makuliert.

Dieser in der langen Geschichte beider Häuser und des "Deutschland Archivs" einmalige Vorgang wird sich nicht wiederholen. Wir bitten alle Leserinnen und Leser der Zeitschrift sowie diejenigen, welche sich durch den Beitrag von L… verunglimpft fühlen, um Entschuldigung.
Der Vorgang fand einen Widerhall in den Feuilletons mehrerer überregionaler Zeitungen; auf Artikel in der Süddeutschen Zeitung und der Welt reagierte der Beschwerdeführer mit Leserbriefen, die abgedruckt wurden.

(...) Mit seiner Klage beim Verwaltungsgericht Köln begehrte der Beschwerdeführer die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsträger der Bundeszentrale, sich bei ihm zu entschuldigen und den Urteilsinhalt den Empfängern des Schreibens vom 2. April 2004 bekannt zu geben. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit seinem hier angegriffenen Urteil vom 13. Januar 2006 ab.



Soweit das BVerfG. Prof. Löw wandte sich nach der Abweisung seiner Klage (Berufung war nicht zugelassen worden) mit einer Verfassungsklage an das BVerfG, der jetzt stattgegeben wurde.

Die Gründe faßt die Pressemitteilung des BVerfG wie folgt zusammen:
Das beanstandete Schreiben der Bundeszentrale für Politische Bildung wird ihrer Aufgabe, die Bürger mit Informationen zu versorgen und dabei Ausgewogenheit und rechtsstaatliche Distanz zu wahren, nicht gerecht und verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. (...)

Er wird als Autor eines Aufsatzes dargestellt, der nicht mehr diskursiv erörtert, sondern nur noch makuliert werden kann, was vor dem Hintergrund des sensiblen Themas Antisemitismus eine erhebliche Stigmatisierung des Betroffenen mit sich bringen kann. (...)
Das aber verstoße, so das BVerfG, gegen den Auftrag der Bundeszentrale:
Von vorneherein ausgeschlossen sind insoweit jedenfalls öffentliche Äußerungen gegenüber Einzelnen, die allein dem Bestreben dienen, eine behördliche Auffassung, namentlich eine von der Bundeszentrale für richtig gehaltene spezifische Geschichtsinterpretation zur Geltung zu bringen und als einzig legitim oder vertretbar hinzustellen.
Klare Worte: Die Bundeszentrale durfte den Autor Löw dafür, daß er eine bestimmte wissenschaftliche Meinung äußerte, nicht stigmatisieren.

Sie durfte ihn nicht so behandeln, als sei mit ihm eine vernünftige wissenschaftliche Auseinandersetzhung nicht mehr möglich.

Sie durfte nicht in Bezug auf das Verhältnis der Mehrheit der Deutschen zum Antisemitismus im Dritten Reich die von Prof. Löw vertretene Meinung ausgrenzen.

Sie durfte vor allem nicht - und diese bemerkenswerte Formulierung sollte man für künftige Fälle im Gedächtnis behalten - "eine behördliche Auffassung, namentlich eine von der Bundeszentrale für richtig gehaltene spezifische Geschichtsinterpretation zur Geltung .. bringen und als einzig legitim oder vertretbar" hinstellen.



Sie durfte Prof. Löw also nicht so behandeln, wie seit nunmehr fast fünf Wochen der Autor Dr. Thilo Sarrazin behandelt wird; und zwar nicht nur in den Medien (denen man das wird nicht verbieten können), sondern auch von seinem bisherigen Arbeitgeber, der Bundesbank. Gibt es da einen Bezug?

Der furchtbare Journalist Heribert Prantl, der auch ein Jurist ist, sieht ihn:
Wäre Sarrazin noch nicht aus der Bundesbank entlassen, er könnte sich nun auf diese Entscheidung berufen.
In der Tat.



Nachtrag um 10.05 Uhr: Den Text des Aufsatzes von Konrad Löw, um den es geht, finden Sie hier dokumentiert. Mit Dank an FAB. für den Hinweis auf diese Quelle, die mir beim Schreiben des Artikels entgangen war.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an FAB.