23. September 2010

Zettels Meckerecke: "Die angekündigte Sarrazin-Replik entfällt daher". Wie die "Zeit" ihre Leser veräppelt. Nebst einem Nachtrag

Am Sonntag habe ich in diesem Artikel unter anderem auf die Art aufmerksam gemacht, wie der SPD-Vorsitzende Gabriel in einem Artikel in der "Zeit" auf Thilo Sarrazin losging, indem er aus dem Zusammenhang gerissene Zitate böswillig interpretierte.

Gegen Ende meines Artikels stand dies zu lesen:
Nun war von Gabriel nichts anderes zu erwarten; wer noch eine gewisse Achtung vor diesem Mann gehabt hatte, der dürfte sie nach der Lektüre dieses Artikels eingebüßt haben. Das Überraschende, das wirklich Überraschende ist nicht Gabriels Text, sondern der redaktionelle Fußtext: "Eine Entgegnung Thilo Sarrazins auf Sigmar Gabriel erfolgt an gleicher Stelle". (...)

Ich bin jedenfalls gespannt, was kommende Woche in der "Zeit" stehen wird und ob die Redaktion tatsächlich so liberal sein wird, Sarrazins Entgegnung unredigiert und ohne distanzierenden Vor- oder Nachspann zu bringen.
Meine Skepsis hat sich als begründet erwiesen. Heute findet man auf Seite 2 der "Zeit" (Nummer 39/2010 vom 23. 9. 2010) diese Meldung:
Ohne Sarrazin

In unserer vorigen Ausgabe trug SPD-Chef Sigmar Gabriel seine Argumente für einen Parteiausschluss von Thilo Sarrazin vor ("Anleitung zur Menschenzucht", ZEIT Nr. 38/10, Seite 4). Wir hatten Thilo Sarrazin angeboten, eine Woche später an gleicher Stelle und in gleicher Länge zu antworten, er nahm das Angebot an. Danach jedoch hat er sich entschlossen, eine kurze Entgegnung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu veröffentlichen - er habe, so Sarrazins Begründung, auf Gabriels Stellungnahme schnell reagieren müssen. Die angekündigte Sarrazin-Replik in der ZEIT entfällt daher.
Seltsam, nicht wahr? Wieso "entfällt" Sarrazins ausführliche Entgegnung auf den langen Artikel von Gabriel "daher"?

Die "Zeit" veräppelt ihre Leser.

Seit wann kann ein Autor nicht mehr in zwei Zeitschriften oder Zeitungen zu denselben Vorwürfen Stellung nehmen; das eine Mal knapp, dann ausführlich? Wieso zieht die "Zeit" ihre Zusage, eine Replik Sarrazins "an gleicher Stelle und in gleicher Länge" zu bringen, nun auf einmal zurück?

Man darf raten.

Vielleicht hat jemand in der Redaktion inzwischen das Buch von Sarrazin gelesen und weiß, daß dieser Gabriels Anwürfe mühelos Punkt für Punkt hätte entkräften können?

Im Grunde hätte er nur den Kontext mitzuteilen brauchen, aus dem Gabriel die "Zitate" jeweils herausgelöst hatte, um sie zum Bild eines Menschenzüchters zu montieren.

Das freilich konnte Sarrazin nicht in der kurzen Replik in der FAZ. Dazu hätte er den ihm zugesagten Raum in der "Zeit" benötigt. Er hätte dort Passage für Passage zeigen können, wie ihm Gabriel buchstäblich das Wort im Mund herumdrehte.

Das "entfällt" jetzt; jedenfalls für das Lesepublikum, das Gabriels Montage lesen durfte. Die "Zeit" hat ihre Zusage zurückgezogen wie der billige Jakob ein Lockangebot, wenn es jemand wirklich wahrnehmen will.

Vielleicht ist die Redaktion auch zu der Auffassung gelangt, daß es nun doch liberal, allzuliberal gewesen war, jemandem die Spalten der "Zeit" zu öffnen, dem man doch gerade erst bescheinigt hatte, eine "Anleitung zur Menschenzucht" geschrieben zu haben?

Weiche, Satanas, Leibhaftiger, aus den heiligen Hallen der "Zeit"!

Jener "Zeit", in der einst freie Geister wie Gerd Bucerius, Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer schrieben. Heute in weiten Teilen (einige Lichtblicke und Ausnahmen gibt es noch; Fossile aus besseren Tagen) herabgesunken zum Zentralorgan des "Linksliberalismus".



Nachtrag um 20.56 Uhr: In Zettels kleinem Zimmer hat sich inzwischen der "Zeit"-Redakteur Jörg Lau zu diesem Artikel zu Wort gemeldet und geschrieben:
Das ist leider eine Verschwörungstheorie. Natürlich hätten wir gerne Sarrazins Entgegnung gedruckt. Er hat sich anders entschieden, vermutlich erbost wegen der Härte der Kritik seines Vorsitzenden. Die Replik sofort in der FAZ zu veröffentlichen, ist eine de facto Absage an die ZEIT, wie jeder weiß, der etwas von den Gesetzen der Aktualität und der Konkurrenz im Zeitungsgewerbe versteht. Simple as that.
Die Gesetze der Aktualität sind ja nun so: Eine Tageszeitung ist eine Tageszeitung ist eine Tageszeitung und eine Wochenzeitschrift ist eine Wochenzeitschrift ist eine Wochenzeitschrift.

Welche "Gesetze der Aktualität und der Konkurrenz" es der Wochenzeitschrift verboten haben sollten, eine ausführliche Replik (ungefähr 2200 Wörter, wenn sie so lang geworden wäre wie der Artikel von Gabriel) zu bringen, weil eine Tageszeitung bereits eine kurze Richtigstellung (ungefähr 550 Wörter) gebracht hatte - ich fürchte, daß sich das mir nicht erschließt.

Mir will im Gegenteil scheinen, daß es der "Zeit" auch wirtschaftlich keineswegs geschadet hätte, wenn die versprochene Replik von Sarrazin erschienen wäre.

Mag sein, daß sie inzwischen viele Leser hat, die nur die eine, kanonische Wahrheit lesen wollen; die lesen, um in ihren Überzeugungen bestärkt zu werden und nicht, um sie an Informationen kritisch zu prüfen.

Aber es gibt doch wahrscheinlich auch manche Leser der "Zeit", die gern gewußt hätten, was Sarrazin zu Gabriels Vorwürfen zu sagen hat. Leser, die sich über die jetzige redaktionelle Entscheidung ihre Gedanken machen werden.



Siehe auch die Beiträge von Thomas Pauli, R.A., Gorgasal und C., die in Zettels kleinem Zimmer auf die Stellungnahme von Lau geantwortet haben und denen ich für diesen kleinen Kommentar Anregungen verdanke.



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