10. Juni 2010

Wahlen in Holland: Eine spannende Wahlnacht. Sieger sind die Liberalkonservativen. Gibt es jetzt eine Mitte-Rechts-Regierung?

Das Wahldrama in Holland geht dem Ende entgegen. Kurz nach 4 Uhr, als der Sender NOS seine Berichterstattung zu den Wahlen beendete, waren 97,4 Prozent der Stimmen ausgezählt. Einige Nachzügler-Wahlkreise werden wohl erst im Lauf des heutigen Vormittags ihr Ergebnis liefern.

Dieser Wahlabend und die Nacht boten zweimal eine große Überraschung: Kurz nach Schließung der Wahllokale um 21 Uhr und dann noch einmal zwischen 2 und 4 Uhr. Wenn Sie die Stufen dieses Wahldramas nachlesen wollen - in Zettels kleinem Zimmer finden Sie so etwas wie einen Liveticker, in dem neben mir vor allem der Autor tekstballonnetje die Mitlesenden fortlaufend mit den neuesten Informationen versorgt hat (Herzlichen Dank dafür!).

Über die Parteien in Holland habe ich in dem vorausgehenden Artikel informiert. Ich beziehe mich im folgenden auf das, was Sie dort nachlesen können.



Die erste große Überraschung war das gute Abschneiden der PVV von Geert Wilders, die in Deutschland meist als "rechtspopulistisch" bezeichnet wird. Das weckt leicht falsche Assoziationen. Es handelt sich um eine Abspaltung von der liberalkonservativen VVD, die deren Positionen radikaler vertritt, vor allem, was die Frage der Einwanderung und was den Islam angeht.

Wilders ist aber kein Nationalist oder gar Rassist, sondern er sieht durch die Einwanderung vor allem von Moslems die freiheitliche holländische Gesellschaft bedroht; siehe Was Sie schon immer über Geert Wilders wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten; ZR vom 31. 3. 2008.

Die PVV hatte im alten, 2006 gewählten Parlament 9 Sitze gehabt. Die letzten Umfragen hatten ihr ungefähr 18 Sitze vorhergesagt. Die ersten Hochrechnungen aufgrund der Exit Polls gaben ihr aber 22 Mandate. Das bewog diverse deutsche Medien, schon am späten Abend davon zu sprechen, daß die PVV "aufgetrumpft" habe.

Das unerwartet starke Abschneiden der PVV war die erste große Überraschung, basierend auf den frühen Hochrechnungen. Diese bestätigten ansonsten im wesentlichen das, was die letzten Umfragen hatten erwarten lassen; außer daß die liberalkonservative VVD zu diesem Zeitpunkt nicht stärkste Partei geworden war, sondern mit je 31 Sitzen gleichauf mit der sozialdemokratischen PvdA lag.

Eine Regierungsbildung schien damit schon deshalb schwierig zu werden, weil unklar war, wer den Posten des Ministerpräsidenten würde beanspruchen können - der Führer der VVD Mark Rutte, oder aber Job Cohen, der frühere Bürgermeister von Amsterdam und Chef der PvdA. Es sah nach einer ähnlich vertracken Situation aus, wie sie derzeit bei uns in NRW zu besichtigen ist.



Das Bild änderte sich zwischen 2 und 4 Uhr. Die PVV war zunächst auf 23 Sitze gestiegen und erreichte schließlich 24 Sitze. Und das Patt zwischen Mark Rutte und Job Cohen löste sich dadurch auf, daß Cohens Sozialdemokraten einen Sitz einbüßten und damit nun um diesen einen Sitz hinter der VVD liegen.

Damit stehen jetzt die beiden Sieger fest: Wilders' PVV ist mit 24 Sitzen die drittstärkste Partei, mit einem nun deutlichen Vorsprung vor den bisher regierenden Christdemokraten der CDA (21 Sitze). Sodann ist die VVD jetzt die stärkste Partei, und Mark Rutte hat damit Anspruch auf das Amt des Regierungschefs.

Vor allem aber bedeuten diese Änderungen im Verlauf der Wahlnacht, daß nun eine Koalition möglich wird, die zunächst eine Mehrheit knapp zu verfehlen schien: Eine Mitte-Rechts-Koalition von VVD, PVV und CDA unter Führung von Mark Rutte, die eine knappe absolute Mehrheit von 76 Sitzen hätte.

An dem bisherigen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende würde eine solche Koalition nicht scheitern. Er hat inzwischen nicht nur seinen Rücktritt als Parteivorsitzender erklärt, sondern er wird auch sein Mandat nicht annehmen. Seine Amtsführung und seine Person wurden übrigens von den Führern der anderen Parteien einhellig gelobt, auch und besonders von Geert Wilders in einem etwas bizarren Interview, auf das ich noch zurückkomme.

Insofern ist jetzt wider Erwarten doch eine relativ einfache Regierungsbildung möglich, mit einer Koalition aus den drei liberalen und/oder konservativen Parteien. Sie wäre die sich eigentlich anbietende Regierung, weil in ihr zum einen die beiden Wahlsieger vertreten wären, und weil es sich zum anderen um drei Parteien mit gemeinsamen "bürgerlichen" Grundpositionen handeln würde.

Eigentlich. Denn Geert Wilders ist auch in den Niederlanden umstritten. Mark Rutte hat im Wahlkampf eine Koalition mit ihm nie ausgeschlossen. Aber ob er dafür seine gesamte Partei gewinnen kann und ob die CDA bereit sein wird, Koalitionspartner der PVV zu werden, ist derzeit völlig offen.

Deshalb werden auch exotische Koalitionen nicht ausgeschlossen. Der Sender NOS hat aufgelistet, welche anderen Koalitionen numerisch möglich sind:
  • Eine Koalition aus VVD, Sozialdemokraten und CDA. In ihr würden die drei großen politischen Strömungen gemeinsam regieren, vergleichbar der einstigen "Weimarer Koalition" aus SPD, Zentrum und der liberalen DDP.

  • Eine Koalition von linken Parteien und Liberalkonservativen ohne die Christdemokraten (VVD, PvdA, D66 und Linksgrüne). Der Liberalkonservative Mark Rutte würde dann einem von der Linken dominierten Kabinett vorstehen.

  • Eine Koalition, die sogar von der VVD bis zu den (der deutschen Partei "Die Linke" entsprechenden) Linkssozialisten reichen würde, aber ohne die Sozialdemokraten (VVD, CDA, D66 und SP)

  • Dasselbe, aber mit den Linksgrünen statt der D66.

  • Und schließlich eine Koalition aus VVD, Sozialdemokraten und Linkssozialisten.
  • Alle diese Alternativen würden darauf hinauslaufen, daß die VVD sich mit mehr oder weniger extrem linken Parteien zusammentut; wobei die erste Variante - die "Weimarer Koalition" die gemäßigste wäre.

    Es wären alles unnatürliche Koalitionen, über die auch in Holland bestehende Grenze zwischen dem linken und dem "bürgerlichen" Lager hinweg. Aber irgendeine davon wird es geben müssen, wenn die VVD und/oder die CDA es ablehnen, mit Wilders zu koalieren.



    Detaillierte Ergebnisse aus den einzelnen Landesteilen bietet interaktiv das NRC Handelsblad.

    Dort findet man auch eine erste Wahlanalyse. Danach hat die VVD überall zugelegt, besonders stark aber in den wohlhabenden Gebieten in den Provinzen Nordholland und Südholland, also in dem Streifen entlang der Küste. Die Hochburg der PvdA ist der Norden, vor allem Friesland; außerdem die großen Städte.

    Die PVV von Geert Wilders hat überall im Land stark hinzugewonnen, mit einer besonderen Hochburg in der katholischen Provinz Limburg, ungefähr zwischen Venlo und der Grenze zu Deutschland in Aachen. Geert Wilders stammt aus Venlo.

    D66 und die Linksgrünen verdanken ihren Erfolg - wenig überraschend - vor allem jungen Wählern. In Universitätsstädten haben sie überdurchschnittlich gut abgeschnitten.



    Und jetzt noch das angekündigte Schmankerl. Im holländischen Fernsehen gibt es etwas Ähnliches wie die Bundestagsrunde (auch "Elefantenrunde" genannt) bei uns. Es heißt dort Slotdebat (Schlußdebatte). An dieser Debatte gestern um Mitternacht wollten aber die Führer fast aller Parteien nicht teilnehmen, weil ihnen das Wahlergebnis noch zu unsicher erschien, um ihre Absichten kundzutun.

    Außer Geert Wilders. Und so wurde aus der Debatte ein Interview. An dem großen ovalen Tisch, an dem acht oder neun Politiker hätten Platz nehmen sollen, saß der Moderator Paul Witteman einsam mit Wilders, um sie herum die leeren Stühle, und stellte seine Fragen. Sie können sich diese bizarre Situation im Video ansehen.

    Falls sie Niederländisch verstehen, empfehle ich, daß Sie sich dieses Interview auch anhören. Sie werden feststellen, daß Wilders bei weitem nicht der Bürgerschreck ist, als der er teilweise in unseren Medien dargestellt wird.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das holländische Nationalsymbol "de Nederlandse Maagd". Skulptur von Johan Schröder. Foto vom Autor Brbbl unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported License freigegeben.