30. März 2010

Zitat des Tages: "Vielleicht kommt es nie zu einer Anklage". Seltsames im Fall Jörg Kachelmann

"Vielleicht kommt es nie zu einer Anklage", sagte Grossmann. Deshalb sei auch die Dauer der Untersuchungshaft nicht absehbar.

Der Sprecher der für den Fall Kachelmann zuständigen Mannheimer Justizbehörde, Andreas Grossmann, laut "Spiegel-Online" zur Dauer von Jörg Kachelmanns Inhaftierung. Die Passage ist einer dpa-Meldung entnommen, die auch von anderen Medien verbreitet wurde.


Kommentar: Deshalb? Weil die Staatsanwälte, so lassen sie uns mitteilen, noch nicht wissen, ob die Indizien überhaupt für eine Anklage ausreichen, behalten sie Kachelmann erst einmal auf unbestimmte Zeit in U-Haft. Man kann ja nicht vorhersagen, wie lange man prüfen muß, bis sich möglicherweise herausstellt, daß es noch nicht einmal zu einer Anklage reicht.

Ja, noch nicht einmal. Denn für die Erhebung einer Anklage ist nicht die höchste Stufe des Tatverdachts erforderlich, der dringende Tatverdacht. Sondern erforderlich ist lediglich ein hinreichender Tatverdacht, die mittlere Stufe. Die unterste ist der Anfangsverdacht.

Und damit wird es interessant.

Am vergangenen Donnerstag habe ich auf die Haftbedingungen aufmerksam gemacht, unter denen Jörg Kachelmann leben muß, und dabei davon gesprochen, daß Kachelmann aus Sicht der Staatsanwälte "hinreichend verdächtig" sei. Auf diesen Artikel wies der Blog bruchsal.org hin. In einem Kommentar dazu korrigierte mich der Leser Jochen Wolf; offenbar in juristischen Dingen bewanderter als ich. Er schrieb:
Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Arten des strafrechtlichen Tatverdachts. In der geringsten Stufe wird vom Anfangsverdacht, in der mittleren Stufen vom hinreichenden Tatverdacht und in der höchsten Stufe vom dringenden Tatverdacht gesprochen. Dringender Tatverdacht liegt vor, wenn nach dem gesamten bisherigen Ermittlungsergebnis ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer einer Straftat anzusehen ist. Der Verdachtsgrad ist hier um einiges höher als beim Anfangsverdacht und beim hinreichenden Tatverdacht.

Der dringende Tatverdacht -und nicht wie vom Verfasser des Artikels geschrieben, der hinreichende Tatverdacht- ist eine der Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls.
Bevor ich mich daran machte, meinen Artikel entsprechend zu berichtigen, habe ich erst einmal nachgesehen, ob Jochen Wolf Recht hatte. Das Rechtswörterbuch bestätigte ihn.

Merken Sie, lieber Leser, das Seltsame? Es gibt drei Stufen der Schwere des Tatverdachts: Anfangsverdacht - hinreichender Tatverdacht - dringender Tatverdacht. Um Anklage zu erheben, genügt der hinreichende Tatverdacht. In U-Haft genommen werden aber darf erst jemand, gegen den darüber hinaus ein dringender Tatverdacht besteht.

Das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts hat die Staatsanwaltschaft bejaht, indem sie gegen Kachelmann einen Haftbefehl erwirkte. Das schließt logischerweise das Vorhandensein auch eines hinreichenden Tatverdachts ein, da dieser ja die geringere Stufe ist. Laut Sprecher Grossmann ist nun aber die Staatsanwaltschaft gar nicht sicher, ob es überhaupt zur Erhebung einer Anklage kommt. Sie weiß somit noch nicht, ob ein hinreichender Tatverdacht vorliegt.

Das ist ungefähr so, als würde jemand sagen: Ich wette 100 Euro gegen einen Kasten Bier, daß ich Recht habe. Aber 10 Euro gegen den Kasten Bier zu verwetten, das traue ich mich nicht; dazu ist mir die Sache zu unsicher.

Oder, näher an der juristischen Realität: Ein hinreichender Tatverdacht ist definitionsgemäß dann gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung über 50 Prozent liegt. Ein dringender Tatverdacht liegt erst bei "hoher" Wahrscheinlichkeit vor. Die Mannheimer Staatsanwälte drücken also durch ihre Entscheidungen aus, daß sie
a) die Wahrscheinlichkeit, daß Kachelmann die Tat begangen hat, als hoch beurteilen,

b) sie noch nicht wissen, ob sie höher oder niedriger als 50 Prozent ist.
Seltsam, nicht wahr?



Nun sind die Dinge bekanntlich aus der Sicht des Juristen immer komplexer, als der Laie sich das vorzustellen vermag. Im Artikel "Tatverdacht" der Wikipedia lesen wir:
Dem Grade nach ist der dringende Tatverdacht stärker als der hinreichende, jedoch kann er ausnahmsweise bestehen, ohne dass der hinreichende Tatverdacht vorliegt. Das liegt daran, dass es nur auf den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen ankommt.
Wenn ich das recht verstehe, dann ist damit gemeint: Es kann sein, daß nach dem Stand der Ermittlungen zum Zeitpunkt des Haftbefehls ein dringender Tatverdacht vorlag; daß sich aber im weiteren Fortgang der Ermittlungen herausstellt, daß davon noch nicht einmal ein hinreichender Tatverdacht übrig bleibt.

Ausnahmsweise kann das vorkommen, denn im Normalfall hat man natürlich pflichtgemäß gründlich ermittelt, bevor man den Haftbefehl beantragt. Also, sofern dazu Gelegenheit war, auch die entlastenden Momente gewürdigt. Freilich kann ausnahmsweise Entlastendes auch nach der Verhaftung noch zum Vorschein kommen; und dann könnte sich der Tatverdacht von "dringend" auf "noch nicht einmal hinreichend" reduzieren.

Nur, wie paßt das zu dem Fall Kachelmann? Er war offenbar nicht im Begriff zu fliehen; sonst wäre er schwerlich von Vancouver nach Deutschland geflogen. Man konnte sich also mit einer etwaigen Verhaftung Zeit lassen, bis man alle Fakten zusammen hatte. Man konnte alle Indizien sammeln und würdigen, man konnte die Zeugin, die von sich sagt, sie sei das Opfer, gründlich vernehmen.

Und Zeit ließ man sich offensichtlich. Wie gestern "sueddeutsche.de" mit Berufung auf Recherchen des "Spiegel" berichtete, hatte die Polizei allein die Festnahme auf dem Frankfurter Flughafen drei Wochen lang vorbereitet. Es gab eine "Soko Flughafen"; das Gebäude, in dem der Zugriff erfolgte, war abgesperrt worden. Wer weiß, vielleicht hätte ja Kachelmann plötzlich eine Beretta gezückt und versucht, sich den Weg freizuschießen.

Also, was soll jetzt an Ermittlungsergebnissen noch herauskommen, das man nicht bereits hätte erheben können, bevor die Staatsanwaltschaft Mannheim die Entscheidung für einen existenziell gefährenden Eingriff in das Leben eines Menschen traf?



Der zitierte Artikel in "sueddeutsche.de" berichtet auch von Informationen des Magazins "Focus", wonach es vor der behaupteten Vergewaltigung zu einem Streit gekommen sei, weil die Freundin Kachelmanns zwei Flugtickets entdeckt hatte - eines auf Kachelmann ausgestellt, eines auf den Namen einer anderen Frau. Sie hatte sich damit, so geht es aus dem Bericht hervor, offenbar von Kachelmann betrogen gesehen.

Ist es eigentlich - nach der allgemeinen Lebenserfahrung - in einer solchen Konstellation wahrscheinlicher, daß der beim Fremdgehen erwischte Mann daraufhin die Frau vergewaltigt, oder ist es wahrscheinlicher, daß die betrogene Frau, um sich zu rächen, eine Vergewaltigung behauptet?

Nein, die allgemeine Lebenserfahrung kann die Aufklärung eines Falls nicht ersetzen; natürlich nicht. Aber belanglos ist sie auch nicht. Man kann nur hoffen, daß die Mannheimer Beamten und Beamtinnen sie bei ihrer Würdigung der Indizien und Aussagen berücksichtigt haben, bevor der Haftbefehl erwirkt wurde.



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