8. März 2010

Marginalie: Sexuelle Übergriffe gegen Schüler. Eine Anmerkung zum Fall Odenwaldschule

Es ist jetzt das eingetreten, was abzusehen gewesen war: Die Diskussion um sexuelle Übergriffe in katholischen Schulen hat Menschen, die in anderen pädagogischen Einrichtungen Opfer waren, ermutigt - oder ihnen vielleicht den letzten Anstoß gegeben -, sich ebenfalls zu offenbaren. Im Mittelpunkt steht jetzt die wegen ihres reformpädagogischen Konzepts oft gelobte Odenwaldschule.

Wenn die öffentliche Diskussion so, wie es zu erwarten und wie es wünschenswert ist, weitergeht, dann werden Übergriffe in weiteren Schulen ans Licht kommen. Denn es handelt sich eben entgegen dem Eindruck, den diese aktuelle Diskussion in ihrer ersten Phase erweckte, nicht um ein spezifisches Problem der Katholischen Kirche. Es handelt sich um ein Problem, das es latent überall dort gibt, wo Lehrer und Erzieher mit Schülern engen Kontakt haben; also vorwiegend in Internaten und ähnlichen Einrichtungen.

Solche Einrichtungen ziehen nun einmal auch Pädophile an. Zwischen der liebevollen Zuwendung zu Kindern und sexuellen Übergriffen gibt es viele Übergangsstufen, was übrigens auch in der Sprache zum Ausdruck kommt. "Pädophil" heißt wörtlich übersetzt ja nichts anderes als "kinderlieb" oder "Kindern zugetan".

Noch im 20. Jahrhundert wurde der Begriff "pädagogischer Eros" in einer oft positiven Bedeutung verwendet; als das emotionale Engagement des Lehrers in seinem Beruf.

Inzwischen schwingt bei diesem Begriff aber meist die Bedeutung mit, daß der betreffende Lehrer eben doch ein, wenn vielleicht nicht unbedingt sexuelles, so doch erotisches Interesse an seinen Schülern hat. Das 1995 erschienene Buch "Pädagogischer Eros" beispielsweise befaßt sich mit Gustav Wyneken, der als Reformpädagoge großes Ansehen genoß, der aber 1920 wegen sexueller Übergriffe gegen Schüler zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde.

Wyneken ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie in dieser Grauzone Lehrer und Erzieher ihre sexuellen Übergriffe oft vor sich selbst rechtfertigen und manchmal sogar öffentlich gerechtfertigt haben. Nach Wynekens Verurteilung gab es Veranstaltungen, in denen Solidarität mit ihm bekundet wurde. Einer solchen Veranstaltung, einem Solidaritätstreffen des Nerother Wandervogels, schickte Wyneken eine Grußbotschaft, in der er sagt:
Wir müssen uns auf einer höheren Ebene begegnen als Strafrecht und bürgerliche Moral. Daß in entscheidenden Stunden Männer, die die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal dazu beruft, taub sein müssen für die Drohung des Strafgesetzes und sogar für die anerkannten Forderungen des Sittengesetzes, daß sie von ganz woanders her den Maßstab ihres Handelns nehmen, aus tieferem Quell schöpfen müssen als aus dem Tagesbewußtsein der Menge – daß nur so die Taten geschehen können, die immer wieder geschehen müssen, wenn die Welt nicht ersticken soll – das ist eine Wahrheit, die wir in der Dichtung bejubeln und im Leben unterdrücken.
So verquast, so à la Stefan George würde es heute vermutlich niemand mehr formulieren. Aber das Problem besteht, wie die aktuellen Fälle zeigen, heute wie vor neunzig Jahren.

Heute ist allerdings die Figur des "charismatischen Lehrers", die Wyneken verkörperte, zum Glück seltener geworden. Auf der anderen Seite besteht in der Öffentlichkeit eine größere Bereitschaft als damals, solche Fälle als das kriminelle Verhalten einzustufen, das sie sind.

Wenn die jetzige Diskussion wirklich Erfolg haben soll, dann muß sie allerdings nicht nur dazu führen, daß inzwischen Erwachsene die Übergriffe öffentlich machen, denen sie als Kinder und Jugendliche ausgesetzt waren. Vor allem müssen die jetzigen Opfer ermutigt werden, die Verbrechen, die an ihnen verübt werden, anzuzeigen.



Noch eine Bemerkung: Ich spreche von Übergriffen und nicht von "Mißbrauch".

Dieses Wort "Mißbrauch" hat sich leider eingebürgert; vermutlich unter dem Einfluß des englischen abuse, das aber auch Mißhandlung und Übergriff bedeuten kann.

Und darum geht es - um Übergriffe, unter Umständen um Vergewaltigungen, um Mißhandlungen. Mißbrauchen kann jemand das Vertrauen eines Menschen; mißbrauchen kann man seine Stellung als Lehrer, die damit gegebene Macht. In solchen Kontexten wird das Wort im Deutschen verwendet; in Bezug auf einen Menschen ist es unpassend.



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