11. November 2009

Neues aus der Forschung (7): Warum träumen wir?

Vor mehr als einem Jahrhundert wünschte sich Sigmund Freud eine Gedenktafel mit der Aufschrift: "Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traums". Inzwischen gibt es eine solche Tafel beim Schloß Bellevue nah Grinzing tatsächlich. Aber das Geheimnis des Traums ist noch immer nicht enthüllt.

Von keiner seiner Theorien war Freud so unerschüttlich überzeugt wie von seiner Theorie des Traums, die er im November 1899 (aber datiert auf 1900) in "Die Traumdeutung" publizierte. Das enthüllte Geheimnis war, so Freud, daß Träume die verdeckte Erfüllung verdrängter Wünsche seien. Die Traumdeutung müsse also darin bestehen, das Verdeckte zutage zu fördern und damit das Verdrängte bewußt zu machen.

Aus heutiger Sicht war Freud der erste, der in Bezug auf den Traum die richtigen Fragen stellte. Seine Antworten aber waren, wie auch anders, hochspekulativ.

Zu den richtigen Fragen Freuds gehörten zum Beispiel diese: Warum ist das Geschehen im Traum oft so bizarr und realitätsfremd? Warum vergessen wir die meisten Träume so schnell? Warum haben Träume oft eine so starke affektive Färbung; eine lustvolle oder auch eine angstvolle? Und die Frage aller Fragen: Warum träumen wir überhaupt?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam man den Antworten auf diese und ähnliche Fragen keinen Schritt näher, als Freud ihnen gekommen war. Andere spekulierten ebenso, wie er spekuliert hatte. Aber eine wissenschaftliche Traumforschung schien unmöglich zu sein. Man hatte an Daten ja nur das, was auch Freud schon gehabt hatte: Die Erinnerung des Träumers an seinen Traum.

Wissenschaft verlangt, daß man neue Daten sammeln und Theorien an ihnen überprüfen kann. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde das für den Traum möglich. Im Labor des Traumforschers Nathaniel Kleitman in Chicago entdeckte dessen Doktorand Eugene Aserinsky, daß beim Träumen schnelle Augenbewegungen (rapid eye movements; REMs) auftreten.

Diese konnte man auch bei geschlossenen Augen elektrophysiologisch registrieren. Damit war es möglich, Träumende während eines Traums zu wecken und sie den noch ganz frischen Traum berichten zu lassen; man konnte untersuchen, wie sich der Entzug von REM-Schlaf auswirken würde und dergleichen mehr. Kurz, man hatte nun die Möglichkeit, vom reinen Aufzeichnen von Traumberichten zu einer wissenschaftlichen Traumforschung überzugehen.

Damals schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Physiologie des Traums in ihren Grundzügen verstanden sein würde; zumal man enteckt hatte, daß auch höhere Wirbeltiere träumen, so daß man an ihnen - zum Beispiel an Katzen - parallel zur Forschung an Menschen Daten erheben konnte.



In gut einem halben Jahrhundert hat diese Forschung in der Tat viele interessante Daten hervorgebracht; zum Beispiel die Entdeckung, daß der Zusammenhang zwischen REMs und dem subjektiven Erleben eines Traums nicht so perfekt ist, wie man anfangs gedacht hatte. Vor allem aber hat sie einen Wust von Theorien produziert.

Freud hatte gemeint, daß Träume der (verdeckten) Wunscherfüllung dienen. In der modernen Traumforschung findet diese Idee in ihrer ursprünglichen Form nur noch wenig Anklang. Aber die alternativ vorgeschlagenen Theorien sind nur selten besser belegt als die Freuds.

Oft wird der Traum mit dem Gedächtnis in Zusammenhang gebracht; u.a. aufgrund der Entdeckung, daß der Entzug von REM-Schlaf sich negativ auf das Gedächtnis auswirkt. Es gibt Theorien, nach denen der REM-Schlaf der Übertragung von Informationen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis dient; damit ihrer Konsolidierung. Andere Theoretiker vermuten, daß umgekehrt überflüssige Informationen, die man im Lauf eines Tags aufgenommen hat, im REM-Schlaf gelöscht werden.

Man hat dem Zusammenspiel zwischen Prozessen im Stammhirn und denjenigen in der Hirnrinde besondere Aufmerksamkeit geschenkt; man hat den REM-Schlaf mit der Regulation von Emotionen oder auch mit der Aufrechterhaltung des Gedächtnisses für Bedeutungen (semantisches Gedächtnis) in Zusammenhang gebracht. Kurz, es gibt kaum eine psychische Funktion, der man den Traum nicht als ein sie unterstützendes Geschehen zugeordnet hat.



Und jetzt gibt es eine neue derartige Theorie; eine, die möglicherweise mehr für sich hat als alle diese bisherigen Versuche, die Funktion des Traums zu verstehen. Sie stammt von einem der führenden Traumforscher, dem emeritierten Harvard- Physiologen J. Allan Hobson, und vorgestern hat in der New York Times Benedict Carey über sie berichtet. Eine Zusammenfassung von Hobsons Artikel in Nature Reviews Neuroscience findet man bei PubMed und bei Nature.

Hobson nimmt an, daß Träume nicht dem Gedächtnis für Vergangenes dienen, sondern der Vorbereitung auf Zukünftiges.

Indem wir träumen, halten wir Schaltkreise in unserem Gehirn aktiv für die Aufgaben, die sie zu bewältigen haben, wenn wir erwacht sind und die Realität wieder ihre Anforderungen stellt. Es sind sozusagen Testläufe, die unser Gehirn im Traumschlaf vornimmt. Aber sie finden ohne eine Koordination und Realitätskontrolle statt, wie sie unser Wachbewußtsein kennzeichnet. Das macht Träume oft so seltsam, so chaotisch, so bizarr. Freud hatte diese Funktionsweise des Gehirns den "Primärvorgang" genannt.

Im Traum ist also, so Hobson, das Bewußtsein weitgehend ausgeschaltet. Das Frontalhirn, das zwar nicht der "Sitz" des Bewußtseins ist, das aber bewußt gesteuertes Handeln ermöglicht, ist kaum aktiv. Auch die Motoneurone, die sonst dafür sorgen, daß wir das, was wir planen, auch in reales Handeln umsetzen, werden dadurch inaktiv gehalten, daß die sie stimulierenden Neurotransmitter nicht ausgeschüttet werden. (Funktioniert dieser Hemmungsmechanismus nicht richtig, dann kommt es zum Sprechen im Schlaf, zu Bewegungen, im Extremfall zum Schlafwandeln).

Ein "Traumbewußtsein" gibt es nach Hobson also im strengen Sinn nicht; nur das, was er ein "Protobewußtsein" (protoconsciousness) nennt. Wie kann es dann aber sein, daß wir uns erinnern, einen Traum bewußt, unter Umständen sogar mit lebhaftestem Bewußtsein erlebt zu haben?

Zum einen sind wir ja, wenn wir uns erinnern, in der Tat bei vollem Wachbewußtsein. Wir holen dann die Gedächtnisspuren, die im Traum gebildet wurden, in dieses Wachbewußtsein; ungefähr so, wie ein Theaterstück, das zunächst nur "auf dem Papier existiert", erst dann zu Leben erwacht, wenn Schauspieler es auf die Bühne bringen.

Und zum anderen gibt es, so Hobson, die Möglichkeit, das Wachbewußtsein gewissermaßen zum Traum hinzuzuschalten. Dieser Zustand, in dem beide nebeneinander existieren, wird als Klarträumen (lucid dreaming) bezeichnet. Nichts irgendwie Esoterisches. Man kann es trainieren.

In einer kürzlich publizierten Untersuchung, an der Hobson beteiligt war, wurde die elektrische Hirnaktivität (EEG) bei Personen im Wachzustand, beim normalen Träumen und im Klartraum verglichen. Der Klartraum zeigte Merkmale sowohl des Träumens als auch des Wachbewußtseins. Die beiden Systeme, die sonst im allgemeinen einander in ihrer Aktivität ablösen, arbeiteten, so scheint es, gemeinsam



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt.